Bronfen | Händler der Geheimnisse | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Bronfen Händler der Geheimnisse

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-03855-273-4
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-03855-273-4
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs stirbt der jüdisch-amerikanische Veteran George Bromfield auf verdächtige Weise in einem Krankenhaus in New York. Kann es sein, dass seine zweite Ehefrau seinen Tod beschleunigt hat? Beim Versuch, die mysteriösen Todesumstände aufzudecken, graben seine Tochter Eva und ihr Bruder Max immer tiefer in der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihres Vaters. In München und New York gehen die Geschwister auf Spurensuche, um herauszufinden, warum ihr Vater nach Kriegsende nach Bayern zurückgekehrt ist und wie das mit seiner Freundschaft mit einem Porträtmaler und Nazikollaborateur zusammenhängt. Gekonnt verbindet Elisabeth Bronfen eine Spionagegeschichte mit einem Familiendrama und stellt dabei das Nachwirken einer Kultur der Geheimhaltung dar, wie sie für die Nachkriegszeit ab 1945 prägend war.

Elisabeth Bronfen, geboren 1958 in München, lebt in Zürich. Sie ist als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Zürich und an der New York University tätig und arbeitet in den Bereichen Literatur, visuelle Kultur und Gender Studies. Die Autorin hat zahlreiche Publikationen verfasst, u.a. zu weiblichen Todesdarstellungen, zur Kulturgeschichte der Nacht, zu Krieg im Hollywood-Kino, zur Serialität in Shakespeares Dramen, sowie ein Kochbuch.
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PROLOG


DIE FOTOGRAFIE


Wahrscheinlich war es ein Nachmittag im Frühling, denkt Eva, als sie das Foto betrachtet. Die Szene ist in Sonnenlicht getaucht und dennoch muss es kühl gewesen sein. In dem Blumenkasten, der an der Wand unter dem Fenster steht, sind noch keine Kräuter gepflanzt. Sie versucht, sich den Tag in Erinnerung zu rufen. Der Porträtmaler Konstantin Hummler, ein guter Freund ihrer Eltern, war bei ihnen zu Besuch und ließ sich mit ihr und ihren Geschwistern auf der Terrasse hinter dem Haus fotografieren. Ob er sich die Bildkomposition im Vorhinein ausgedacht hatte? Der Holzstuhl, auf dem er sich niedergelassen hat, das eine Bein über das andere geschlagen, steht genau in der linken Ecke, direkt unter einem der Fenster des Wohnzimmers. Ein Vorhang vor dem einen, die Topfpflanze auf der Fensterbank des anderen versperren die Sicht ins Innere. Die Außenwand, an der die Witterung ihre Spuren hinterlassen hat, wirkt auf Eva wie die Kulisse für eine Innigkeit, die auf dieser Bühne vorgeführt wird.

Sie selbst steht auf der rechten Seite des alten Mannes, ihre Schwester Lena auf der linken. Er hat seine Arme um die Mädchen gelegt, eine willkommene Stütze für Eva, die nur auf einem Fuß steht, das linke Bein ist angewinkelt, die Fußspitze wippt leicht nach hinten. Ihre jüngere Schwester schmiegt sich an den Oberkörper des Mannes, doch ihren Kopf hat sie nicht auf seine Schulter gelegt, sondern hält ihn gerade. Ihr Bruder Max steht etwas abseits. Mit der rechten Hand hält er sich an der Lehne des Holzstuhls fest. Sein sicherer Griff erlaubt ihm, sich leicht von dem Maler wegzuneigen, während seine Füße in der fünften Position des Balletts gekreuzt sind. Die elegante Kleidung des alten Mannes lässt Eva darauf schließen, dass die Aufnahme an einem Sonntag gemacht worden sein muss. Eine dezent gemusterte Seidenkrawatte schmückt das helle Hemd des Porträtmalers. In der Brusttasche seines Tweedjacketts steckt ein gefaltetes Taschentuch. Seine großen, handgefertigten Lederschuhe bilden einen Kontrast zu den abgetragenen Halbschuhen der Kinder. Abgesehen davon haben aber auch sie und ihre Geschwister sich für das Foto zurechtgemacht. Ihr Bruder trägt eine Strickjacke mit großen hellen Knöpfen. Sein weißes, glatt gebügeltes Hemd ist bis zum Kragen zugeknöpft. Sie selbst hat ein zu ihrem gepunkteten Kleid und dem Jackett passendes Stirnband angezogen, das die langen dunklen Haare nach hinten hält. Die hellen Wollstrümpfe passen zu der Spitzenborte an ihrem Kragen und ihrer Rocktasche. Über dem linken Ohr der jüngeren Schwester schmückt eine Schleife die Zopffrisur. Dass einer ihrer Kniestrümpfe nach unten gerutscht ist, scheint sie nicht bemerkt zu haben. Ein kleiner visueller Makel in dem ansonsten perfekten Tableau, und doch wirkt diese Unachtsamkeit passend. Eine versonnene Stimmung herrscht über der Szene.

