E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Brenne / Zeilinger / Sperveslage Winnetou. Karl May in kritischen Zeiten
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98857-046-8
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-98857-046-8
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karl May (1842–1912) ist einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren – die Gesamtauflage seiner Bücher wird auf über 200 Millionen Exemplare geschätzt. Seine Erzählungen und deren einzigartige Rezeptionsgeschichte sind ein Zeugnis für die Macht der Literatur, kulturelle Barrieren zu überwinden und universelle Werte zu vermitteln. Einst stand Karl May für Freiheit, Pazifismus und Antikolonialismus. May erweckte in Millionen jugendlicher Leser:innen Bewunderung und Respekt für die indigenen Völker und Kulturen Nordamerikas. Winnetou, der edle Häuptling der Apachen, ist eine der positivsten Figuren der Weltliteratur. Und heute soll derselbe Winnetou die Verherrlichung kolonialistischer Fremdbestimmung und Identitätsdiebstahl symbolisieren? Im Sommer 2022 lösten zwei Kinderbücher und ein Kinofilm eine heftige Diskussion mit mehr als 100.000 Medienbeiträgen – darunter 3.200 Artikel in Tageszeitungen und Magazinen – aus. Dieser Band untersucht das literarische Werk Karl Mays und dessen Bedeutung unter der Perspektive von kultureller Aneignung, Auswanderung und europäischem Kolonialismus. Darüber hinaus enthält er Beiträge von Christian Feest über das "Indianer"-Bild in Europa, Andreas Brenne über das "Indianer"-Bild bei Karl May, Johannes Zeilinger zum historischen Hintergrund und der kolonialen Debatte seiner Afrika-Romane, Gunnar Sperveslage über Kara Ben Nemsi in Mekka. Koloniales Denken in Karl Mays Orientzyklus. Einführung und Nachwort von Klaus Farin und Gabriele Haefs.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die nationale Interessenvertretung der Indigenen in den USA ist der »National Congress of American Indians« (https://ncai.org). Viele anerkannte indigene Nationenbezeichnungen in den USA und in Kanada haben »Indian/s« im Namen – hier eine Auswahl:
·Blackfeet Tribe of the Blackfeet Indian Reservation of Montana
·Delaware Tribe of Indians
·Fort Apache Indian Reservation
·Gila River Indian Community
·Kiowa Indian Tribe
·Lower Sioux Indian Reservation
·Northern Cheyenne Indian Reservation
·Oneida Indian Nation
·Ponca Tribe of Indians of Oklahoma
·Southern Ute Indian Reservation
·Turtle Mountain Band of Chippewa Indians
·Winnemucca Indian Colony of Nevada
·Yavapai-Prescott Indian Tribe
·Lubicon Lake Indian Nation
·Bridge River Indian Band
·Cheam Indian Band
·Sechelt Indian Band
·Red Rock Indian Band
Was sagen die »Indianer« dazu?
Wir sprechen über ein Thema, das uns als Europäer und hauptsächlich Weiße gar nicht direkt, persönlich und unmittelbar betrifft. Was sagen jene dazu, die es tatsächlich betrifft – also die »Indianer«, Angehörige der »Indigenous Peoples of America« bzw. der »First Nation«?
Lassen wir dazu den Ojibwe Schriftsteller David Treuer zu Wort kommen, der 2019 sein Buch im Riverhead Books Verlag herausgebracht hat. Gleich auf der ersten Seite schreibt er:
»Throughout this book, I use the word ›Indian‹ to refer to indigenous people within the United States. I also use ›indigenous‹, ›Native‹ and ›American Indian‹. These terms have come in and out of favour over the years, and different tribes, not to mention different people, have different preferences. The Red Lake Nation refers to itself as the ›Home of the Red Lake Band of Chippewa Indians‹, for example. Many Native people prefer to describe themselves in their Native languages: Pikuni for Blackfeet, Ojibwe for Chippewa, and so on. My own choices of usage are governed by a desire for economy, speed, flow, and verisimilitude. A good rule of thumb for outsiders: .«26
Und hier die Worte von Michael Paul Hill, politischer Aktivist für die Rechte indigener Völker, Mitglied der San Carlos Apache in Arizona, Reservats-Rechtsanwalt, angewandter Anthropologe und Medizinmann, der mit unserem Arbeitskreis Indianer Nordamerikas seit vielen Jahren über seine politische Tätigkeit verbunden ist:
»We call each other ›Ndn‹ and have no problem with it. Each nation has its own name in its own language. We Apaches call ourselves ›Ndee‹ or ›Nnee‹, which simply means ›people‹. Why should the Working Group Indians of North America name itself differently? Everyone knows what is meant by this and that this association is trying to help indigenous people in North America enforce their rights. So stick to your name!«27
II.
