Brentano / Hanuschek Franziska Scheler
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7317-6078-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6078-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bernard von Brentano, 1901 in Offenbach am Main geboren, war in den zwanziger Jahren Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Berlin. Mit seinen Essays Über den Ernst des Lebens (1929) und Der Beginn der Barbarei in Deutschland (1932) brachte er die Nationalsozialisten gegen sich auf. Seine Bücher wurden nach der Machtergreifung auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 1933 emigrierte er in die Schweiz, wo er für die Neue Zürcher Zeitung und die Weltwoche schrieb. Von 1949 bis zu seinem Tod 1964 lebte er in Wiesbaden.
Autoren/Hrsg.
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Zweites Kapitel
Eine Frau kann nur auf eine Art schön sein,
aber anmutig auf hunderttausend.
Montesquieu.
1
Franziska Scheler hatte sich in eine Ecke des großen, blauen Sofas zurückgezogen. Sie schien müde zu sein, denn Leopold sah, daß sie hinter dem winzigen Knäuel eines Taschentuchs vorsichtig gähnte. Es war Zeit, endlich mit ihr zu sprechen, und Leopold steuerte durch die Klippen der verlassenen Stühle auf sie zu und setzte sich ihr gegenüber. – Wir haben uns lange nicht gesehen. Darf ich fragen, wie es Ihrer Schwester geht und Ihren Eltern?
– Sie haben sich sehr verändert, sagte Franziska und betrachtete Leopolds Gesicht, bis sich ihre Augen trafen, und Franziska den Blick zur Seite wandte. Ich habe Sie im ersten Augenblick nicht wiedererkannt.
– Es ist lange her, daß wir uns gesehen haben, ich glaube acht Jahre.
– Meiner Schwester gehts gut. Sie hat zwei reizende Kinder.
– Hat Ihnen der Vortrag gefallen?
– Ja und nein. Manches war für mich ein wenig fremd. Wie viel Uhr ist es wohl? Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen.
– Da kennen Sie den Charakter meines Bruders nicht. Meiner Ansicht nach geht der Abend für ihn jetzt erst los. Er hat seit drei Stunden schweigen müssen, nun wird er wohl mindestens eine ebenfalls reden wollen. In seinem Gehirn dürften gewaltige Gedankenmassen aufgestaut sein.
Franziska richtete sich lächelnd auf und schaute zu Karl Chindler hinüber. Karl stand, die Zigarre in der Hand, zwischen Dr. Lichtstrahl und Herrn von Bendemann und redete auf die Herren ein.
– Eine Diskussion würde mir gefallen, sagte Franziska, dann bleibe ich noch hier. Es ist ein Vergnügen, Ihrem Bruder zuzuhören. Er ist gescheit und dabei lustig und witzig.
Leopold hätte gern noch länger mit Franziska gesprochen, aber Karl ließ sich zwischen Dr. Lichtstrahl und Herrn von Bendemann nieder, und Franziska stand auf und setzte sich neben ihren Vetter Bendemann. Leopold folgte ihr und setzte sich neben Anna, und so war denn alles bereit, und Karl konnte mit einem seiner berühmten Monologe beginnen.
