Brooks | Das Auto steht an der Brücke. Es tut mir leid | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 255 Seiten

Brooks Das Auto steht an der Brücke. Es tut mir leid

Ein Vater versucht, den Selbstmord seiner Tochter zu verstehen

E-Book, Deutsch, 255 Seiten

ISBN: 978-3-407-86418-5
Verlag: Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



An einem Dienstagmorgen erleben John Brooks und seine Frau den Albtraum aller Eltern: Das eigene Kind stirbt. Casey beendet ihr Leben durch Suizid. Auf der Suche nach Antworten erzählt John Brooks von der schwierigen und dramatischen Beziehung zu seiner Tochter Casey mit einer solchen Offenheit und Ehrlichkeit, dass man sich seiner Geschichte keine Sekunde lang entziehen kann. Gab es Anzeichen, die John Brooks und seine Frau hätten erkennen können? Haben sie etwas falsch gemacht? Wann schlug die Teenager-Rebellion in Selbstzerstörung um? Diese Fragen verfolgen den Vater. Eindringlich erzählt er von den Wutanfällen seiner Tochter, die immer unerreichbarer wird für die Liebe der Eltern und der auch mehrere Therapeuten nicht helfen können. Erst nach ihrem Tod begreifen die Eltern, dass Casey an einer Bindungsstörung litt, die nicht behandelt worden war.

