E-Book, Deutsch, Band 4, 400 Seiten, Format (B × H): 205 mm x 125 mm
Reihe: Ein Fall für Milla Nova
Brand Stiller Hass
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7152-7506-2
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fall für Milla Nova
E-Book, Deutsch, Band 4, 400 Seiten, Format (B × H): 205 mm x 125 mm
Reihe: Ein Fall für Milla Nova
ISBN: 978-3-7152-7506-2
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat elf Kriminalromane, zwei Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.
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9
Als sich der Prosecco aus der zerschlagenen Flasche über die Steinplatten ergießt, ist Irena Jundt schon im Haus. Sie rennt die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal. Aus einem Zimmer torkelt ihr Lisa Kunz entgegen, die Hände vor den Mund gepresst.
»Was ist passiert?« Irena schreit Lisa die Frage ins Gesicht.
»Marc.« Mehr bringt ihre Freundin nicht heraus. Irena drängt sich an Lisa vorbei und blickt ins Zimmer. Da sieht sie ihn: erhängt an einem Seil, das über einen der Dachbalken geschwungen ist. Ein Holzschemel liegt umgekippt am Boden. Der Rechtsmedizinerin genügt ein Blick auf Marcs hervorgequollene Zunge und seine blau verfärbten Hände, um zu erkennen, dass er nicht mehr am Leben ist. Trotzdem geht sie zu ihm hin, berührt ihn am Hals. Er ist kalt. Kein Puls. Sie schiebt den Ärmel seines Hemdes nach hinten, umfasst den Ellenbogen, sie versucht, erst seinen Arm zu beugen, dann sein Bein, doch die Muskulatur leistet Widerstand. Die Totenstarre hat schon eingesetzt.
»Wir müssen ihn herunterholen«, sagt Lisa. Ihre Stimme hört sich an, als komme sie von weit weg. Sie eilt zum Schreibtisch, wühlt hektisch in einer Schublade, sucht ein Messer, eine Schere, irgendwas. In der Zwischenzeit sind auch die anderen vier im oberen Stockwerk angekommen. Sie reagieren sofort, reagieren professionell. Winter greift zum Telefon, wählt die Nummer von Staatsanwalt Diego Lopez und begibt sich wieder nach unten, damit Lisa das Gespräch nicht mit anhören muss. Bettina geht zu ihr hin, legt ihr die Hand auf die Schulter und übt sanften Druck aus, um die Kripochefin davon abzuhalten, Marc loszuschneiden.
»Wir müssen ihn noch einen Moment dalassen. Irena muss sich die Situation zuerst ansehen.« Bettina wirft ihren Kollegen einen Blick zu. »Und wir müssen Fotos machen.«
»Brauchen wir die Spurensicherung?«, fragt Ramon.
Irena nickt. Auch wenn hier alles nach einem Suizid aussieht, handelt es sich doch um einen außergewöhnlichen Todesfall. Das heißt: Staatsanwalt informieren, Spuren sichern, die Leiche untersuchen. Um eine mögliche Gewalteinwirkung von Drittpersonen ausschließen zu können. Zumal hier nicht irgendjemand hängt, sondern der Ehemann einer ranghohen Polizistin.
»Ramon, bietest du die Spurensicherung auf? Und Meret, kannst du Peter Lang anrufen? Er soll herkommen und mir mein Material bringen.« Dann, denkt Irena, muss sie nicht extra nach Bern und wieder zurück nach Krauchthal fahren. Und überhaupt wäre sie froh, wenn ihr Assistent hier wäre und sie nicht alles selber machen müsste. Sie steht Lisa zu nahe. Sie sind zwar nicht die Art von Freundinnen, die gemeinsam unter die Bettdecke kriechen, Süßigkeiten essen und sich die neuesten Anekdoten über ihre Männer anvertrauen oder sich beieinander ausheulen, wenn es mit ebendiesen Männern nicht mehr klappt. So waren sie beide nie. Aber sie sind – wenn auch auf distanzierte Art – doch Freundinnen.
