KLEINIGKEITEN
Im Schwimmen drehte er sich vom Rücken auf den Bauch, schlug mit Armen und Beinen um sich, atmete prustend und schwer und hatte das Gefühl, schon ewig zu schwimmen. Vom Kraulen wechselte er zum Brustschwimmen, dann zum Yokohama-Beinschlag. Erschöpft klammerte er sich an den Rettungsring aus Kork wie ein amorphes Geschöpf der Tiefe, ein bleicher Lappen Haut. Irgendwann in der fünften Stunde dachte er an Suppe. An miso-shiru, Reistopf, eine dünne, nach Meer stinkende Brühe, die seine Großmutter immer aus Fischköpfen und Aal machte. Und er dachte an Bier – an Flaschen wie goldgelbe Juwelen in einem Bett aus Eis –, und schließlich dachte er an Wasser, nur noch an Wasser.
Als die Sonne unterging, alle Farbe mit sich nahm und eine Wasseroberfläche so glatt und kalt wie gehämmertes Zinn zurückließ, da klebte ihm die Zunge am Gaumen und die innersten Sehnsüchte seiner Eingeweide nagten an ihm wie herrische kleine Tiere. Seine Hände waren aufgedunsen und wund, der Rettungsring scheuerte ihm die Arme auf, Möwen stießen dicht auf ihn herab, um ihn mit professionellem Blick zu fixieren. Am liebsten hätte er aufgegeben. Wäre in den Traum von Bett und Abendessen und Zuhause geglitten, hätte sich Zentimeter um Zentimeter in die Meeresbrühe hineinrutschen lassen, bis der Ring leer dahintrieb und die anonymen Wellen sich über ihm schlossen. Doch er widerstand. Er dachte an Mishima und an Jocho und an das Buch, das er unter dem jetzt schweren, ausgeleierten Rollkragenpulli um die Brust gebunden trug. Gewickelt in eine Plastikschutzhülle mit Gleitverschluss, befestigt mit schwarzem Isolierband, klebte es an der Stelle, wo sein Herz schlug, und in dem Buch lagen vier komische, kleine, grüne amerikanische Geldscheine.
Wichtige Überlegungen sollte man auf die leichte Schulter nehmen, sagte Jocho. Kleinigkeiten sollte man ernst nehmen. Ja. Natürlich. Was machte es schon aus, ob er lebte oder starb, ob er ans Ufer gespült wurde und dort ein Topf voll brodelnder Nudeln mit Schweinefleisch und grünen Zwiebeln auf ihn wartete oder ob die Haie ihm die Zehen anknabberten, die Füße, die Waden, die Schenkel? Was wichtig war, das war … der Mond. Ja: der kleine Bogen eines vollkommen geformten Mondes, wie eine Parenthese in den dunkler werdenden Horizont gemeißelt. Weiß und unberührt stieg er auf, schmal wie ein abgeschnittener Fingernagel. So vergaß er seinen Hunger, seinen Durst, vergaß die unzähligen Zähne des Meeres und machte sich den Mond zu eigen.
