E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Bratton Die Realität schlägt zurück
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7518-0357-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politik für eine postpandemische Welt
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0357-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Benjamin Bratton, 1968 in Los Angeles geboren, ist Professor für visuelle Künste an der University of California, San Diego. Er ist der Programmdirektor des Think-Tanks 'The Terraforming' am Strelka-Institut für Medien, Architektur und Design in Moskau. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit politischer Theorie, Technikphilosophie und Informatik und erforscht dabei die geopolitischen Folgen moderner Softwaretechnologien.
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Vorwort: Wenn der Tod das Leben regiert
Dies ist ein Buch darüber, wie Gesellschaften Leben und Tod verwalten, wie sie scheitern und Erfolge erzielen, und darüber, wie die Covid-19-Pandemie deutlich machte, dass wir eine Gesellschaft brauchen, die planetarisch ist und sich ihrer Verantwortung nicht entzieht. Zugleich ist es ein Buch darüber, dass weite Teile der Philosophie den pandemischen Test nicht bestanden haben – weshalb ich hier einen alternativen Vorschlag unterbreiten möchte. Eine gelungene Reaktion auf eine Pandemie, auf den Klimawandel oder darauf, wie wir füreinander Sorge tragen wollen, sollte »biopolitisch« im Sinne sein. Denn es geht dabei schließlich buchstäblich um Leben und Tod.
Die schwierigsten Lektionen, die es zu ziehen gilt, sind jene, die sich bemerkbar machen, sobald die – in Form eines Virus und der unzureichenden Reaktionen der Regierungen darauf – unsere wohligen Illusionen und Ideologien in tausend Stücke schlägt.
Dieses Buch nun erscheint zu einem Zeitpunkt, der hoffentlich dem Ende der Pandemie näher ist als ihrem Anfang, in einem Moment, in dem Veränderung zugleich notwendig ist und möglich erscheint. Indem es sich den aus der »Rache des Realen« zu ziehenden Lehren stellt, entwirft es eine postpandemische Politik und somit ein Bild dessen, was nun zu geschehen hat. Denn die Frage lautet: Kann sich die Welt anders regieren? Und wenn ja, welche Modelle benötigen wir dafür?
Paul Preciado schreibt: »Sag mir, wie deine Gemeinschaft ihre politische Souveränität konstruiert, und ich sage dir, welche Formen deine Plagen annehmen werden.«1 Ja, und gleichermaßen schmerzlich wahr ist auch das Gegenteilige, vor allem wenn Souveränität durch ihre Abwesenheit definiert wird. Diese Pandemie offenbart, dass insbesondere der Westen nicht mehr in der Lage ist, sich selbst so zu regieren, wie es eigentlich nötig wäre.
Coronaviren sind uralt. Wir haben uns gemeinsam mit ihnen entwickelt. Schuld an der aktuellen Pandemie ist nicht, wie manche meinen, eine widernatürliche globale Verstrickung, die sich durch unverhohlene Abschottung rückgängig machen ließe, sodass alles und jede:r wieder an den eigenen Platz rückte. Verschränkungen sind schließlich die Norm, nicht die Ausnahme.
Die Pandemie hat gravierende Missstände zutage gefördert, nicht nur im Hinblick auf die staatlichen Reaktionen, sondern auch in Bezug auf die politischen Kulturen, die Erstere überhaupt erst beglaubigen, formen und widerspiegeln. Denn der Grund, warum ein Land erfolgreich war, wo ein anderes gescheitert ist, liegt nicht nur in den unterschiedlichen politischen Strategien, sondern auch in den unterschiedlichen Kulturen, die die jeweiligen Vorgehensweisen gutheißen oder entrüstet ablehnen. Was in Taiwan angemessen erscheint, kann in Italien oder Texas unzumutbar sein.
Wir müssen postpandemische Politik sowohl hinsichtlich der Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft als auch im Hinblick auf die Art und Weise verstehen, wie eine weltumspannende Gesellschaft sich selbst erfährt, wie sie sich vermittels verschiedener Mechanismen, seien sie öffentlich, persönlich, privat oder wissenschaftlich, organisiert und für sich selbst Sorge zu tragen versucht.
Der anarchische Zustand der internationalen Politik, innerhalb dessen sich Nationen voneinander abschotten und um Ressourcen wie Daten oder Impfstoffe konkurrieren – obwohl es sich dabei keineswegs um ein Nullsummenspiel handeln müsste –, ist ebenso überflüssig wie erschreckend unkoordiniert. Solch ein Zustand belässt uns alle in einer Position, bei der gemeinsame Probleme zwar auf planetarischer Ebene bestehen, diese jedoch auf einer vergleichsweise kurzsichtigen lokalen Ebene adressiert werden. Die Herausforderungen, die der Klimawandel an die Regierungen stellt, machen diese Situation überaus deutlich. Wohl früher als später muss und wird daher etwas geschehen.
