E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Breitsprecher Hinter dem Schein die Wahrheit
Deutsche Originalausgabe 2017
ISBN: 978-3-95917-209-7
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-95917-209-7
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit ihrer Kindheit verbindet sie eine enge Freundschaft: die eigenwillige Annette Vogl, die in Konventionen gefangene Karin Schmitz und den Außenseiter Holger Baumgartner. Annette entdeckt ihre Liebe zu Frauen, Karin strebt eine Karriere beim Ballett an und Holger möchte Pfarrer werden, aber die strengen Regeln der katholischen Provinz legen ihnen Hindernisse in den Weg, die sie in ihrer Jugend nicht überwinden können.
Als viele Jahre später Karins 17-jähriger Sohn Jacob von Gleichaltrigen verprügelt wird und fürchtet, dass die Schläger ihn als schwul outen, taucht er unter, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Karin ruft Annette und Holger zu Hilfe, und die Suche nach dem Jungen wird für alle drei zum Anlass, sich den Schatten der Vergangenheit zu stellen. Was lange verborgen blieb, drängt ans Licht und ruft Erinnerungen wach an verlorene Liebe, vergebene Chancen und die Suche nach einem Platz in der Welt. Die Gefühle wirbeln durcheinander, und mit jeder Stunde, die Jacob verschwunden bleibt, spitzt sich die Lage zu ...
Claudia Breitsprecher, Jahrgang 1964, lebt mit ihrer Frau in Berlin und studierte Soziologie, Psychologie und Politik an der Freien Universität. Nach dem Abschluss als Diplom-Soziologin folgten berufliche Tätigkeiten im Bildungs- und Sozialbereich. Ende der 1990er Jahre erschienen ihre ersten Kurzgeschichten in Anthologien, seither schreibt sie sowohl Prosa als auch Sachbücher. 2002 debütierte sie auf diesem Gebiet mit 'Das hab ich von dir', einem Ratgeber über Mutter-Tochter-Beziehungen. 2007 folgte mit '?Bringen Sie doch Ihre Freundin mit?' ein auf Interviews basierendes Buch über lesbische Lehrerinnen. Mit 'Vor dem Morgen liegt die Nacht' erschien 2005 ihr erster Roman, ein weiterer schloss sich 2011 mit 'Auszeit' an. Für diesen wurde sie 2012 von der Autorinnenvereinigung e.V. als Autorin des Jahres ausgezeichnet. Sie ist außerdem Mitglied der Gruppe 'alphabettinen'.
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Freitag, 14. November 2014, 17.12 Uhr
Er hielt die Augen fest geschlossen, biss die Zähne zusammen und spannte die Muskeln an, so fest er konnte. Als es endlich vorbei war, hörte er, wie die Jungs johlend davonliefen, wie ihre Rufe sich entfernten, leiser wurden und immer leiser. Er lag gekrümmt auf der Seite und atmete in den kalten Boden hinein, hielt sich noch immer die Arme schützend um den Kopf und stöhnte vor Schmerz. So eine Scheiße! Langsam öffnete er die Augen, das Blut rann von der Braue zur Nasenwurzel hin, vermischte sich dort mit seinen Tränen, lief weiter, tropfte ins novembermatte Gras. Am liebsten wollte er zusammen mit der Flüssigkeit in der Erde versickern. O Mann, Jacob, was bist du für ein Idiot, beschimpfte er sich selbst und lauschte. Als die anderen nicht mehr zu hören waren, rappelte er sich auf, hockte auf dem Boden und wischte sich mit dem Halstuch das Gesicht trocken. Er spürte in seinen Körper hinein. Die Unterlippe tat höllisch weh, wo eine Faust sie getroffen hatte, aber die Zähne waren noch fest. Die Platzwunde über dem Auge pulsierte. Wenigstens schienen die Knochen heil geblieben zu sein, obwohl – was hatte dieses Stechen in seiner linken Seite zu bedeuten? Vielleicht war doch eine Rippe gebrochen? Ein Wunder wäre das ja nicht, so wie sie auf ihn eingetreten hatten, als er schon am Boden lag. Er betrachtete das blutige Halstuch. Warum bloß, warum? Wollten sie ihn einschüchtern, weil er von den Pillen wusste, mit