Karl Chindler war Beamter im Ministerium des Innern, wo man ihn auf besonderen Wunsch des Ministers in höchst ehrenvoll rascher Beförderung zum Ministerialrat gemacht hatte. Er war ein gescheiter Mensch (der sehr gute Examina gemacht hatte) und von großem Ehrgeiz besessen, aber sein Charakter war zu kompliziert und vielschichtig, um ein so einfaches Gefühl wie Dankbarkeit aufkommen zu lassen. Die Republik hatte ihn gut behandelt, aber sie war, nach Karls Ansicht, ein so schwächliches und beklagenswert markloses Gebilde, daß sie nur die Peitsche verdiente und keine Zuneigung, wie gewisse Kinder, von denen die Pädagogen meinen, ihnen könne nur mit Strenge geholfen werden und keineswegs mit Liebe. Außerdem war Karl stolz auf seinen Verstand, und da er sich einen hohen Wert beimaß und für einen der wenigen ehrlichen und aufrichtigen republikanischen Beamten hielt, so fand er, die Regierung habe nur ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan, als sie ihn beförderte und ihm einen wichtigen und einflußreichen Posten anvertraute. Seine Freunde hatten ihn gelegentlich gewarnt, nicht so offen zu sprechen und seine Zunge besser im Zaun zu halten, aber Karl konnte nicht schweigen, und er scheute sich nicht, offen zu erklären, die Republik schulde ihm weit mehr Dank als er ihr. Seine Freunde lächelten, wenn sie solche Behauptungen hörten, aber die gute Anna, die ihren Mann für ein Genie hielt, ward durch diese Reden in Karls Ansicht so sehr bestärkt, daß sie am Ende Karl noch bestärkte. Das Ergebnis dieser Haltung war eine Art Haßliebe, und Karls Leidenschaft, die Republik und ihre gesamte Politik zu kritisieren, und zwar sowohl die innere als auch die auswärtige, wurde unerschöpflich und seine Reden wurden immer schärfer. Allerdings hatte Franziska in einem Punkte recht: Wenn Karl auf dieses Thema zu sprechen kam, dann konnte er sehr witzig sein.
Dr. Lichtstrahl hatte sich eine Zigarre genommen, Karl reichte ihm eine kleine Schere und steckte ein Zündhölzchen an. Dann begann er: – Ja, wissen Sie, Herr Doktor, im Grunde genommen sollten Sie ein eigenes Haus für Ihre Schulpläne haben, und wenn gewisse Herren nicht so – na, sagen wir überbedenklich wären, hätten Sie es auch schon.
Mit dieser Einleitung war die captatio benevolentiae beendet, und Karl fuhr fort: – Aber offen gesagt, das normale Zentrumsschaf ist von einer Duldsamkeit – um nicht zu sagen Dummheit! –, die ein halbwegs vernünftig denkender Mensch kaum zu fassen vermag. Gestern abend war ich zwei Stunden bei einem der höheren Herren (um nicht zu sagen der höchsten), und was glauben Sie, was ich mir volle geschlagene zwei Stunden anhören mußte? Kindliches und ohnmächtiges Jammern. Die deutschnationalen Beamten sabotieren den Herrn, die Herren Professoren sabotieren ihn, und dieser Mann, der die Mittel hätte, um sich durchsetzen zu können, sitzt da und jammert wie ein Baby, dem der böse Wolf sein liebes Rasselchen gestohlen hat.
Dr. Lichtstrahl gab keine Antwort, und es war ihm anzusehen, daß er über Karls Offenherzigkeit erstaunt war. Karl schien es aber nicht zu merken und fuhr fort: – Dabei wäre diese kindische Sabotiererei durch einen Federstrich zu beseitigen. Wenn die Brüder nicht parieren, sollen sie zum Teufel gehen. Ich versichere Ihnen, meine Herren, wenn ein energischer Mann in unserem Ministerium zehn Beamte fristlos und ohne Pension entlassen würde, dann käme der Rest gekrochen, auf allen Vieren, da halte ich jede Wette, wie die Hündchen, ganz brav und lautlos, und mit dem Schwanz wedeln würden sie auch noch und Pfötchen geben und Männchen machen und alles, was sich gehört! Ich kenne diese Herren, das walte Gott, die halten freche Reden, solange der Brotkorb gut gefüllt und hübsch greifbar auf dem Tische steht, aber sobald er nur zehn Zentimeter in die Höhe gezogen wird, fangen sie schon an zu schielen wie die Füchse, wenns kalt wird, und nach weiteren zehn Zentimetern geht ihnen der Schnauf aus. Ich würde da ganz anders handeln, oder einfacher gesagt, ich würde da überhaupt mal handeln und den Herren die Hälse lang ziehen, wie alten Gummi, und, wenns Not tut, mit einer Spezialmaschine, die von mir aus was kosten dürfte … Aber unsereiner ist ja leider Gottes machtlos, und was tut statt dessen ein braver Zentrumsminister? Er ringt die Hände, er verdreht die Augen, er seufzt und ächzt und läßt sich graue Haare wachsen und – achtet die Überzeugung seiner Gegner. Das ist vielleicht ganz schön und gut, aber politisch ist das nicht. Gegen Intoleranz gibt es nur ein Mittel: Intoleranz.
