Brook | Der leere Raum | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Brook Der leere Raum

The Empty Space
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-89581-415-0
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

The Empty Space

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-89581-415-0
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der leere Raum ist der Klassiker unter den Büchern zum Theater. Es basiert auf vier Vorlesungen, die Peter Brook unter dem Titel The Empty Space: The Theater Today in den sechziger Jahren an den Universitäten von Hull, Keele, Manchester und Sheffield hielt. 1968 erschienen diese Gedanken zum Gegenwartstheater in Buchform. Nachdem der Band für längere Zeit vergriffen war, machte ihn der Alexander Verlag 1983 wieder greifbar für das deutsche Publikum. Brook unterteilt das Theater in vier verschiedene Formen: Das konventionelle Theater definiert er als 'tödlich', das an Ritualen festhaltende Theater als das 'heilige', das leicht verständliche, volksnahe Theater als 'derbes' und das von ihm favorisierte als 'unmittelbares Theater'.

Peter Brook, geb. 1925 in London, zählt zu den bekanntesten internationalen Regisseuren. Seinen Ruf begründete er mit eigenwilligen Shakespeare-Inszenierungen und radikalen Inszenierungen zeitgenössischer Bühnenstücke und Roman-Verfilmungen, u.a. von Marguerite Duras oder William Golding. Seit 1970 lebt Peter Brook in Paris, wo mit dem International Centre for Theatre Research in den Bouffes du Nord ein international besetztes Ensemble gründete, dem er bis 2008 als Künstlerischer Leiter vorstand. Brook erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise.
Brook Der leere Raum jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


II


Das heilige Theater


Ich nenne es der Kürze halber das »heilige Theater«, aber man könnte es auch das »sichtbar gemachte unsichtbare Theater« nennen. Die Idee, daß die Bühne ein Ort ist, wo das Unsichtbare erscheinen kann, hält unsere Gedanken gefangen. Wir sind uns alle bewußt, daß der größte Teil des Lebens unseren Sinnen entgeht. Eine sehr einleuchtende Erklärung der verschiedenen Künste ist die, daß sie von Mustern sprechen, die wir erst dann erkennen können, wenn sie sich in Rhythmen oder Formen äußern. Wir beobachten, daß das Verhalten von Menschen, Massen und die Geschichte derartigen wiederkehrenden Mustern unterliegt. Wir hören, daß Posaunen die Mauern von Jericho zerstört haben, wir merken, daß ein Musik genanntes Zauberding von Männern mit Frack und weißer Binde kommen kann, die blasen, winken, hauen und kratzen. Trotz der dazu verwendeten absurden Mittel erkennen wir durch das Konkrete in der Musik hindurch das Abstrakte und verstehen, daß gewöhnliche Menschen und ihre unhandlichen Instrumente durch eine besitzergreifende Kunst verwandelt werden. Wir bauen um den Dirigenten einen Persönlichkeitskult, aber wir sind uns bewußt, daß nicht er eigentlich die Musik macht, sie macht ihn – wenn er entspannt, offen und eingestimmt ist, ergreift das Unsichtbare von ihm Besitz: durch ihn erreicht es uns.

Das ist die Idee, der wahre Traum hinter den entwerteten Idealen des »tödlichen« Theaters. Das ist die Meinung und Erinnerung derjenigen, die mit Gefühl und Ernst große verschwommene Worte gebrauchen wie Adel, Schönheit, Poesie, die ich lieber hinsichtlich der von ihnen angedeuteten Eigenschaften noch einmal revidieren möchte. Das Theater ist das letzte Forum, wo der Idealismus noch eine offene Frage ist: Viele Zuschauer in der ganzen Welt würden aus eigenem Erleben positiv behaupten, daß sie das Antlitz des Unsichtbaren durch ein Erlebnis auf der Bühne gesehen hätten, das über ihre Lebenserfahrung hinausgehe. Sie werden behaupten, daß Ödipus oder Bérénice oder Hamlet oder Die drei Schwestern, wenn sie mit Schönheit und Liebe inszeniert sind, den Geist beflügeln und sie daran erinnern, daß der trübe Alltag nicht alles ist. Wenn sie das zeitgenössische Theater wegen seiner Küchenspülbecken und Grausamkeiten tadeln, dann wollen sie in allen Ehren dies ausdrücken. Sie erinnern sich, daß während des Krieges das romantische Theater, das Theater der Farben und Töne, der Musik und Bewegung wie Wasser zum Durst des dürren Lebens kam. Damals nannte man es »Flucht«, aber das Wort war nur teilweise zutreffend. Es war eine Flucht, aber auch eine Mahnung: ein Singvogel in der Gefängniszelle. Als der Krieg zu Ende war, bemühte sich das Theater noch heftiger als zuvor, die gleichen Werte zu finden.