Karl May wurde 1842 in ärmlichen Verhältnissen im erzgebirgischen Ernstthal als fünftes von vierzehn Kindern einer Weberfamilie geboren. Nach einer schwierigen Jugend, die von Armut und kriminellen Aktivitäten geprägt war und ihn für sieben Jahre in Gefängnisse und Zuchthäuser führte, wandte er sich dem Schreiben zu. Seine literarischen Werke, überwiegend Abenteuergeschichten, die vor allem zwischen 1875 und 1910 entstanden, spielen zu je einem Drittel im Wilden Westen Nordamerikas und im Orient. Sein literarisches Spektrum reicht von frühen, autobiografisch geprägten »Dorfgeschichten« und seinen von kritischen Literaturliebhabern oft verschmähten Kolportageromanen, in denen meist blaublütige Helden in atemlosen Reisen rund um die Welt für Gerechtigkeit und ihr privates Glück gegen Intrigen mächtigerer und abgrundtief böser Menschen und Institutionen kämpfen, bis zu den christlich-philosophisch geprägten pazifistischen Gesellschaftsutopien seiner späten Jahre.
Mays Erfolg beruhte auf seiner Fähigkeit, lebendige und abenteuerliche »Märchen« zu erzählen, die vor allem junge Leser:innen in ihren Bann zogen. Seine Geschichten haben eine emotionale Tiefe, die Menschen jeden Alters und Hintergrunds anspricht und verbindet.
Ich persönlich kenne niemanden, der Karl May und sein Werk erst als Erwachsener kennenlernte. Ich habe mit zwölf oder dreizehn Jahren angefangen, die »Grünen Bände« zu lesen, weil sie zu Hause in der Bibliothek meines Vaters herumstanden wie in jedem zweiten Haushalt in Deutschland. Aber am meisten beeindruckt haben mich natürlich die »Winnetou«-Verfilmungen mit Pierre Brice, Lex Barker und »Old Surehand« Stewart Granger, den ich noch mehr mochte als Lex Barker, die alljährlich zu Weihnachten in ARD oder ZDF ausgestrahlt wurden. Ich saß so gebannt vor dem Fernseher, dass ich nichts mehr um mich herum mitbekam. Einmal schafften es meine Eltern, die weihnachtliche »Bescherung« mit meinen Geschenken rund um den Fernseher, also direkt vor meinen Augen aufzubauen, ohne dass ich es wahrnahm. Ich war für einen Moment ernsthaft versucht, wieder an das Christkind zu glauben.
Da wusste ich natürlich noch nicht, dass »das Filmgefummel, das nach Karl May sich nennt«29, nur sehr frei nach Karl May gestrickt ist und mit den Büchern eigentlich kaum mehr gemeinsam hat als die Namen der Figuren (und selbst das nicht immer: So gibt es etwa bei Karl May kein »Halbblut« wie die von Uschi Glas verkörperte Titelfigur aus dem Film .)
Karl May hat sich dagegen gewehrt, als »Jugendschriftsteller« eingeordnet zu werden. , schreibt er in seiner Autobiografie.30
Und in der Tat möchte ich heute behaupten, dass man Karl Mays Werk erst als älterer Mensch richtig verstehen kann bzw. dass es seine eigentliche Faszination erst vor dem Hintergrund seiner inzwischen bekannten und vielfach publizierten Biografie entfaltet. Seine Werke sind im Grunde Psychogramme ihres Schöpfers; nicht nur in Old Shatterhand, sondern in zahlreichen Figuren und Begebenheiten spiegeln sich das Leben und die Psyche des sächsischen Autors wider. Bernhard Leistle, Kulturanthropologe an der Carlton University in Ottawa, weist auf das Besondere an Karl Mays Schreibprozess hin:
»May war in der Lage, in einem Jahr Tausende von Seiten publikationsfertigen Text zu produzieren. Dieses Volumen an Output deutet auf ein Schreiben hin, bei dem die Sprache gewissermaßen durch den Verfasser hindurchströmt, auf ein vorintentionales sprachliches Geschehen, so wie es die Surrealisten mit ihrem ›automatischen Schreiben‹ erprobt haben.«31
May selbst schreibt an einer Stelle seiner Autobiografie:
.32
Schon zu Lebzeiten Karl Mays wie heute von Seiten der Postcolonial Studies und identitärer Kreise wurde immer wieder u. a. kritisiert, dass May seine Erzählungen ja nur »erfunden« habe, die Orte seiner Helden, von denen er behauptete, selbst einer zu sein (»Ich bin Old Shatterhand!«), niemals gesehen zu haben. Was diese Kritiker:innen nie verstanden haben: Darum geht es gar nicht.
In seiner Autobiographie erzählt Karl May über die eigentlichen Motive seines Schreibens, und wie alles in einer dunklen Zelle in einem sächsischen Gefängnis begann:




