E-Book, Deutsch, Band 3, 0 Seiten
Reihe: Die Piet Hieronymus Reihe
Boëtius Der Walmann
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-12200-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 3, 0 Seiten
Reihe: Die Piet Hieronymus Reihe
ISBN: 978-3-641-12200-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Piet-Hieronymus-Romane
Joiken
Blendwerk
Der Walmann
Das Rubinhalsband
Rom kann sehr heiß sein
Berliner Lust
Henning Boëtius (1939-2022), wuchs auf Föhr und in Rendsburg auf und lebte zuletzt in Berlin. Er studierte Germanistik und Philosophie und promovierte 1967 mit einer Arbeit über Hans Henny Jahnn. Boëtius war Verfasser eines vielschichtigen Werkes, das Romane, Essays, Lyrik und Sachbücher umfasst. Sein Roman "Phönix aus Asche" wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bekannt wurde er außerdem durch seine Kriminalromane um den eigenwilligen niederländischen Kommissar Piet Hieronymus.
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1
Vor mir lag eine unscheinbare Mappe. Ein Name stand auf dem Einband. Während ich ihn flüsternd aussprach, ging mein Blick zum Fenster. In diesem Moment sank draußen eine Feder herab, eine ungewöhnlich große, weiße Vogelfeder mit braunen Streifen. Sie kreiselte im Wind, ehe sie aus meinem Blickfeld verschwand.
Ich erhob mich, öffnete die Fensterflügel und sah zum Himmel hinauf. Er war schmutzigweiß und wäßrig, der Bauch eines gewaltigen Schwimmvogels, der auf dem Tümpel des Lebens trieb. Pool of life, der Tümpel des Lebens. Der deutsche Psychoanalytiker C. G. Jung hatte einst von Liverpool als Tümpel des Lebens geträumt. »Suijkerbuijk«, flüsterte ich erneut. »Bist du im Tümpel des Lebens einfach untergegangen, vielleicht weil du vergessen hast, dein Federkleid zu fetten?«
Ich schlug das Deckblatt zur Seite und blickte in das Gesicht eines Mannes, von dem ich nicht viel mehr wußte als den Namen, das Alter und ein paar Lebensumstände, die alle sehr normal klangen. Suijkerbuijk war das, was man einen gutaussehenden Mann nennt. Die Haare dicht, der Stirnansatz niedrig, die Augen weit genug von der Nasenwurzel entfernt, um ein denkendes Hirn dahinter zu vermuten. Der Mund voll und doch männlich. ›Möwenmund‹ würde meine Mutter zu solchen leicht geschwungenen Lippen sagen. Suijkerbuijk erinnerte ein wenig an jene Schaufensterpuppen, die dem Ideal des virilen amerikanischen Mannes italienischer Herkunft nachempfunden sind. Auch die Detektive in amerikanischen Filmen sehen oft so aus.
Minjheer Franz Suijkerbuijk war spurlos verschwunden. Zuletzt war er auf dem Balkon eines amerikanischen Luxushotels gesehen worden. Von dort schien er sich tatsächlich wie ein Vogel entfernt zu haben, von der Brüstung aus, ohne Spuren zu hinterlassen.
Das Telefon schrillte. Ohne abzuheben wußte ich, wer es war. Eine mir allzu vertraute Stimme steckte in dieser Leitung und verlangte gebieterisch danach, aus der Muschel in mein Ohr zu dringen. Der heilige Geist meiner Mutter. Um diese Zeit, so kurz vor Dienstschluß, konnte es nur sie sein.
»Kommst du noch einmal vorbei, ehe du abreist?« fragte sie. »Wer weiß, ob wir uns noch einmal wiedersehen, mein Sohn. Es geht mir nicht gut in letzter Zeit. Das Haus wächst mir über den Kopf. Du kannst bei der Gelegenheit mal nach dem Wasserhahn über der Spüle sehen. Er tropft.«
»Welche Reise?« fragte ich verwirrt. »Ich weiß von keiner Reise, Mutter. Aber ich komm’ natürlich trotzdem. Also bis nachher.«
Sie hatte aufgelegt, und ich hatte zuletzt mit dem Besetztzeichen geredet, ohne dies als ungewöhnlich zu empfinden. Gespräche mit meiner Mutter waren nie etwas Normales.