Das Theater der späten vierziger Jahre hatte viele Triumphe: es war das Theater von Jouvet und Bérard, von Jean-Louis Barrault, von Clavé beim Ballett, Don Juan, Amphitryon, Die Irre von Chaillot, Carmen, John Gielguds Wiederbelebung von Bunburry, Peer Gynt im Old Vic, Oliviers Ödipus, Oliviers Richard III., Die Dame ist nicht fürs Feuer, Venus im Licht; von Massine im Covent Garden unter dem Vogelkäfig in Der Dreispitz, wie er vor fünfzehn Jahren gewesen war – das war ein Theater der Farbe und Bewegung, feiner Stoffe, der Schatten, exzentrischer, kaskadengleich fallender Worte, der Gedankensprünge und schlauer Maschinen, Leichtigkeit und aller Formen von Spannung und der Überraschung – es war das Theater des zerwalkten Europas, das ein gemeinsames Ziel zu haben schien: auf eine Erinnerung verlorener Gnade zurückzugreifen.

Als ich an einem Nachmittag des Jahres 1946 die Reeperbahn in Hamburg entlangging, während ein feuchter, bedrückender grauer Nebel die verzweifelten, verstümmelten Dirnen mit blau angelaufenen Nasen, hohlen Wangen, und manche an Krücken, umwallte, sah ich eine Schar Kinder sich aufgeregt in die Tür eines Nachtklubs drängen. Ich folgte ihnen. Auf der Bühne war ein hellblauer Himmel, zwei elende bunte Clowns saßen auf einer gemalten Wolke, um die Himmelskönigin zu besuchen. »Worum sollen wir bitten?« fragte der eine. »Was zu essen«, sagte der andere, und die Kinder kreischten Beifall. »Was sollen wir essen?« »Schinken, Leberwurst …« Der Clown begann, all die Nahrungsmittel aufzuzählen, die nicht zu haben waren, und das aufgeregte Kreischen wich allmählich einem Schweigen – einem Schweigen, das sich zu einer tiefen theatralischen Stille verdichtete. Ein Bild wurde Wirklichkeit, als Antwort auf ein Bedürfnis.

In der ausgebrannten Ruine des Hamburger Opernhauses war nur die Bühne selbst erhalten – aber darauf versammelten sich die Zuschauer, während zur Rückwand hin auf einem oblatendünnen Bühnenraum die Sänger auf- und abkletterten, um den Barbier von Sevilla zu spielen, weil sie sich darin durch nichts beirren ließen. In einem winzigen Bodenraum waren fünfzig Leute zusammengepfercht, während in den paar noch übrigen Quadratzoll eine Handvoll der besten Schauspieler entschlossen fortfuhr, ihre Kunst zu üben. Im zertrümmerten Düsseldorf verbreitete eine der minderen Offenbach-Operetten über Schmuggler und Banditen im Theater Entzücken. Da gab es nichts zu diskutieren, nichts zu analysieren – in Deutschland war in diesem Winter, wie in London ein paar Jahre vorher, das Theater die Antwort auf einen Hunger. Aber was war dieser Hunger? War es ein Hunger nach dem Unsichtbaren, ein Hunger nach einer Wirklichkeit, die tiefer war als die vollste Lebensform, oder war es ein Hunger nach Dingen, die man im Leben vermißt, nach Puffern gegen die Wirklichkeit? Die Frage ist heute wichtig, weil viele Leute glauben, daß es in der Vergangenheit noch ein Theater mit gewissen Werten gegeben habe, mit gewissen Fertigkeiten und Künsten, die wir mutwillig zerstört oder beiseite geschoben haben.