Keine der vier Personen auf dem Bild blickt direkt in die Kamera. Vielmehr schauen die beiden Mädchen verträumt vor sich hin. Ihr jüngeres Ich lächelt Eva verschmitzt zu, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen, den sie für sich behalten will. Zwar hat der Maler sein Gesicht leicht nach unten zu ihrer Schwester gesenkt, doch seine Augen sind geschlossen. Eva fragt sich, ob er sich bereits vorzustellen versuchte, wie er dieses Gruppenbild auf seiner Leinwand darstellen könnte. Ihr Bruder blickt von oben auf den alten Mann herab, mit zugekniffenen Augen, als würde er diesen genau betrachten. Eva fällt auch die minime Distanz zwischen ihm und den Schwestern auf. In der Lücke, die sich zwischen seinem Körper und ihnen ergibt, erscheint der Schatten seines Arms auf der Wand hinter ihm, wodurch sich seine Gestalt im Bild geisterhaft verdoppelt.

Beim Betrachten der Fotografie wird ihr klar, wie gestellt die Szene ist. Es scheint, als hätten alle eine Pose eingenommen. Sie kann sich nicht daran erinnern, wer an diesem Nachmittag hinter der Kamera stand. Wahrscheinlich war es ihr Vater. Wenn Besuch kam, hatte er immer seinen Fotoapparat zur Hand. War er es, der die Anordnung der Personen vorgegeben hat? Hat er durch den Sucher der Kamera gesehen, dass die Bildkomposition dadurch eine Spannung gewinnen würde? Eva kann sich vorstellen, wie ihr Vater ihr und Lena die Anweisung gab, näher an den Maler heranzurücken, und Max aufforderte, sich etwas zu entfernen. Eines ist jedenfalls sicher: Ihr Vater wollte für die Aufnahme etwas Distanz von seinem Freund und seinen Kindern. Er kann sich nicht mit den anderen auf der Terrasse befunden haben, die durch mehrere Stufen von dem Rasen abgesetzt war, der sich hinter dem Haus ausbreitet. Die Perspektive, aus der das Foto aufgenommen wurde, lässt Eva vermuten, dass er dort unten gestanden haben muss, als er auf den Auslöser drückte. Die Inszenierung des Vertrauens, die er einfängt, findet auf einer leicht erhöhten Bühne statt. Er ist der Spielleiter, der die Fäden in der Hand hält. Diese unsichtbare Präsenz spürt Eva im Bild. Wenn sie den eingefrorenen Augenblick heute betrachtet, wird die Vergangenheit wieder lebendig. Noch einmal meint sie die Geborgenheit der Umarmung zu spüren und die Ruhe, die der alte Mann ausstrahlt. Doch sie weiß nicht, ob die Vertrautheit dieser Szene tatsächlich in ihrer Erinnerung gespeichert ist oder ob es nicht eher das Foto ist, das diese überhaupt erst erzeugt.

