E-Book, Deutsch, 864 Seiten
Reihe: dtv- extra
Bray Der Geheime Zirkel III Kartiks Schicksal
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-423-42614-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 864 Seiten
Reihe: dtv- extra
ISBN: 978-3-423-42614-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Libba Bray ist in Texas aufgewachsen und lebt heute in New York. Unter anderem ist sie Autorin der Trilogie >Der geheime Zirkel<, mit der sie es auf Anhieb auf die Bestsellerliste der New York Times schaffte, dem Roman >Ohne. Ende. Leben.<, für den sie mit dem Michael L. Printz Award ausgezeichnet wurde, und der international erfolgreichen >Diviners<-Reihe.
Weitere Infos & Material
2. Kapitel
Der lang gezogene Trakt des Ostflügels mit dem Gerüst davor erstreckt sich wie das Skelett eines großen hölzernen Vogels. Aber die Hauptarbeit der Männer konzentriert sich auf die Restaurierung des verfallenen Turms, der den Ostflügel mit dem übrigen Schulgebäude verbindet. Seit dem Feuer, das ihn vor fünfundzwanzig Jahren zerstörte, war er nichts als eine schöne Ruine. Aber jetzt wird er mit Stein und Ziegeln und Mörtel wiederaufgebaut und verspricht schließlich ein herrlicher Turm zu werden – hoch und mächtig und imposant.
Seit Januar kommen Scharen von Männern hierher, um täglich außer sonntags in der Kälte und Nässe zu arbeiten und unsere Schule wieder ganz zu machen. Wir Mädchen dürfen uns dem Ostflügel während der Bauarbeiten nicht nähern. Der offizielle Grund dafür lautet, dass es viel zu gefährlich sei: Wir könnten von einem losen Balken erschlagen oder einem rostigen Nagel durchbohrt werden.
Aber die Wahrheit ist, dass Mrs Nightwing uns nicht in der Nähe der Männer haben will. Ihre Anweisungen in diesem Punkt waren unmissverständlich: Wir dürfen kein Wort mit den Arbeitern sprechen und sie dürfen nicht mit uns sprechen. Für einen gehörigen Abstand ist vorgesorgt. Die Arbeiter haben ihre Zelte eine halbe Meile entfernt von der Schule aufgestellt. Sie befinden sich unter den wachsamen Augen von Mr Miller, ihrem Vorarbeiter, während wir nie ohne die Begleitung einer Anstandsdame sind. Es wurden alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um uns voneinander fernzuhalten.
Genau das ist es, was uns dazu treibt, die Männer aufzusuchen.
Mit fest zugeknöpften Mänteln – der März ist noch immer eisig kalt – gehen wir durch den Wald hinter Spence, gefolgt von Brigid, unserer Haushälterin, die schnaufend und keuchend versucht, Schritt zu halten. Es ist nicht nett von uns, so schnell zu gehen, aber es ist die einzige Möglichkeit, ein paar Augenblicke für uns zu haben. Als wir die Hügelkuppe erreichen und uns an einer Stelle niederlassen, von der man einen ausgezeichneten Blick auf die Baustelle hat, ist Brigid weit hinter uns und wir haben kostbare Zeit gewonnen.
Felicity streckt eine Hand aus. »Das Opernglas, bitte, Martha.«
Martha zieht das Fernglas aus ihrer Manteltasche und reicht es weiter bis in Felicitys wartende Hände.
Felicity setzt es an die Augen. »Wirklich sehr eindrucksvoll«, schnurrt sie.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Felicity nicht den Ostflügel meint. Von da, wo wir sitzen, können wir sechs gut gebaute Männer in Hemdsärmeln sehen, die einen riesigen Balken an seinen Platz hieven. Ich bin sicher, wenn ich das Opernglas hätte, könnte ich jeden einzelnen ihrer Muskeln ausmachen.
»Oh, lass mich sehen, Fee«, stöhnt Cecily. Sie fasst nach dem Glas, aber Felicity reißt es weg.