»Wir dürfen nichts verändern, bis die Spurensicherung hier ist«, mahnt Irena die anderen, obwohl es nicht nötig wäre.
Danach wird sie den toten Marc herunterholen, ihn ausziehen und seinen Leichnam genau untersuchen, so wie sie schon unzählige Male sogenannte Legalinspektionen gemacht hat. Und doch wird es dieses Mal anders sein. Sie hat Marc zwar nicht besonders gut gekannt, hat ihn nur drei-, viermal gesehen. Lisa und Marc waren kein symbiotisches Paar, bei dem der eine ohne den anderen nicht zu existieren scheint; im Gegenteil. Aber Marc war nichtsdestoweniger der Partner ihrer Freundin. Es ist für Irena immer schwierig, wenn sie den Toten gekannt hat, den sie untersuchen muss. Sie zieht es vor, ihre »Klienten« auf dem Seziertisch zum ersten und zum letzten Mal zu sehen. Bettina zieht Lisa sanft aus dem Zimmer, obwohl diese sich dagegen wehrt. Doch sie wirkt gefasst. Zu gefasst. Der Schock wird später kommen, denkt Irena. Kaum ist Lisa draußen, tritt sie einen Schritt zurück, zückt ihr Handy und macht ein paar Bilder aus verschiedenen Winkeln: vom Zimmer in der Totalen, vom Schemel am Boden, von der Leiche, wie sie da hängt, von der Position des Knotens an Marcs Nacken. Dann nimmt sie vorsichtig seine Hand, betrachtet die Fingernägel. Sauber. Keine Auffälligkeiten an den Händen. Nichts spricht dagegen, dass sich Marc das Leben genommen hat, denkt Irena. Außer, dass es eben um Marc geht. Sie kann sich nicht vorstellen, warum er sich hätte umbringen wollen. Aber man kann es sich nie vorstellen. Der Suizid eines gesunden Menschen ist für die Hinterbliebenen ohnehin nicht nachvollziehbar. Zurück bleibt nur Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Unverständnis, Verzweiflung. Und manchmal große Schuldgefühle. Das hat Irena oft genug erlebt.
Sie hört ein Auto draußen auf den Kiesplatz fahren. Türen werden zugeschlagen. Die Spurensicherung ist da. Ihr Assistent Lang wird auch gleich hier sein.
»Ich würde zusammenbrechen, wenn mir das passieren würde.« Ramon Fink steuert den Einsatzwagen, mit dem die ganze Truppe nach dem Rennen hierhergefahren war, vom Kiesplatz auf die Hauptstraße. »Ich wäre nicht so cool wie unsere Chefin.«
Er und Meret Knabenhans fahren zu zweit zurück nach Bern. Felix Winter und Bettina Flückiger sind bei Lisa geblieben, während Irena Jundt mit Marcs Leiche beschäftigt ist.
»Vielleicht hat sie noch nicht wirklich realisiert, was passiert ist. Oder sie wollte sich vor uns keine Blöße geben.«
»Aber ihr Mann ist tot.« Ramon schüttelt den Kopf.
»Dass der sich ausgerechnet in ihrem Arbeitszimmer erhängt. Er muss doch einen Grund gehabt haben. Ich meine: Sie ist Polizistin … Ihr muss doch etwas aufgefallen sein.«
»So etwas merkt man nicht«, sagt Meret. »Es kommt vor, dass es jemandem plötzlich wunderbar geht, sobald er sich entschieden hat, sich das Leben zu nehmen. Und er täuscht sein Umfeld: Die anderen meinen dann, es sei alles in Ordnung.«
»Du hast das schon selber erlebt?«
»Ja.«
Ramon hakt nicht weiter nach. Er merkt, dass Meret nicht mehr dazu sagen will.
»Ob er einen Abschiedsbrief geschrieben hat?«, fragt er stattdessen.
