E-Book, Deutsch, 330 Seiten
Braatz / Essenwanger / Geraedts Buch der bösen Träume
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7504-8522-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 330 Seiten
ISBN: 978-3-7504-8522-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Juliette M. Braatz, Jahrgang 1982, arbeitete viele Jahre im Hotelfach und wechselte 2014 in die Redaktion eines TV- und Radiosenders im Ruhrgebiet, wo sie die Liebe zu den Wörtern entdeckte. In ihrer Freizeit schreibt sie seitdem Gedichte, Songtexte und betreibt zudem einen erfolgreichen Buchblog. "After Dark" ist ihre zweite Kurzgeschichte für eine Anthologie. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten eigenen Buch, das über einen Verlag publiziert wird.
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Zwei
»Du hast schon mal besser ausgesehen, Kumpel.«
Der leichte freundschaftliche Schlag von Ben auf seinen Rücken fühlte sich für Michael an wie ein Peitschenhieb. Brummend zuckte er zusammen.
»War ‘ne lange Nacht.«
»Überrascht mich jetzt nicht. Du hattest schon etliche lange Nächte, seit Katharina dich verlassen hat.«
Der Klang ihres Namens ließ sein Herz verkrampfen. Noch nie hatte er so tiefe Reue empfunden.
»Es ist fünf Uhr morgens.«
»Und?«
»Halt einfach die Fresse und lass uns reingehen.«
Wie auf Kommando ertönte eine Sirene – das Signal dafür, dass jeder in der Zink-Fabrik sich an seinem Platz einfinden und an die Arbeit machen sollte.
Nicht nur in der Fabrik war alles streng getaktet. Während die Männer – oft bis zu dreizehn Stunden lang – Zinkschrott schmolzen und anschließend zu Barren gossen, begann auch draußen in Pottsfield der Tag. Die Morgendämmerung verzog sich gemächlich und gab den Blick frei auf die Plattenbauten, die eigens für die Arbeiter errichtet worden waren. Grau in Grau streckten sie sich empor und überschatteten die ohnehin schon trostlos wirkende Arbeiterstadt.
So trüb wie dieser Morgen, war auch die immerwährende Stimmung. Zwar hatte Pottsfield alles, was eine Stadt brauchte, aber man kam nur her, wenn man in der richtigen Welt keinen Platz mehr fand. Zahlreiche verlorene Seelen suchten hier eine Beschäftigung mit Unterkunft. Eine Zukunft. Und was fanden sie? Schwere Arbeit.
Nicht umsonst hieß es Schwerindustrie. Das Werkzeug war schwer, das Material war schwer, auch die Arbeitsbedingungen waren schwer. Die Luft war giftig; die Messwerte des Dioxins lagen dauerhaft über dem Grenzwert. Viele Arbeiter waren nicht ausgebildet, doch man brauchte sie für die Hilfstätigkeiten, die zu verrichten waren. Dafür wurden sie übertariflich entlohnt.
Die Tage zogen ins Land. Die Bedeutungslosigkeit, die von allem ausging, war den Bewohnern von Pottsfield längst ins Blut übergegangen. Wer Glück hatte, bewohnte eines der kleinen Reihenhäuser am Stadtrand. Weit weg von der Fabrik, deren Schornsteine ständig qualmten und hässliche Rauchwolken in den Himmel pusteten. Und weit weg von der Sirene, die bedrohlich in die Welt hinausschallte wie das Nebelhorn eines Kreuzfahrtschiffes, das den Aufbruch in ein neues Abenteuer verkündete.
Eines, das keinem von ihnen jemals beschieden sein würde, weil sie hier festsaßen und womöglich niemals von hier wegkommen würden. Pottsfield zog viele Menschen wegen der guten Bezahlung an, aber kaum einer brachte die Motivation auf, die Stadt wieder zu verlassen.
Rasen an Rasen, den Briefkasten exakt zehn Zentimeter vom Bürgersteig entfernt, kümmerten sich die Ehefrauen darum, dem Mann ein gemütliches Zuhause zu bieten.
Die alleinstehenden Männer fristeten ihr Dasein in den fahlen Wohnanlagen, die die Straßen zur Fabrik säumten wie eine Allee aus Beton. Nicht nur außerhalb, sondern auch hinter den Mauern war alles von derselben Tristesse.
Allesamt gleich karg eingerichtet. Keines glich einem warmen und gemütlichen Zuhause, sondern erinnerte eher an eine trostlose, kalte Zelle. In der Zeit zwischen den 13-Stunden-Schichten schliefen die Männer oder saßen oft nur herum, bis die Sirene das nächste Mal heulte und sie zurück in die Fabrik beorderte.
Die Freizeitangebote lockten niemanden aus seinen vier Wänden. Niemand besuchte den Sportplatz, die Gartenanlage oder das Schwimmbad. Die schwere körperliche Arbeit hinterließ ihre Spuren. Die Männer waren erschöpft, wollten in Ruhe den Abend ausklingen lassen und sich mit einem Feierabendbier belohnen. Der Pub war zu jeder Tages- und Nachtzeit gut besucht.
»Hattest du wieder diesen Albtraum?«
Ben, sein Kollege – und irgendwie auch sein bester Freund –, musterte ihn mit sorgenvollen Augen, während sie zu den heißen Öfen in der riesigen Halle schlurften. Die Herzstücke der Fabrik.