»Warte, bis du an der Reihe bist.«
Cecily zieht einen Flunsch. »Brigid wird jeden Moment da sein. Ich werde nicht dazu kommen!«
Felicity lässt das Glas rasch sinken und greift nach ihrem Zeichenblock. »Seht jetzt nicht hin, aber ich glaube, einer von den Männern hat uns entdeckt.«
Elizabeth springt auf und reckt den Hals. »Welcher? Welcher?«
Felicity tritt ihr auf den Fuß, sodass Elizabeth auf ihren Allerwertesten fällt.
»Au! Warum tust du das?«
»Ich habe gesagt, ihr sollt jetzt nicht hinsehen«, zischt Felicity. »Der Punkt ist, es so erscheinen zu lassen, als ob wir ihre Aufmerksamkeit nicht bemerken.«
»Ohhh«, sagt Elizabeth, der langsam ein Licht aufgeht.
»Der eine dort am Ende, in dem Hemd mit dem armseligen roten Flicken«, sagt Felicity und wendet sich mit gespieltem Interesse ihrer Skizze zu. Ich beneide sie um ihre Kaltblütigkeit. Stattdessen suche ich Tag für Tag den Horizont nach einem anderen jungen Mann ab, von dem ich kein Wort mehr gehört habe, seit ich ihn vor drei Monaten in London verlassen habe.
Jetzt wirft Elizabeth einen verstohlenen Blick durch das Opernglas. »Oh mein Gott!«, sagt sie und lässt das Glas sinken. »Er hat mir zugezwinkert! So eine Frechheit! Ich sollte mich sofort bei Mrs Nightwing über ihn beschweren«, empört sie sich, aber die atemlose Aufregung in ihrer Stimme straft sie Lügen.
»Bei allen Heiligen.« Brigid hat uns endlich eingeholt. Flugs gibt Felicity das Opernglas an Martha weiter, die es mit einem kleinen Aufschrei ins Gras fallen lässt, bevor sie es in der Tasche ihres Capes verstaut.
Brigid setzt sich auf einen Felsblock, um zu Atem zu kommen. »Sie sind zu schnell für Ihre alte Brigid. Schämen Sie sich nicht, mich so abzuhängen?«
Felicity lächelt süß. »Oh, es tut uns leid, Brigid. Wir wussten nicht, dass Sie so weit zurückgeblieben sind.« Leise fügt sie hinzu: »Du alter Drache.«
Brigid runzelt die Stirn über unser Gekicher. »He, was fällt Ihnen ein? Machen Sie sich über Ihre Brigid lustig, ja?«
»Überhaupt nicht.«
»Oje, das ist sinnlos«, seufzt Cecily. »Wie können wir aus so weiter Entfernung den Ostflügel zeichnen?« Sie sieht Brigid hoffnungsvoll an.
»Sie werden ihn von hier zeichnen und keinen Zollbreit näher, Miss. Sie haben gehört, was Mrs Nightwing gesagt hat.« Brigid starrt auf das hölzerne Gerüst und die Steine behauenden Maurer. Sie schüttelt den Kopf. »’s ist nicht richtig, diesen verfluchten Ort wiederaufzubauen. Sie sollten ihn besser in Ruhe lassen.«
»Oh, aber es ist spannend!«, entgegnet Elizabeth.
»Und denken Sie nur, wie schön Spence sein wird, wenn der Ostflügel wieder instand gesetzt ist!«, stößt Martha ins gleiche Horn. »Wie können Sie sagen, es ist nicht richtig, Brigid?«
»Weil ich mich erinnere«, sagt Brigid und tippt sich an die Schläfe. »Mit dem Ort ist was faul, besonders mit dem Turm. Das kann man spüren. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen …«
»Ja, davon bin ich überzeugt, Brigid, die wunderbarsten Geschichten«, sagt Felicity so sanft wie eine Mutter, die ihr gereiztes Kind beruhigt. »Aber ich mache mir Sorgen, dass Sie von der Kälte Rückenschmerzen bekommen.«
»Na ja«, sagt Brigid und reibt sich die Hüften. »’s ist eine Plage. Und meine Knie werden auch nicht jünger.«
Wir nicken mitfühlend.