Erst viel später, als der Porträtmaler schon längst verstorben war, wurde Eva bewusst, wie ungewöhnlich seine Besuche bei ihnen zu Hause gewesen sein müssen. Seit Ende der Dreißigerjahre war Konstantin Hummler ein bedeutender Professor an der Berliner Kunstakademie gewesen. Hitler, den er mehrfach porträtierte, hielt ihn sogar für einen der wichtigsten Kunstmaler des Dritten Reichs. Zu der Zeit war Evas Vater, der Sohn osteuropäischer Juden, die irgendwann um 1910 nach Brooklyn ausgewandert waren, in London stationiert. Getroffen haben sich die beiden erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als ihr Vater als Offizier bei der amerikanischen Militärregierung in Bayern tätig war. In München konnte er den Krieg gegen die Nazis fortführen, als es nach Kriegsende darum ging, zu entscheiden, wer vor der Spruchkammer für seine Aktivitäten im Dritten Reich angeklagt werden sollte und wer ohne Bedenken entnazifiziert werden durfte.

Auch Konstantin Hummler war nach Kriegsende in seine Heimat in die bayerische Hauptstadt zurückgekehrt. Mit dem Wegzug aus Berlin wollte er sich von dem politischen System distanzieren, er musste jetzt einsehen, wie grausam und unrechtmäßig es war. In München unterrichtete er nicht mehr. Er nahm keine öffentlichen Ämter mehr an, saß in keiner Jury. Er malte nur noch Porträts in privatem Auftrag.

Das Foto hat Eva von Hummlers Ehefrau Katja, die ihn um viele Jahre überlebt hat. Beim Aufräumen ist es ihr wieder in die Hände gefallen. Als die ältere Dame es Eva überreichte, versicherte sie ihr, ihr Mann habe sich nirgends so wohl gefühlt wie bei der Familie seines jüdischen Freundes. Es kam Eva damals vor, als hätte Katja ihr mit dieser Gabe etwas beweisen wollen. Seither hat sie sich immer wieder gefragt, ob es einen bestimmten Grund gab, warum der Porträtmaler sich an diesem Sonntagnachmittag mit ihr und ihren Geschwistern fotografieren ließ. Hatte er sich diese Aufnahme gewünscht? Oder war es ihr Vater gewesen, der ihm etwas schenken wollte? Ein Zeichen der Anerkennung ihrer Verbundenheit?

Evas Vater war in den Fünfzigerjahren mit seiner deutschen Ehefrau an den Ort zurückgezogen, wo er einst als Besatzungsoffizier gedient hatte. Konsti, wie ihn alle nannten, und seine Frau Katja waren regelmäßige Gäste in dem Haus in der Münchner Vorstadt, in dem Eva aufgewachsen ist. Dass die beiden sich dort so wohl gefühlt haben, hat Eva später immer wieder gewundert. War es ihnen zum Zufluchtsort geworden, an dem sie sich nicht rechtfertigen mussten? Ihr Zuhause schien auf jeden Fall eine neutrale Zone zu sein. Ihr Vater hielt sich nicht an die religiösen Bräuche seiner Eltern. Über den Krieg, über Kollaboration und Komplizenschaft wurde nicht gesprochen. Auch nicht über Antisemitismus.

Lange hat sie danach gesucht, was sie an dieser Fotografie anzieht. Ihre Freundin Samantha war es, die sie auf ein Detail aufmerksam gemacht hat: Es sind die übergroßen Hände des alten Mannes, die verstörend wirken. So wuchtig, als wären sie ein Fremdkörper im Bild, der sich verselbständigt hat. Behutsam umgreifen sie die schmalen Arme der beiden Mädchen, doch Eva meint darin auch etwas Vereinnahmendes zu erkennen. Jetzt fällt ihr auch etwas anderes auf: Die beiden Mädchen haben die Hände sachte nach innen gerollt, als wollten sie sie zu Fäusten ballen. Sie berühren damit das Jackett des Malers, halten sich aber nicht an ihm fest. Eine zufällige, belanglose Geste? Ein intuitiver Selbstschutz?

Das Foto will Eva nicht loslassen, zu sehr fesselt sie das Besondere dieser Zusammenkunft. Erst nach dem Krieg war das Gruppenbild des alten...



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