Aber wir sollten uns nicht zum Popanz einer Sehnsucht machen lassen. Auch das beste romantische Theater, die zivilisierten Freuden der Oper und des Balletts waren schon grobe Entstellungen einer in ihren Anfängen heiligen Kunst. Im Laufe der Jahrhunderte verwandelten sich die orphischen Riten zur Gala-Vorstellung – aber die Verwässerung mußte langsam und unmerklich vor sich gehen; der Wein wurde Tropfen um Tropfen gepanscht. Jetzt ist es plötzlich damit vorbei, und wir kehren den Träumen den Rücken zu.

Der Vorhang ist das große Symbol einer ganzen Theaterschule – der rote Vorhang, das Rampenlicht, die Vorstellung, daß wir wieder alle Kinder sind, die Sehnsucht und die Zauberei gehörten alle zu einem Komplex; Gordon Craig hat sein ganzes Leben lang gegen das Illusionstheater gewettert, aber seine liebsten Erinnerungen waren gemalte Bäume und Wälder, und seine Augen leuchteten, wenn er die Wirkungen eines trompe d’œil beschrieb. Aber der Tag brach an, an dem derselbe rote Vorhang keine Überraschungen mehr verbarg, als wir nicht mehr Kinder sein wollten – und zu sein brauchten –, als die derbe Zauberei sich einem härteren Gemeinverstand beugte; da wurden der Vorhang heruntergeholt und die Rampenlichter entfernt.

Gewiß wollen wir in unseren Künsten noch die unsichtbaren Strömungen einfangen, die unser Leben beherrschen, aber unsere Sicht ist nun mit der dunklen Seite des Spektrums verknüpft. Heute scheint das Theater des Zweifels, der Unruhe, der Sorge, der Angst wahrer als das Theater mit edlem Ziel. Selbst wenn das Theater an seinem Anfang Riten hatte, die das Unsichtbare Fleisch werden ließen, dürfen wir nicht vergessen, daß mit Ausnahme einiger orientalischer Theater die Riten entweder verlorengegangen sind oder jämmerlich verrottet. Bachs Vorstellungen sind durch die Präzision seiner Anmerkungen genau erhalten, bei Fra Angelico begegnen wir einer echten Fleischwerdung, aber wenn wir heute solche Versuche unternehmen wollten, wo fänden wir die Quelle? In Coventry ist zum Beispiel eine neue Kathedrale gebaut worden, und zwar nach dem besten Rezept, das ein edles Resultat garantiert. Ehrliche, ernste Künstler, die »besten«, haben sich zusammengeschart, um durch einen kollektiven Akt den zivilisierten Versuch zu unternehmen, Gott und Mensch, Kultur und Leben zu verherrlichen. Daher gibt es also ein neues Gebäude, schöne Ideen, herrliche Glasarbeit – nur das Ritual ist fadenscheinig. Diese alten und modernen Hymnen, die vielleicht in einer kleinen Landkirche ihren Reiz hätten, die Zahlen an den Wänden, diese Priesterkragen und die Lektionen – sie sind hier bedauerlich unzulänglich. Das neue Bauwerk schreit nach einem neuen Zeremoniell, aber natürlich hätte dies zuerst kommen sollen – denn das Zeremoniell in allen seinen Bedeutungen hätte die Gestaltung des Baus bestimmen sollen, wie es ja auch war, als die...


Peter Brook, geb. 1925 in London, zählt zu den bekanntesten internationalen Regisseuren. Seinen Ruf begründete er mit eigenwilligen Shakespeare-Inszenierungen und radikalen Inszenierungen zeitgenössischer Bühnenstücke und Roman-Verfilmungen, u.a. von Marguerite Duras oder William Golding. Seit 1970 lebt Peter Brook in Paris, wo mit dem International Centre for Theatre Research in den Bouffes du Nord ein international besetztes Ensemble gründete, dem er bis 2008 als Künstlerischer Leiter vorstand. Brook erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.