Boëtius Der Gnom
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-12196-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Lichtenberg-Roman
E-Book, Deutsch, 0 Seiten
ISBN: 978-3-641-12196-9
Verlag: btb
Format: EPUB
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Henning Boëtius (1939-2022), wuchs auf Föhr und in Rendsburg auf und lebte zuletzt in Berlin. Er studierte Germanistik und Philosophie und promovierte 1967 mit einer Arbeit über Hans Henny Jahnn. Boëtius war Verfasser eines vielschichtigen Werkes, das Romane, Essays, Lyrik und Sachbücher umfasst. Sein Roman "Phönix aus Asche" wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bekannt wurde er außerdem durch seine Kriminalromane um den eigenwilligen niederländischen Kommissar Piet Hieronymus.
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I. Die Gartentreppe 1742 - 1763
Georgs Abschied von Mutter und Schwester war still und ohne äußere Anzeichen einer heftigen Gemütsbewegung verlaufen. Auch von Bellos, seinem Hund, hatte er Abschied genommen, als würde er gerade nur in die Stadt gehen wollen.
Der aber hatte sich nicht täuschen lassen. Bellos war in wilden Sprüngen hinter der Kutsche hergelaufen und hatte Anstalten gemacht, nach den Fesseln der Pferde zu schnappen. Erst als ihn die Peitsche des Kutschers traf, gab er auf.
Nun rollten sie auf der Poststraße nach Norden. Georg hatte einen der außengelegenen Plätze ergattert und sah zu der offenen Seite der Kutsche hinaus. Um einen besseren Blick zu haben, hatte er ungeniert vor den Augen der Mitreisenden die große Decke mehrmals zusammengefaltet und unter sich auf seinen Sitz gelegt.
Die Decke war ein Abschiedsgeschenk seiner Mutter. Sie hatte nichts gesagt. Nicht einmal »Damit du nicht frierst«. »Vielleicht ist es ein Abschied auf immer«, dachte er. »Das würde seine Wortlosigkeit am besten erklären.«
Es war ein schöner Maitag. Obwohl die Sonne schien, kam es ihm vor, als gäbe es draußen keine Schatten.
Noch etwas anderes war höchst eigenartig: Die Bäume und Hecken im Vordergrund flossen, wie zu erwarten, gegen die Fahrtrichtung vorbei, und zwar um so schneller, je näher sie dem Betrachter waren. Die im Hintergrund liegenden Merkmale der Landschaft jedoch schienen sich mit der Kutsche vorwärts zu bewegen, und das um so schneller, je weiter sie entfernt waren. Die Gegenläufigkeit der beiden Bewegungen legte den Schluß nahe, daß es irgendwo zwischen Vorder- und Hintergrund eine Stelle geben mußte, wo die Dinge stillstanden.
»Es wäre interessant, diese Stelle zu berechnen«, sagte er laut. Mit sich selbst zu sprechen, war eine Angewohnheit von ihm, wenn er einen schwierigen Gedanken dachte.
Natürlich war es Unsinn, denn sie fuhren ja vorwärts durch die Landschaft und ließen alles in ihr Stück für Stück hinter sich.
Aber die Augen täuschten eine andere Wirklichkeit vor. Zum erstenmal hatte er dies erfahren, als er kaum älter als fünf Jahre war.
Es war an einem Wintertag gewesen. Sein Vater hatte ihn auf einen Spaziergang vor die Stadt mitgenommen. Dies war ein seltenes Ereignis, denn sein Vater hatte fast nie Zeit. Georg war daher aufgeregt und bereit, alles, was es zu sehen gab, für ein Wunder zu halten.
Es schneite stark. Sein Vater legte den Kopf zurück und sah den Flocken entgegen. Der Sohn ahmte dies nach.
»Was siehst du?« fragte sein Vater.
»Den Schnee. Die Flocken kommen aus dem Himmel.«
»Sieh es dir genau an. Von wo kommen die Flocken?«
»Sie kommen alle aus der gleichen Stelle.«
Der Vater hatte ihn gelobt und dann aufgefordert, nun den Schneefall von der Seite zu betrachten und seine Eindrücke zu schildern.