denen sie dealten? Hatten sie selbst welche eingeschmissen oder waren sie einfach scharf darauf, einen wie ihn zu verprügeln? Die blöde Schwuchtel. Den Schwanzlutscher. Er schloss die Augen wieder, spürte die Schwere im Herzen, wollte nicht denken, wollte sich nicht erinnern, aber die Bilder kamen und setzten ihm zu. Die letzten Schulstunden der Woche waren geschafft, die feuchte Luft roch nach Schweiß, Duschgel und Deo. Er hatte getrödelt, weil auch Philipp nach dem Sportunterricht immer lange brauchte, und nun waren nur noch sie beide im Umkleideraum. Jacob musterte Philipp verstohlen, die schmalen Hüften in den engen Jeans, den nackten Oberkörper, das Spiel seiner Muskeln, als er sich die streichholzkurzen Haare trocken rieb. Plötzlich drehte Philipp sich um, als spürte er, dass er beobachtet wurde. Jacob wandte sich ab, aber es war zu spät. Philipp hatte ihn ertappt und baute sich dicht vor ihm auf. »Na, was ist, willst du mich ficken?«, fragte Philipp und sah ihn herausfordernd an. Jacob sackten beinahe die Knie weg. Sprachlos stolperte er einen Schritt rückwärts. Philipp grinste hämisch. »Ich kann das ja mal den anderen erzählen. Das wird sicher ein Spaß.« Jacob schüttelte den Kopf. Er musste sofort etwas erwidern, irgendetwas, damit sich diese Idee nicht in Philipps Kopf ausbreitete. Und er musste cool bleiben dabei, durfte sich bloß nicht anmerken lassen, wie erschrocken er war. »Was geht denn bei dir ab?«, brachte er mühsam hervor und merkte selbst, wie wenig überzeugend er klang. So ging das nicht, da musste er mächtig zulegen. »Du spinnst doch! Hast wohl selbst von den Dingern genascht, die du sonst auf dem Schulhof vertickst.« Er deutete auf Philipps Lederjacke. »Meinst du, ich weiß nicht, was da drin ist? Wie wär’s, wenn ich darüber mal rede.« Ja, das war schon besser. Nun verging Philipp das Lachen, es gefror förmlich auf seinem Gesicht. Jacob sah es erleichtert, er hatte einen Treffer gelandet. Eigentlich wollte er nicht drohen, er wollte auch keinen Stress mit Philipp, ganz im Gegenteil. Aber dass Philipp ihn outete, konnte er auf keinen Fall riskieren. Betont lässig schwang er sich den Rucksack über die Schulter, stieß Philipp im Vorbeigehen an und verließ den Umkleideraum in der Hoffnung, dass die Sache damit erledigt war. Aber dann erhielt er diese Nachricht, als er zu Hause über seinen Schularbeiten brütete. Komm um fünf zum Weiher, hatte Philipp geschrieben. Lass uns reden. Und: Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß. Er presste das Tuch gegen die aufgeplatzte Augenbraue, und die Scham breitete sich in ihm aus wie ein schleichendes Gift. Was hatte er sich denn eingebildet? Wie hatte er nur darauf hereinfallen können und glauben, was da stand? Hätte er bloß auf seine innere Stimme gehört, die Alarm geschlagen hatte, die voll auf Abwehr gegangen war. Schließlich passte die Nachricht nicht zu Philipp. Er war nicht schwul. Eigentlich war er nicht einmal nett. Er war ein fieser Macho mit einer großen Klappe. Ein Fußballspieler. Jacob hasste Fußball, und trotzdem ging er seit Monaten immer wieder zum Sportplatz, wenn die A-Jugend spielte. Das war doch alles völlig bescheuert. Er begriff ja selber nicht, warum er sich ausgerechnet in Philipp … Er seufzte. Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß. Eine üble Falle hatten sie ihm gestellt, und er war hineinspaziert wie in Trance. Welche Wahl hatte man denn, wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand? Da konnte die innere Stimme warnen, so viel sie wollte. Das Herz hörte eben schlecht, wenn es so wild vor sich hin pochte. Ein Blick in den Spiegel. Gel ins Haar. In Windeseile mit dem Rennrad die Hauptstraße entlang und aus dem Dorf hinaus. Ein Auto hupte ausdauernd, als er quer über die Straße in den Wald abbog, ohne es vorher anzuzeigen. Gerade noch pünktlich kam er am Weiher an, stapfte über die unebene Wiese, die von Wildschweinen umgepflügt worden war. Philipp erwartete ihn schon, und sie waren so allein, wie Jacob es sich immer erträumt hatte. Die Lichtung lag im Dämmerlicht, aus dem Wasser stieg der Abendnebel in die nasskalte Luft. Jacob strahlte, aber Philipp lächelte nur, lächelte auf eine fremde Weise, hart und kalt. Das Misstrauen keimte auf und wurde Gewissheit. Hier stimmte etwas nicht. »Glaubst du wirklich, du kannst mir drohen?« Philipp winkte mit dem Arm in Richtung der Büsche, und seine beiden Kumpel vom TSV Eschenreuth traten heraus. Die zwei wohnten nicht im Dorf, Jacob kannte sie nur vom Fußballplatz, Nummer sechs und Nummer acht, wenn er sich richtig erinnerte. Jetzt gesellten sie sich an die Seite ihres Torwarts, und Jacob begriff, was kommen würde, war schon besiegt, bevor sie begannen, auf ihn einzuprügeln. Fuck! Er warf das Halstuch auf den Boden und befühlte die Braue; ein dickes Ei, aber wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Sein linkes Auge war zugeschwollen, mit dem rechten schaute er sich um. Inzwischen war es schon ziemlich dunkel. Er musste hier weg, bevor der Wald auch noch das letzte Licht des Tages schluckte. Na los, steh auf, sagte er zu sich selbst. Das hier ist ein Kaff. Ein halbes Jahr noch, dann bist du achtzehn. Im nächsten Sommer hast du das Abi in der Tasche und kannst hier weg. In die Stadt, so wie Annette damals, als sie kaum älter war als er. Oder so wie Paps. Wenn Mama einverstanden gewesen wäre, dass sie alle bei Paps in Prag lebten, wäre das gar nicht passiert. Dann ginge er dort zur Schule und nicht auf dieses öde Gymnasium, in das er mit dem Schulbus gebracht wurde wie alle anderen aus dem Dorf. Auch Philipp. Wie sollte das denn werden in der nächsten Woche? Das ging doch nicht! Er stand vorsichtig auf. Die linke Seite fühlte sich an, als stäche jemand im Sekundentakt mit einer Mistgabel gegen seinen Brustkorb. Er sah hinüber zu seinem Rad, das er am Wegesrand gegen eine Birke gelehnt hatte. Er würde sich nicht darauf halten können. Also zu Fuß den weiten Weg nach Hause. Wie viele Schritte waren denn zwei Kilometer? Viel zu viele mit diesem Schmerz. Vielleicht sollte er Holger anrufen, überlegte Jacob. Auf Holger war doch Verlass, der alte Freund seiner Mutter würde ihn bestimmt mit dem Moped abholen. Auf einem Moped würde Jacob sich halten können, und Holger würde ihn nicht mit Fragen nerven und auch nicht im Dorf herumtratschen, was geschehen war. Vielleicht wäre es auch nicht schlecht, ihn in der Nähe zu haben, wenn die Mutter von ihrer letzten Kundin nach Hause kam, wenn sie ihn sah und die Wahrheit ans Licht musste. Seine Mutter, oje. Wie sollte er ihr das beibringen? Das hatte er doch völlig anders geplant. Er fasste in seine Jackentaschen. Das Portemonnaie war da und auch sein Schlüsselbund, aber wo war das Handy? Er fasste tiefer hinein und fand es nicht, prüfte die Innentasche – nichts. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. War das Handy herausgefallen oder …? Hektisch suchte er die umgewühlte Wiese ab, seine Finger ertasteten feuchte Blätter und verwittertes Holz, einen Kronkorken, einen Regenwurm, aber sein Handy nicht. Er suchte weiter und weiter, tastete, fluchte. Nahm das blutverschmierte Halstuch hoch, aber auch darunter kam das Handy nicht zum Vorschein. Er schleuderte das Tuch wieder weg. O nein, nicht das Handy, dieses teure Teil mit dem schnellen Internet und dem großen Speicher! All seine Musik. All seine Bilder und Videos. DAS Video. Wenn sie ihm das Handy geklaut hatten, hätten sie ihn eigentlich auch...