»Ich habe keinen gesehen. Aber vielleicht wird Lisa noch einen finden.«
»Zack, und plötzlich ist er weg, der Mensch, von dem du dachtest, dass du dein Leben mit ihm verbringen würdest.«
»Diese Gefahr besteht doch immer. Jeden Tag.«
Der Wagen rumpelt über ein Schlagloch. Meret blickt zu Ramon hinüber, den sie nun schon eine Weile und doch nicht wirklich kennt.
»Hast du denn einen Menschen, mit dem du dein ganzes Leben verbringen willst?«, fragt sie.
»Ja, zum Glück!«
Meret zögert. Und fragt dann doch: »Einen Mann oder eine Frau?«
»Meret! Was soll das denn – denkst du, ich sei schwul?«
»Könnte ja sein.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ramon, ehrlich? Jeder auf der Wache denkt, du bist schwul.«
Ramon greift sich an den Kopf. »Warum? Du meine Güte, ich bin nicht schwul. Meine Freundin ist so weiblich, wie eine Frau nur sein kann.«
Meret muss lachen.
»Wirke ich denn schwul?«
»Was weiß ich. Vielleicht ein bisschen. Du siehst zu gut und zu gepflegt aus für einen Hetero.« Meret sagt es mit einem Grinsen.
»Du bist sicher Single.«
»Warum meinst du?«
»Du machst diesen Anschein. So wie du lebst.«
»Ich treff mich schon manchmal mit jemandem.« Meret verschweigt, dass sie sich mit einer Frau trifft, die der Meinung ist, sie hätten eine Beziehung. Meret hingegen bezeichnet die Verbindung als Affäre. Wenn überhaupt. Weil sie bis vor Kurzem gar nicht auf Frauen stand. Um sich zu beweisen, dass sie nicht lesbisch ist, geht sie auch immer wieder mit Männern aus, aber mehr als küssen läuft nicht mit ihnen.
»Also, mit einem Mann, oder?«, hakt Ramon nach. »Du stehst schon auf Männer?«
»Ach, Ramon, wenn ich das nur wüsste!«
»Oha«, erwidert Ramon. Jetzt ist er derjenige, der grinst. »So genau wollte ich es gar nicht wissen.«
In Lisas Haus schließt Irena Jundt den Reißverschluss des Leichensacks, zieht die Handschuhe aus und weist ihre Kollegen an, Marc ins Rechtsmedizinische Institut zu überführen.
»Nein, wartet noch einen Moment.«
Irena öffnet den Reißverschluss wieder ein Stück weit und steigt dann die Treppe hinab. Lisa Kunz sitzt mit Bettina Flückiger unten im Wohnzimmer. Beide blicken auf, als sie Irenas Schritte hören.
»Möchtest du noch einen Moment bei ihm sein?«, fragt Irena.
Lisa nickt, bedankt sich und begibt sich in ihr Büro, in dem sie Stunden ihres Lebens über den Akten von Kriminalfällen, von Gewalt- und Tötungsdelikten gebrütet hat und das jetzt selbst zu einem Ort des Todes geworden ist. Sie schließt die Tür hinter sich.
Als Lisa nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aus dem Zimmer kommt, nimmt Irena sie kurz in die Arme. Doch Lisa geht nicht darauf ein, sie bleibt nur stehen, ihr Körper versteift sich. Irena tritt einen Schritt zurück.
»Bist du so weit?«
»Ja.«
Die Rechtsmedizinerin gibt ihren Kollegen ein Zeichen. Dann wendet sie sich wieder Lisa zu.
»Ich habe nichts gefunden, das darauf hindeutet, dass er es nicht selbst gemacht hat.« Irena klingt jetzt nicht anders, als wenn sie über einen ihr unbekannten Toten spricht. »Aufgrund der Körpertemperatur, der Totenflecken und der Ausprägung der Leichenstarre gehe ich davon aus, dass er zwischen vierzehn und siebzehn Uhr gestorben ist.« Sie überlegt. »Die SMS, die er dir geschickt hat, vor unserem Start. Das muss kurz nach sechzehn Uhr gewesen sein. Dann können wir das enger eingrenzen; der Todeszeitpunkt...