Da sah er ganz deutlich, daß die Flocken gar nicht aus einem Punkt herausfielen, sondern in parallelen Linien zu Boden schwebten. Kaum blickte er jedoch wieder zum Himmel empor, wirkten die Flocken wieder wie feine, weiße Blütenblätter, die im Kreis aus einem Punkt herauswuchsen und nach allen Seiten auseinanderstoben.
»Es ist eine Frage der Blickrichtung«, sagte sein Vater. »Das eine ist so wahr wie das andere.«
Diese Erklärung hatte sich Georg tief eingeprägt. Heute fragte er sich, ob die eigenartige Frömmigkeit seines Vaters auch eine Folge der Blickrichtung gewesen war. Wenn man das Gesicht hob und in den Himmel sah, war Gott im Zentrum, wenn man ihn jedoch von der Seite betrachtete, löste er sich in das Nebeneinander einzelner Teile der Schöpfung auf. Sein Vater hatte die Sterne über alles geliebt. Sie waren das Schneegestöber des Nachthimmels, das aus dem göttlichen Zentrum fiel. Auf der Erde gab es Menschen, zwischen denen kein Zusammenhang bestand, wenn man sie von der Seite betrachtete.
»Es wäre interessant, diese Stelle zu berechnen«, sagte er laut.
»Mit Verlaub, um welche Stelle handelt es sich, mein Herr, die Sie so gerne berechnen wollen?«
Georg blickte den Fragenden von der Seite an. Man saß in dem engen Wagen sehr nahe beieinander. Georg sah lauter Einzelheiten, das samtbesetzte Revers eines Rocks, einen großporigen Nasenflügel, die dicken Finger einer Hand, von der die schweren goldenen Ringe offensichtlich aus Gründen der Sicherheit entfernt worden waren. Die tiefen Kerben im Fleisch waren deutlich zu sehen.
»Die Stelle, wo zwischen zwei gegenläufigen Bewegungen Ruhe herrscht. Sehen Sie, da draußen!« Georg deutete in die Landschaft. Der Mann riß die Augen auf. Dann schüttelte er den Kopf: »Ich sehe nichts, mein junger Herr.«
Aber Georg sah. Er sah, daß dem Menschen drei Backenzähne fehlten, daß er es versäumt hatte, sich den Schlaf aus den Augen zu wischen und daß sein Schweiß Puder von der Morgentoilette im Kinngrübchen zusammengeschwemmt hatte.
Sie fuhren in einem der modernen Sechssitzer, die neuerdings von der Thurn und Taxisschen Reichspost eingesetzt wurden. Diese Wagen wurden von drei Pferden gezogen. Sie hatten ein festes Verdeck aus gewachstem Leinen und offene Seiten. Es gab zwei Bänke mit je drei Sitzplätzen. Beide Bänke waren in Fahrtrichtung installiert. Die Federung war nicht verbessert, jedoch hatten die Bänke jetzt gepolsterte Rücken und Seitenlehnen, so daß man die Stöße der Räder auf den holprigen Wegen ein wenig besser ertrug.
Die Reisegeschwindigkeit war trotz der neuen Wagen die alte geblieben: eine Meile pro Stunde, ein ehernes Gesetz bei den Postillionen. Unterschreitungen wurden durch kräftige Geldbußen geahndet. Schneller aber ging es nicht, solange die Wege so schlecht waren. Doch selbst auf chaussierten Straßen hielten sich die Kutscher an dieses Tempo.
Es war inzwischen schwül geworden. Am Himmel türmten sich Wolken mit dunklen Unterseiten, die bedrohlich in die Höhe quollen. Bald hörte man auch den ersten Donner.
Die meisten Passagiere hätten das heraufziehende Gewitter sicher lieber in einem Gasthaus abgewartet. Der Postillion begnügte sich jedoch damit, die Leinenrollos an den offenen Wagenseiten herabzulassen.
Es wurde finster. So erging es gefangenen Vögeln, über deren Käfig man ein Tuch legt, um sie stumm zu machen oder zum Einschlafen zu bewegen.
In diesem Fall waren die Folgen der Maßnahme jedoch gegenteilig: Angst und Unruhe breiteten sich unter den Passagieren aus. Da half es auch nichts, daß Georgs Nachbar den beiden Damen erklärte, daß Blitze selten in fahrende Kutschen einzuschlagen pflegten und die Gefahr höchstens vom Scheuen der Pferde ausgehen würde.
Endlich begann es zu regnen. Der Lärm der Tropfen auf dem Verdeck übertönte bald das schwächer werdende Gewitter.
Die Insassen beruhigten sich allmählich. Auch von Georg wich die Angst, die ihn jedesmal bei Gewitter befiel. Er lehnte sich in die Polster zurück und dachte an früher. Unscharf und blaß tauchten Bilder auf wie in der künstlichen Nacht einer Camera obscura.
Irgend etwas war damals geschehen. Es hatte mit warm und kalt zu tun, auch mit hell und dunkel. Er spürte die Erinnerung wie einen leichten Druck unter der Schädeldecke. Aber diesmal stellten sich keine Bilder dazu ein.
Er wußte, daß man schwache Sterne nur wahrnehmen kann, wenn man leicht an ihnen vorbeisieht. Daher versuchte er an andere Erlebnisse mit Licht- und Wärmekontrasten zu denken.
Die früheste Erinnerung, die ihm einfiel, war noch aus den drei ersten Lebensjahren, die sie in Oberramstadt verbracht hatten.
Die Welt war damals nicht größer als ein Hügel, auf dem Kirche und Pfarrhaus lagen. Ihr Rand lag am Fuß des Hügels. Daher bestand die Gefahr, daß man hinunterrutschte und auf Nimmerwiedersehen verschwand.
Vom Rand der Welt hörte er jeden Tag ein dumpfes und regelmäßiges Dröhnen. Nur an Feiertagen fehlte es, was ihnen einen besonderen Frieden verlieh. Das Dröhnen hatte ihm damals wohl Angst gemacht. Wer wußte, was hinter dem Rand der Welt geschah.
Sein Vater trug ihn eines Tages auf den Schultern den Hügel hinunter. Sie kamen in ein großes Haus, das ganz erfüllt war von Lärm und Hitze. Georg sah ein helles Loch, aus dem Funken sprühten und etwas riesiges Schwarzes, das sich hob und senkte. Er wußte nicht, was den Lärm machte: das Helle oder das Dunkle. Er preßte sich so fest es ging an den Hals des Vaters und vergrub das Gesicht in dessen Haar. Dann begann er zu schreien. Sein offener, feuchter Mund schrie in den Haaren seines Vaters. Danach verschwand die Angst.
Kurze Zeit später zogen sie nach Darmstadt, wo sein Vater erster Stadtprediger geworden war. Hier fehlte das Dröhnen, von dem er später begriff, daß es von einem mit Wasserkraft betriebenen Eisenhammer herrührte.
Das Gewitter und auch der Regen waren vorbei. Die Kutsche hielt. Die Rollos wurden hochgewickelt und festgeschnürt.
Das Licht blendete Georg, und er schloß die Augen. Er hörte, wie sein Nachbar sagte: »Ich habe jemanden gekannt, der vom Blitz getroffen wurde. Alles was ihm dabei passierte, war ein Malheur mit seinem Ehering. Er schmolz nämlich, und das ganze Gold floß in den Dreck. Seine Frau hat sich später von ihm scheiden lassen.« Der Mann lachte. Georg aber dachte an ein anderes Erlebnis, das ebenfalls mit warm und kalt zu tun hatte.
Er war damals wohl acht Jahre alt gewesen.
Seine Schwester hatte ihm wie jeden Abend ein heißes Bad bereitet und sah ihm beim Auskleiden zu. Sie war schon über dreißig und unverheiratet. Er hielt...