»Hatte ich.«
»Und hast du vor, etwas dagegen zu unternehmen? Wie lange geht das schon so?«
Ben zählte offenbar in Gedanken und verwendete dazu die Finger seiner linken Hand. Bis zum Ringfinger kam er. Vier Tage also. Die Zeit kam ihm länger vor. Michael fühlte sich ausgelaugt, als hätte ihn eine kräftezehrende Krankheit heimgesucht, die nach und nach jede Energie und alles Leben in ihm zu ersticken drohte.
»Ich habe es dir schon mehrfach gesagt.« Ben blickte ihn ernst an: »Rede mit Dr. Thompson. Er ist auf diese Traumscheiße spezialisiert und kann dir sicher helfen.«
»Was soll ich denn bei dem Quacksalber?« Dr. Thompson, der einzige Psychiater in dieser gottverlassenen Stadt.
Das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, war, sich von diesem Seelenklempner in seinem Unterbewusstsein rumpfuschen zu lassen. »Dem zahle ich ein Heidengeld, nur damit ich bei ihm auf der Couch liegen darf. Das kann ich zu Hause umsonst haben.«
Aber in Wirklichkeit ging es ihm nicht um das Geld. Vor Ben wollte er es nicht zugeben. Aber er fürchtete sich davor, mit Thompson zu sprechen, fürchtete sich vor dem, was dabei vielleicht an die Oberfläche treten würde. Aber er wusste, er hatte keine Wahl. Thompson war der Einzige, der ihm helfen konnte. Wenn es überhaupt jemanden gab, der dazu in der Lage war.
Wenn es nämlich so weiterging — ihm grauste bei dem Gedanken, jede weitere Nacht seines Lebens von diesem Albtraum geplagt zu werden. Diese schrecklichen Bilder zu sehen, die Stimmen zu hören. Immer und immer wieder. »Ja, okay, ich werde zu ihm gehen.«
Bis eben war es nur eine vage Überlegung in seinem Hinterkopf gewesen, denn Michael wusste bei bestem Willen nicht, wie er das, was er durchmachte, überhaupt erklären sollte. Doch nun hatte er die Worte ausgesprochen und ihm war klar, dass Ben ihm nun regelmäßig damit auf die Nerven gehen würde, wenn er den Psychiater nicht aufsuchte.
»Michael, das ist großartig! Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich bin stolz auf dich. Und vielleicht kann dir Katharina verzeihen und gibt dir noch eine Chance, wer weiß?« Ben wirkte sichtlich begeistert.
»Jetzt verarsch mich nicht …«
Ben boxte ihm gegen die Schulter.
»Gib die Hoffnung nicht auf! Wenn ich dich begleiten soll, gib mir Bescheid. Überhaupt kein Problem, Kumpel.«
»Seid ihr unter die Schwuchteln gegangen? Wohin begleiten? Aufs Klo?«
Ethan, der das Gespräch mitverfolgte, machte eine Blase mit seinem Kaugummi, ließ sie geräuschvoll platzen und musterte Michael dabei von oben bis unten. »Du konntest es deiner Verlobten wohl nicht anständig besorgen, was?«
Aus Sorge, Michael könnte dem Arsch eine verpassen, stellte sich Ben zwischen die beiden.
»Und aus Frust hast du sie grün und blau geschlagen«. Ethan grinste schief.
Ben machte einen entsetzten Gesichtsausdruck, sah sich eilig um und hob den Zeigefinger an seine Lippen, um ein hervorzupressen. Er sah die Faust nicht kommen. Michael hatte sich nicht mehr beherrschen können. Die Erinnerungen an Katharina waren einfach unerträglich, alles in ihm wehrte sich dagegen. Und doch musste er zugeben, dass Ethan vielleicht recht hatte, er und alle anderen in dieser beschissenen Stadt, die ihn für ein Monster hielten, für einen Frauenschläger.
Die Polizei hatte ihn bisher nicht verhaften können, weil eindeutige Beweise fehlten. Niemand brachte seine Verlobte dazu, eine Aussage zu tätigen. Michael fragte sich selbst nach dem Warum. Darüber schwieg sie hartnäckig.
Ben hatte recht. So konnte er nicht weitermachen. Sich diesen Träumen zu stellen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, war der einzige Weg, sich von allem zu befreien. Er schaute auf. Ethan hielt sich das Kinn, das womöglich bald in bunten Farben zu bestaunen war. Dann zog er seine dicken Schutzhandschuhe aus und ließ sie auf den Boden fallen, um beide Hände zu Fäusten zu ballen, doch bevor er auf Michael einschlagen konnte, eilte der Schichtleiter zu ihnen herüber.
Keiner der Männer hatte den Pulk bemerkt, der sich mittlerweile um sie geschart hatte. Eine Prügelei machte die Maloche um einiges erträglicher und unterhaltsamer.
»Ihr werdet nicht fürs Rumstehen bezahlt. Macht euch an die Arbeit oder verpisst euch! Ich kann keine Faultiere hier gebrauchen. Verstanden?«
So schnell, wie die Männer zum Gaffen herkamen, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Man konnte es sich nicht leisten, rausgeworfen zu werden. Die Arbeit war wichtiger. Zumindest wichtiger als drei Idioten, die sich anpöbelten.
Ethan spuckte Michael vor die Füße.
»Schon gut, Chef. Ich lass die zwei Schwuchteln in Ruhe. Ist mir doch scheißegal, ob der Wichser eingebuchtet wird.«
Er hob seine Handschuhe vom Boden auf und schlenderte langsam Richtung Ofen. Ben sah ihm kopfschüttelnd nach.
»Und du, Michael, gehst jetzt nach...