In Anbetracht einer solchen Zukunft geht dieses Buch von der Annahme aus, dass die Forderung nach einem wissenschaftlich-biologischen Konzepts des Lebens nicht bedeutet, die Welt auf bloße Fakten zu , als vielmehr ihre Komplexität und Fragilität anzuerkennen; sie folglich also nicht auf die konstruierten Bedeutungen zu reduzieren, die wir ihr überzustülpen vermögen. In der Pandemie wird nämlich klar: Die Realität schlägt zurück. Sie ist eine nicht verhandelbare Tatsache, die komfortable Illusionen auf den Kopf stellt, ganz gleich, wie sehr sich manche auch bemühen mögen, diesen mit einer eigens auserwählten Form von Hokuspokus zurück auf die Füße zu verhelfen.
Doch um welche Formen des »Realen«, der »Realität«, handelt es sich, mit denen wir uns aufgrund der Pandemie gezwungenermaßen auseinandersetzen müssen? Wie hat das beispiellose Filtrieren und Sortieren von Menschen in ihre jeweiligen Passländer die Macht und die Grenzen der exklusiven nationalen Staatsbürgerschaft offenbart? Wie wird der epidemiologische Blick und das kollektive Risiko die landläufigen Vorstellungen davon verändern, was eine »Gesellschaft« ist? Welche Lehren müssen aus den – erfolgreichen oder katastrophalen – Reaktionen der verschiedenen Regierungen für die Zukunft gezogen werden? Macht die ungleiche und ungerechte Verteilung von Tests und Pflege deutlich, wie kollektiv das Risiko in Wahrheit ist? Und wie wirft dies zugleich Simplifizierung aller Arten von technologischer Sensorik als schädliche »Überwachung« über den Haufen?
Was verraten die »Maskenkriege« über die zerstörerische (und selbstzerstörerische) Natur des libertären Individualismus, der als Grundlage unserer Souveränität gilt? Wie entsteht aus der subjektiven Absicht, Schaden zuzufügen oder Zuneigung zu schenken, im Angesicht des objektiven biologischen Sachverhalts der Infektion eine Ethik des immunologischen Gemeinguts, sobald wir an jemand Fremdem vorbeigehen? Ist es denn wirklich verwunderlich, dass die auf »biopolitischer Kritik« basierenden Philosophien, die jedwede auf den Körper bezogene Governance für autoritär und illegitim halten, vor dem Hintergrund der Pandemie dermaßen kläglich versagen? Und was wiederum offenbarte der explosionsartige Anstieg an Protesten gegen Polizeigewalt über die Auswirkungen eines generationellen Abbaus einer gerechten und effektiven Regierungsführung?
Und zu guter Letzt: Wie geht es weiter mit der postpandemischen Erde? Auf welche Formen planetarischer Absicherung, Governance und wird es in einer rationalen und gerechten Welt ankommen, und welche tiefgreifenden und komplexen Veränderungen innerhalb der politischen Kultur könnten sie zeitigen? Ist der Westen in der Lage, sich die eine oder andere naheliegende Lektion zu Herzen zu nehmen, oder nicht?
Es gibt keinen bequemen Ausweg, keine einfachen Lösungen. Das Buch hat keinerlei Absicht, als entspannender Schmöker über die Guten und die Bösen herzuhalten, die mehr zu erklären vorgeben, als sie in Wahrheit zu liefern imstande sind. Dafür sind die Einsätze zu hoch und zu breit gestreut. Die Realität der Situation ist zutiefst desorientierend, selbst für einige unserer angesehensten Kulturtheoretiker:innen. Während nämlich bisher ästhetischer Widerstand gegen vertikale Planung und wissenschaftliche Rationalität gemeinhin als fortschrittlich erachtet wurde, sind wir mittlerweile mit einem Zustand konfrontiert, in dem intuitiver Individualismus unter dem Deckmantel der »gesundheitlichen Freiheit« zunehmend als Gefahr erkannt wird. Der Boden wird uns unter unseren Füßen weggezogen, dafür liegen nun einige zuvor verborgene Pfade offener und klarer als je zuvor zutage.
Die von mir beschriebene postpandemische Politik ist inklusiv, materialistisch, restaurativ, rationalistisch und basiert auf einem radikal entmystifizierten Bild der menschlichen Spezies, das eine Zukunft antizipiert, die sich von derjenigen unterscheidet, wie sie von vielen kulturellen Traditionen angedacht worden ist. Sie akzeptiert die evolutionäre Verflechtung von Säugetieren und Viren. Sie erkennt den Tod als Teil des Lebens an. Und sie versteht daher etwas vollkommen anderes unter den Verantwortlichkeiten des medizinischen Wissens, unnötiges Leid zu lindern sowie den Tod zu verhindern, als die rein nativistische Immunisierung einer Bevölkerungsgruppe gegen eine andere. Es handelt sich um in einem positiven und vorausdeutenden Sinne. Denn wie auch immer sich die Folgen letztlich darstellen: Sie sind beabsichtigt, durch Handeln oder Unterlassung. Laissez-faire-Vitalismus, demzufolge »das Leben sich schon irgendwie behaupten wird«, ist keine Option, sondern lediglich eine Gutenachtgeschichte. Und gleichermaßen ist die Behauptung, dass es Bio-Macht nicht geben dürfe und dass Entscheidungen darüber, was lebt und was nicht, sich vermeiden ließen, zumal sie schwierig und beunruhigend seien, letztlich bloß eine weitere Möglichkeit, die Ausübung von Bio-Macht...