Leopold versuchte mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören, aber es gibt kaum eine Eigenschaft, welche so schwierig zu handhaben ist wie die Aufmerksamkeit. Karl Chindler sprach nicht von sich, sondern trotz aller Unsachlichkeit seiner Ausdrucksweise eben doch sachlich, und so gab es nichts zu belauern, was die Grundform der Aufmerksamkeit ist. Leopold wurde vom Thema abgelenkt, und seine Überlegungen beschäftigten sich mit dem Charakter seines Bruders. Die engen Verhältnisse, in denen sich Theodor Chindler hatte herumschlagen müssen, hatten Leopold schon früh gelangweilt und seinem Interesse an der Politik zeitweise einen Abscheu beigemischt, der in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg viele von seiner Generation ergriff und sie entweder übermäßig radikalisierte oder für die Aufgaben und Sorgen des Staates stumpf machte. Leopold hatte diese Kinderkrankheit überwunden, aber nun sah er mit Staunen, daß Karl eigentlich noch zu der Generation seines Vaters gehörte, und das heißt zu jener weitverbreiteten Gruppe von Männern, die aus der Opposition nicht herauskam.
Auch Herr von Bendemann hatte an Karls Lippen gehangen, und als Karl nun schwieg, stimmte er ihm lebhaft zu, ja, er klatschte sogar in die Hände. Anna fand das sehr nett von Bendemann und belohnte ihn mit einem Lächeln, aber Leopold kannte Bendemann besser (und viel besser als Anna ihn kannte): Der alte Diplomat war ein listiger Mensch und ein bißchen falsch dazu. Es machte ihm Spaß, Karl reden zu hören, und Karls spitzige und scharfe Zunge unterhielt ihn, wie es ihm an anderen Abenden Vergnügen machte, einem witzigen Ansager zuzuhören, und er spendete Beifall, wie er im Theater da capo rufen konnte, um die Wiederholung einer Arie zu erzwingen, die ihm gefallen hatte, oder wenigstens eine Zugabe. Karl nickte ihm zu, aber er beachtete ihn eigentlich kaum und hielt sich immer noch an Dr. Lichtstrahl. Dr. Lichtstrahl hatte ein paar Mal gelächelt, als sich Karl besonders drastisch ausdrückte, und einmal hatte er sogar beifällig mit dem Kopf genickt. Leopold hatte es wohl gesehen, alle Anwesenden sahen es, und Karl hielt es wahrscheinlich für jene Art lautloser und vollständiger Zustimmung zu seinen Ausführungen, die seinen Gedankenstrom nicht störte, und die er darum besonders schätzte. Leopold war mißtrauischer, und er glaubte zu fühlen, daß Dr. Lichtstrahl mit seinen Gedanken mehr die Person Karls prüfte als dessen Mitteilungen und den merkwürdigen Redner interessanter fand als die merkwürdige Rede. Dr. Lichtstrahl war kein Politiker, und die kleinen, im Grunde alltäglichen Schwierigkeiten eines politischen Beamten, die Karl lediglich sehr farbig und blühend serviert hatte, interessierten ihn wenig.
– Und was meinen Sie, Herr Doktor? fuhr Karl fort. Sie werden ja wohl auch Ihre Erfahrungen mit unseren Herren gemacht haben oder sollten Sie es...