Wieder klingelte es. Diesmal war es mein Chef. »Du bist ja noch da«, sagte er und hustete ins Telefon. Ich glaubte förmlich, den Qualm seiner Zigarette zu riechen. »Es sind noch zehn Minuten bis Dienstschluß«, erwiderte ich. »Wenn man nicht aufpaßt, kann das eine kleine Ewigkeit sein.«
»Dann komm eben noch mal auf einen Sprung rüber. Und bring die Akte ›Suijkerbuijk‹ mit.« Er legte auf. Eine feine Schliere Zigarettenrauch schien aus dem Hörer zu quellen.
Ehe ich ging, ließ ich noch einmal die wenigen bekannten Fakten dieses Falles Revue passieren. Suijkerbuijk lebte in Leeuwarden. Achtunddreißig Jahre jung. Frührentner wegen einer dubiosen Krankheit. Gleichgewichtsstörungen. Früher Angestellter bei Philips. Spezialität: Entwicklung von Lautsprechern. Heirat mit einer Amerikanerin in Las Vegas. Flitterwochen in Kalifornien. Vor zwei Wochen spurlos verschwunden in Mendocino. Nachts auf den Balkon gegangen, um Sterne zu beobachten, wie seine Frau zu Protokoll gegeben hatte. Nicht wieder ins Zimmer zurückgekehrt. Keine Spuren. Tatsächlich wie ein Vogel auf Nimmerwiedersehen davongeflogen.
Die Zusammenarbeit mit Interpol war wie üblich schwerfällig. Unverbindliche Formulierungen verbargen nur unvollkommen, daß die Polizei drüben nicht weiterkam. Zehn Zimmer des Hotels gingen auf den Balkon hinaus. Alle waren belegt gewesen. Niemand hatte etwas bemerkt. Die ganze Gegend war inspiziert worden, natürlich auch das Ufer. Taucher hatten die kleinen Buchten und Höhlen ohne Ergebnis abgesucht.
Ich ging zu meinem Chef. Wie immer saß er unter einer Glocke von Zigarettenqualm und starrte in eine Akte, von der böse Zungen behaupteten, es sei immer die gleiche, ebenso wie das Gerücht ging, daß er des öfteren in dieser Haltung an seinem Schreibtisch übernachtete.
»Na, wieder auf den Beinen?« sagte er und streckte mir eine offene Packung Zigaretten entgegen, aus der einige weiße Orgelpfeifen hervorragten. Es gehörte zu seinen Scherzen, seine Untergebenen mit diesen Worten zu begrüßen, auch wenn sie sich bester Gesundheit erfreuten.
Ich warf ihm ein Blatt auf den Tisch, auf dem ich die wichtigsten Punkte des Falles Suijkerbuijk zusammengestellt hatte. Er überflog es.
»Interessanter Fall. Ich wußte, daß du anbeißt. Hier ist noch mehr.« Er reichte mir das Schriftstück, das vor ihm lag. Es war tatsächlich ein neues Dossier zum Fall Suijkerbuijk.
»Hier.« Er tippte auf ein Blatt aus dem Stapel. »Das könnte ein Anhaltspunkt sein.«
Er reichte mir den Bogen. Er war mehrfach gefaltet. Ich schlug ihn auf. Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Stadtplan. Ein Netz von Linien, Symbolen, Kreisen, Dreiecken bedeckte das Papier.