Gleichzeitig wusste er natürlich genau, dass er es schaffen würde, womit sich Jochos Ratschlag wesentlich leichter verdauen ließ. Nicht nur die vielen Vögel – Pelikane, Kormorane und Möwen, die westwärts zu ihren Schlafplätzen davonzogen –, auch die Gerüche der Küste sagten ihm das. Matrosen sprechen vom süßen Duft des Landes, der sie dreißig Meilen weit draußen auf dem Meer aufweckt, wenn er heranweht, er aber hatte ihn auf dieser seiner Jungfernfahrt nie wahrgenommen. Jedenfalls nicht an Bord der Tokachimaru. Erst hier, als er flach auf dem Wasser lag und die zwanzig kurzen Jahre seines Lebens sich aufdröselten wie die Fasern einer ausgefransten Schnur, da spürte er ihn. Auf einmal war seine Nase ein Instrument von scharfer, präzise kalibrierter Empfindlichkeit, Hundehaft und akkurat: Er konnte die einzelnen Grashalme an dem schwarzen Ufer unterscheiden, das da irgendwo vor ihm lag, und er wusste auch, dass dort Menschen waren, Amerikaner, mit ihrem Buttergestank, ihren Töpfen voll Mayonnaise und Ketchup und dergleichen, und dass sich unter ihnen toter, trockener Sand befand und Schlamm, in dem es wimmelte von Krabben und Fadenwürmern und all den unsichtbaren Partikeln der Verwesung, aus dem er sich zusammensetzt. Und mehr noch, viel mehr: der Moschusduft wilder Tiere, der gesunde Gestank von Haustieren, von Hunden und Katzen und Papageien, der metallische Geruch nach Sprühlack und Dieselöl, das etwas süßliche Aroma der Auspuffgase von Außenbordmotoren, der Duft – so schwer und mächtig, dass ihm die Tränen kamen – von nachtblühenden Blumen, von Jasmin und Geißblatt und tausend anderen Dingen, die er noch nie gerochen hatte.
Er war zum Sterben bereit gewesen, und jetzt würde er es schaffen.
Er war kurz davor. Das wusste er. Er stieß mit den Beinen in das dunkler werdende Wasser.
»Sollten wir nicht ein Licht anmachen oder so was?«
»Mmh?« Seine Stimme war ein warmes Murmeln an ihrer Kehle. Er war halb eingeschlafen.
»Positionslampen«, sagte Ruth, ebenfalls ganz leise, fast flüsternd. »So heißen die doch, oder?«
Das Boot schaukelte sanft in der Dünung, sachte und schwingend wie in einer Wiege, wie das große, schwere Bett mit der »Zauberfinger«-Massage in dem Motel, wo sie in ihrer ersten Nacht in Georgia gelandet waren. Eine leichte Brise wehte auch, süß und salzig zugleich, milde, aber doch kräftig genug, um die Moskitos in Schach zu halten. Das einzige Geräusch kam vom Wasser, das das Boot umschmeichelte, ruhig und rhythmisch, ein Plätschern und Fließen, in dem die Melodie eines alten Liedes anklang, das sie seit zehn Jahren vergessen hatte. Die Sterne waren lebendig und wach. Die Flasche mit Champagner war kalt. Er antwortete nicht.
Ruth Dershowitz lag nackt im Bug von Saxby Lights’ fünfeinhalb Meter langem Motorboot. (Eigentlich gehörte das Boot seiner Mutter, so wie alles in und um das Große Haus auf Tupelo Island.) Saxby lag ausgestreckt neben ihr, die Wange schläfrig gegen ihre Brust gedrückt. Jedes Mal wenn das Boot in ein Wellental sackte, entfachte die Reibung seines modischen Stoppelbarts winzige Feuer, die bis hinunter in ihre Zehen loderten. Fünf Minuten vorher hatte Saxby vor ihr gekniet, hatte ihre Hüften auf der breiten, flachen Planke des Sitzes zurechtgeschoben, ihre Schenkel gestreichelt, sodass sie sich öffneten, und war in sie eingedrungen. Zehn Minuten davor hatte sie zugesehen, wie er im schwindenden Licht einen Ständer bekam, während er auf der Ruderbank vor ihr saß und vergeblich versuchte, eine Luftmatratze aufzublasen, damit sie es bequem hätten. Sie hatte ihn beobachtet, nachdenklich und erregt, bis sie schließlich raunte: »Lass es gut sein, Sax – los, komm schon!« Und jetzt war er eingeschlafen.