»Wir gehen nur ein winziges Stück näher«, gurrt Felicity. »Gerade nahe genug für eine ordentliche Skizze.«
Wir bemühen uns, so unschuldig wie ein Chor von Engeln dreinzublicken.
Brigid nickt uns kurz zu. »Also los, gehn Sie schon. Aber nicht zu nah! Und denken Sie ja nicht, dass ich nicht aufpasse!«
»Danke, Brigid!«, rufen wir fröhlich und sausen den Hügel hinunter, bevor sie ihre Meinung ändern kann.
»Und beeilen Sie sich! Es schaut mir nach Regen aus!«
Ein plötzlicher, kalter Windstoß fährt über das dürre Gras. Er rüttelt die müden Glieder der Bäume wie knöcherne Halsketten und peitscht unsere Röcke so weit hoch, dass wir sie herunterziehen müssen. Wir kreischen vor Überraschung – und Vergnügen –, denn es hat für einen unbewachten, verbotenen Augenblick die Aufmerksamkeit sämtlicher Männeraugen auf uns gelenkt. Der Windstoß ist in diesen späten Märztagen das letzte Aufbegehren des Winters. Die Bäume schütteln schon den Schlaf ab und rüsten sich selbst zum Angriff. Bald werden sie ihren grünen Siegeszug beginnen und den Winter in die Flucht schlagen. Ich ziehe den Schal um meinen Hals. Der Frühling kommt, aber ich kann die Kälte nicht abschütteln.
»Gucken sie?«, fragt Elizabeth aufgeregt, verstohlene Blicke nach den Männern werfend.
»Dauernd«, sagt Felicity im Flüsterton.
Marthas Locken hängen schlaff herunter. Sie gibt ihnen einen hoffnungsvollen Schubs, aber sie wollen nicht in ihre Form zurückspringen. »Sagt mir ehrlich, hat die Feuchtigkeit mein Haar ruiniert?«
»Nein«, lügt Elizabeth genau im gleichen Moment, in dem ich Ja sage.
Martha spitzt ihren Mund. »Ich hätte mir denken können, dass du unfreundlich sein würdest, Gemma Doyle.«
Die anderen Mädchen werfen mir frostige Blicke zu. Es scheint, als sei die Aufforderung »Sagt mir ehrlich« eine verschlüsselte Botschaft, die in Wirklichkeit heißt: »Lügt um jeden Preis«. Ich werde mir das notieren. Oft denke ich, wahrscheinlich gibt es ein Lehrbuch, in dem alles zum Thema Höflichkeit und Damenhaftigkeit steht, und ich habe nur versäumt, es zu studieren. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Cecily, Martha und Elizabeth mich nicht leiden können und meine Gegenwart nur dann tolerieren, wenn Felicity dabei ist. Umgekehrt finde ich ihr Denken so eingeschnürt wie ihre Taillen, denn sie können über nichts anderes reden als über Feste, Kleider und die Missgeschicke oder Unzulänglichkeiten anderer. Ich würde lieber bei den Löwen im Kolosseum im Alten Rom mein Glück versuchen, als noch einen Teeplausch mit Leuten wie ihnen über mich ergehen zu lassen. Die Löwen machen wenigstens kein Hehl aus ihrem Verlangen, dich aufzufressen.
Felicity wirft einen Blick zu den Männern hinüber. »Hier entlang.«
Schritt für Schritt schieben wir uns näher an die Baustelle heran.
Die Arbeiter sind jetzt von fieberhafter Neugierde gepackt. Sie lassen ihre Arbeit ruhen und nehmen ihre Mützen ab. Die Geste ist von untadeliger Höflichkeit, aber das Grinsen auf den Gesichtern lässt auf weniger züchtige Gedanken schließen. Ich erröte.
»He, Burschen. Zurück an die Arbeit, wenn ihr sie behalten wollt«, warnt der Vorarbeiter. Mr Miller ist ein stämmiger Mann mit Oberarmen so dick wie...