»Was ist das?«
»Ein Schaltplan. Unsere Experten für solche Sachen sind sich nicht schlüssig, wozu das Ding nütze sein soll. Unser Minjheer Suijkerbuijk hatte ein Labor im Keller seiner Wohnung. Es sieht aus wie bei einem Hobbybastler. Wir haben uns anfangs nichts dabei gedacht, deshalb steht auch nichts davon in den Akten. Außerdem gibt es da ein Aquarium. Es war in Betrieb, als wir die Wohnung vorige Woche durchsuchten. Die Lampen brannten, die Pumpe arbeitete, das Wasser war in Ordnung, auch die automatische Fütteranlage. Aber sämtliche Fische waren tot. Sie trieben mit den Bäuchen nach oben an der Oberfläche. Wir haben einige Fische im Labor untersuchen lassen. Kein Gift. Aber bei allen waren die Schwimmblasen geplatzt. Ich möchte, daß du hinfährst und dir die Sache einmal ansiehst.«
»Ich verstehe nicht viel von Technik. Mein einziges Hobby ist die Selbstanalyse.«
Er bleckte seine nikotingelben Zähne und röchelte ein Raucherlachen. »Piet, du bist ein Komiker«, sagte er. »Leute von deiner Naivität sind fabelhafte Seismographen für kleine Unterwasserbeben. Fahr hin und sieh dich um. Denk nicht nach, grübel nicht, sieh dich einfach um. Weißt du, wie man die größten Pilze findet? Indem man geistig weggetreten ist, indem man wie ein Halbblinder durch den Wald stolpert.«
Ich verstaute die Akte und das Dossier in meiner Fahrradtasche und fuhr zu meiner Mutter. Die Gartenpforte war verschlossen, und ich mußte über den Zaun klettern. Das war ungewöhnlich. Ebenso daß die Haustür halb offen stand. »Mutter«, rief ich im Flur. »Ist alles in Ordnung?« Stille. Nur das Geräusch von Tropfen aus der Küche, mit dieser folternden Regelmäßigkeit, die Zeit zu einem Ding macht. Ich ging ins Wohnzimmer.
Sie saß im Ohrenstuhl und hatte die Augen geschlossen. Das Bild einer Toten mit wächserner Haut. »Mutter«, flüsterte ich, »ist dir nicht gut?«
Keine Reaktion. Ihre Hände lagen schlaff auf der Lehne. Ich trat näher, streichelte über ihre Stirn, den grauen Haaransatz. Ihre Haut war kalt und feucht. Plötzlich verzog sich ihr Mund. Sie lächelte und schlug die Augen auf. »Ach, tut das gut, Piet, wenn mich mein eigener Sohn berührt. Hab ich dich erschreckt, mein Junge? Du solltest dich an den Anblick deiner toten Mutter gewöhnen. Dann ist es dir nachher nicht mehr so schwer, wenn Ernst aus dem Spiel geworden ist.«
»Mutter, ich finde dein Verhalten geschmacklos.« Meine Stimme hörte sich unnatürlich hoch an. Ich war wirklich empört, gemessen daran, daß ich ein notorisch friedfertiger Mensch bin.
»Schwatz nicht. Hol uns lieber was zu trinken. Ich habe dir ,etwas Wichtiges zu sagen.«
Wir tranken ihren Lieblingssherry, und Mutter rauchte. Das war ebenfalls ungewöhnlich, denn sie haßte den Geruch von Zigarettenqualm. Sie hielt die Zigarette weit weg von sich und blies den Rauch durch einen Spalt des angekippten Fensters.
»Ich werde es aufgeben. Wenn du von deiner Reise zurück bist, werde ich nicht mehr hier sein.«
»Du meinst das Haus? Dein Haus? Deinen Garten, den du so liebst? Wenn es dir zuviel wird, nimm doch eine Hilfe.«
Sie lachte. »Kannst du dir jemanden vorstellen, der hier Ordnung schafft?« Sie zeigte auf die Zimmereinrichtung, in der alle Dinge, seitdem ich zurückdenken kann, einen festen Platz hatten. Unverrückbar, wie in einem Hologramm.
»Ich gehe ins Altersheim. Es soll ein sehr gutes in unserem Land geben. Die ganze Zeit dudeln sie da Musik. So was wie eine Therapie. Man wird ganz friedlich dabei, so daß man ohne zu mucken ins Gras beißen kann.« Sie lachte wieder und drückte die Zigarette in einem Kaktustopf aus. »Nein, mein Sohn. Mein Entschluß ist unwiderruflich. Ich mache dir Platz. Wenn du von deiner Reise zurück bist, kannst du hier einziehen. Du wohnst sowieso zu eng. Dann brauchst du auch dein Fahrrad nicht mehr ins Zimmer zu nehmen. Du kannst sogar heiraten, soviel Platz hast du dann.«
»Welche Reise meinst du eigentlich, Mutter? Es stimmt, ich fahre nach Leeuwarden, aber das ist doch keine richtige Reise. Ich bin höchstens einen Tag weg.«
»Leeuwarden? In dieses Kuhdorf? Nein, ich meine eine richtige Reise, lieber Sohn. Du weißt, daß man bei jeder Reise einen inneren Fluß überquert? Es ist immer, als ob man ein...