Eine Zeit lang horchte sie auf das Wasser und dachte an gar nichts. Und dann stieg das Bild von Jane Shine, ihrer Feindin, vor ihr auf, doch sie verscheuchte es mit einer Vision des eigenen, unausweichlichen Triumphes, ihre noch unstrukturierten Erzählungen kristallisierten zu Kunst, eroberten Literaturmagazine und erstaunten die Welt, und dann dachte sie an das Große Haus, dachte an ihre Schriftstellerkollegen, an die Bildhauer und Maler und an die schieläugige Komponistin, deren Musik wie der schleppende Tod in einer Metronomenfabrik klang. Eine Woche war sie jetzt schon mit ihnen zusammen, die erste Woche eines unbefristeten Aufenthalts – einer Serie von Monaten, die nun in ihrer Fantasie zum Leben erwachten: Monate mit kleinen Koboldgesichtern und eingezogenen Köpfen, beim fröhlichen Bockspringen hinein in eine ruhmreiche, grenzenlose, sonnenhelle und mietfreie Zukunft. Keine Servierjobs und keine Zeilenschinderei mehr, nie wieder Restaurant-Kritiken, Banalitäten für Käseblätter wie Parade oder Cosmopolitan-Peinlichkeiten über Safer Sex, Sex in der Dusche oder »Frühstück bei ihm zu Hause«. Sie konnte so lange bleiben, wie sie wollte. Für immer.
Sie hatte jetzt Verbindungen.
Der Gedanke lullte sie ein, und ehe sie sich’s versah, driftete sie davon, wurde vom Champagner, der Nacht, die wie eine Decke war, und dem wohligen Schaukeln des Bootes in die verschwommenen Gefilde des Unbewussten gezogen, und bald streiften weiße Meeresgeschöpfe durch ihren Traum. Sie trieb im Wasser, und auf einmal schoss ein Dutzend blasser Wesen wie Torpedos auf sie zu, sie schrie auf … aber es war alles gut, sie lag in Saxbys Boot, die Sterne blinkten, und sie war wach – einen Augenblick lang –, ehe sie in den Traum zurückglitt. Delfine, nur Delfine waren es, das sah sie jetzt, und sie spielten mit ihr, stupsten ihr die Flaschenschnauzen zwischen die Beine und hoben sie auf ihre glitschigen Stromlinienschultern … aber dann ging etwas schief, und sie war wieder allein im Wasser, und da war noch etwas anderes: ein Schatten stieg aus der Tiefe auf, düster und schnell, und rempelte sie an, mit einem so festen Stoß, dass sie aufwachte. »Sax?« Zuerst glaubte sie, sie seien mit einem anderen Boot kollidiert, weil sie kein Licht gemacht hatten – ihre Gedanken waren noch etwas wirr –, »Sax? Hast du das auch gespürt?«
Saxby hatte einen festen Schlaf. Einmal in Kalifornien, da hatte er weitergeschlafen, obwohl der Radiowecker sich dreimal einschaltete, ein Erdbeben die Bilder von den Wänden schüttelte und die Marschkapelle der Universität auf der Wiese hinter seiner Wohnung eine Probe abhielt. »Wie?« fragte er, »häh?« und hob dann langsam den Kopf von ihrer Brust. »Gespürt? Was denn?«
Aber dann erstarrte Saxby plötzlich. Sie lag auf dem Rücken und betrachtete ihn, als seine Muskeln sich mit einem Mal anspannten und er verblüfft »Was zum Teufel?« knurrte, und da blickte auch sie auf und sah direkt in die Augen einer Erscheinung. Gespenstisch und unvermutet stieg im fahlen Mondschein über dem Heck ein Gesicht auf. Es dauerte einen Moment, aber dann begriff sie: Das war ein Mensch. Ein Mensch, der sich an ihr Boot klammerte, mitten in der Nacht draußen auf dem Peagler Sound. Sie sah ihn, ja, die Haare hingen ihm in die Augen, seine Züge hatten etwas Eigenartiges, sie sah seinen verwirrten, erschöpften Gesichtsausdruck, der sich nun wie in Zeitlupe zu einer Miene des...