John Brooks arbeitete als Finanzexperte in der Werbe- und Medienbranche. Seit dem Tod seiner Tochter widmet er sich ganz dem Schreiben, u.a. auf dem Blog www.parentingandattachment.com. Für sein Buch wurde er 2015 von der Independent Book Publisher's Association ausgezeichnet.
Brooks Das Auto steht an der Brücke. Es tut mir leid jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Drei
Im Juli 1991 quetschte ich meine eins achtundachtzig in einen etwas schmutzigen roten Nissan, mit dem wir zu eben jenem Waisenhaus fuhren. Zu dieser Zeit herrschte in Polen eine Hitzewelle. In dem Nissan gab es keine Klimaanlage und nicht einmal Sicherheitsgurte. Ganz zu schweigen von Beinfreiheit. Erika saß neben mir, schweißbedeckt wegen der drückenden Hitze. Renata, unsere polnische Anwältin, die wir für die Adoption engagiert hatten, saß vorn auf dem Beifahrersitz. Sie war Anfang oder Mitte vierzig, wirkte aber wegen der dunklen Ringe um ihre Augen ein wenig älter. Trotzdem war sie immer noch eine attraktive, schlanke Frau mit dunkelblonden, schulterlangen Haaren. Marian, ihr Mann, saß am Steuer. Er schien als eine Art Mädchen für alles zu fungieren?: Fahrer, Bürovorsteher, Anwaltsgehilfe. Wegen seiner drahtigen Statur und seines kantigen Gesichts erinnerte er mich an typische Anwaltsdarsteller aus amerikanischen Fernsehserien der Achtzigerjahre. Er war früher sogar Richter gewesen, aber diese Laufbahn hatte er aufgegeben, als Renatas Familienrechtspraxis mit ihrem Schwerpunkt auf Adoptionen sich als ausgesprochen lukrativ erwies. Pro Fall konnte sie bis zu 15 000 Dollar Honorar verdienen, während sich Marians Richtergehalt auf umgerechnet 150 Dollar im Monat belief. Trotz unserer spürbaren Anspannung waren beide ausgesprochen freundlich, entspannt und verhielten sich absolut professionell. Offenbar waren sie gewöhnt an den häufigen Umgang mit zukünftigen Adoptiveltern aus dem Westen, die unter Jetlag und Nervosität litten. Vorangegangen war eine Geschichte, die so oder so ähnlich vielen Paaren passiert. Rund zwei Jahre lang hatten wir mit aufwendigen Fruchtbarkeitstests, Hormonspritzen und genau auf den Eisprung getimtem Sex experimentiert, bis Erika und ich uns eingestehen mussten, dass uns ein eigenes Kind aller Voraussicht nach verwehrt bleiben würde. Wie wäre es also mit einer Adoption?? An einem eiskalten Januarabend gingen wir zu einer Informationsveranstaltung im Gemeindehaus der Unitarier ganz in der Nähe unseres damaligen Hauses in Simsbury im Bundesstaat Connecticut. Die Veranstaltung war für Paare mit Problemen wegen Unfruchtbarkeit, die nach Alternativen suchten. Wir hofften beide auf eine schnelle Lösung, aber die Realität sah etwas anders aus. So erfuhren wir, dass die Wartelisten für eine normale Adoption durch eine Agentur in den USA so lang waren, dass man sich auf ungefähr zehn Jahre einstellen musste. Die andere Möglichkeit, eine Adoption unabhängig von einer Agentur durch einen Anwalt zu arrangieren, war nicht nur teuer, sondern auch mit dem Risiko verbunden, dass die leibliche Mutter es sich schließlich doch noch anders überlegte. Als weitere Alternative kam die Adoption eines ausländischen Kindes infrage, insbesondere wenn man bereit war, ein etwas älteres oder schwer erziehbares oder leicht behindertes Kind in Betracht zu ziehen?; aber auch das war nicht ohne Risiken. So konnte man nie genau vorhersagen, wann und für wie lange sich ein »Adoptionsfenster« öffnete und wieder schloss. Das hing manchmal von den politischen Umständen ab oder von der gerade herrschenden öffentlichen Meinung. Der gesamte Adoptionsprozess konnte leicht ein Jahr oder mehr in Anspruch nehmen und man musste damit rechnen, dass ein Kind, das man bereits ins Herz geschlossen hatte, am Ende doch im Waisenhaus bleiben musste. Außerdem beschränkte sich die Herkunftsliste auf vereinzelte Länder in Fernost, der Dritten Welt, dem ehemals kommunistischen Europa sowie Kolumbien, Guatemala und Äthiopien. Nach dem Ende der Veranstaltung begaben wir uns beide ziemlich niedergeschlagen in Richtung Ausgang. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits das typische Leben von Kinderlosen, die sich ersatzweise hauptsächlich um ihre Karriere und irgendwelche Nichten oder Neffen kümmern, ansonsten ihre Hobbys pflegen, Hunde oder Katzen halten oder eine Reise nach der anderen unternehmen. Auf dem Weg fiel mein Blick zufällig auf die Broschüre einer gemeinnützigen Organisation – ein Wort sprang mir sofort ins Auge?: »Polen« stand da auf der Liste der Partnerländer. Erikas Familie stammte aus Polen. Vielleicht war das unsere Chance. Der Kontakt zu Renata hatte sich eher zufällig über die Adoptionsagentur in Connecticut ergeben, bei der wir registriert waren. Ein Paar aus New Haven, die Klienten von Renata waren, hatte erst kürzlich ein zwei Jahre altes Mädchen aus Polen adoptiert. Renata war keineswegs sofort bereit, uns als Klienten anzunehmen. Zum einen hatte sie bereits sehr viele Fälle zu bearbeiten, zum anderen rechnete sie bei gleich zwei amerikanischen Anwärtern mit einigem Widerstand der Behörden. Den Polen war sehr daran gelegen, polnische Waisenkinder in polnische Familien zu geben. Allerdings übertraf in diesem konservativen, katholisch geprägten Land die Zahl der Waisenkinder die der aufnahmebereiten Adoptiveltern um einiges. Zwei amerikanische Eltern waren also besser als gar keine Adoptiveltern. Erika verfolgte die Sache beharrlich. In langen nächtlichen Telefongesprächen erzählte sie Renata von der Jugend ihrer Eltern im besetzten Polen. Sie waren Teenager, besuchten das Gymnasium und hatten große Zukunftspläne, als die Nazis – und anschließend die Russen – ihr Land besetzten. Geschützlärm und die Allgegenwart bewaffneter Soldaten wurden alltäglich. Man musste sich daran gewöhnen, selbst wegen banaler Dinge wie des Überquerens der Straße, um beim Metzger einkaufen zu gehen, mit Soldaten zu verhandeln, die oft rein willkürlich entschieden. Ein Bruder aus den Familien verschwand zunächst spurlos und tauchte dann in England wieder auf. In gebrochenem Polnisch fasste Erika das Schicksal ihrer Familie folgendermaßen zusammen?: »Meine Eltern mussten zusehen, wie ihr Land von Deutschen und Russen aufgeteilt wurde. Sie ergriffen die erste sich bietende Gelegenheit, um mit dem Schiff nach Amerika zu fahren. Dort ließen sie sich in Detroit nieder, wo mein Vater ein gutes Auskommen fand, indem er Werbezeit bei Radiosendern verkaufte.« Vielleicht war Renata von dieser Familiengeschichte beeindruckt oder von der Art und Weise, wie Erika sich bemühte, die schwierige polnische Sprache zu meistern. Ihre Eltern hatten stets darauf bestanden, dass sie diese Sprache schon als Kind lernte, statt sich mit dem einfacheren Englisch zu begnügen. Schließlich spielte Erika unsere Trumpfkarte aus – darauf hatten wir uns verständigt, falls uns das ermöglichte, schneller an eine Adoption zu kommen und damit die jahrelange Wartefrist abzukürzen, mit der ansonsten zu rechnen war. »Wir wären auch bereit, ein Problemkind anzunehmen.« Renata überlegte eine Weile, dann erzählte sie uns von der kleinen Joanna im Dom Dziecka in Mragowo, damals ein zehn Monate altes Baby. Sie war ein Frühchen und noch kaum entwickelt. Ärztliche Unterlagen gab es so gut wie keine, aber Joanna war zur Adoption frei. Wir konnten unser Glück kaum fassen?: ein erst zehn Monate altes Kind aus Polen, das verhältnismäßig rasch adoptiert werden konnte?! Kaum vier Monate später waren wir unterwegs nach Mragowo. Während wir durch eine ländliche Gegend fuhren, unterhielten sich Erika und Renata auf Polnisch. Ich konnte nichts verstehen, aber die Stimmung und der Ton wirkten sehr entspannt?; was schon mal ein gutes Zeichen war. Seit unserer Ankunft in Warschau drei Tage zuvor war ich in Gesprächen völlig darauf angewiesen, aus Mimik und Tonfall meine Schlüsse zu ziehen. Dieser Sprache konnte ich kein einziges vertrautes Wort ablauschen. Inzwischen waren wir drei Stunden unterwegs, seit Renata und ihr Mann uns in unserem Hotel in Warschau abgeholt hatten. Zu der schier unerträglichen Hitze kam noch hinzu, dass Renata und Marian pausenlos Gauloises ohne Filter rauchten. Wie eine dicke Wolke hing der stinkende Zigarettenrauch im Wagen und stach mir in die Nase und in die Augen, hing in den Haaren und Kleidern. Ich spürte, wie ich langsam Kopfweh bekam, wagte es aber nicht, die beiden zu bitten, im Auto mit dem Rauchen aufzuhören. Um keinen Preis wollte ich sie vor den Kopf stoßen. Als ob eine Bitte um Rücksicht unser sorgfältig vorbereitetes Vorhaben noch hätte kippen können. Stattdessen kurbelte ich mein Fenster herunter und ließ mir den heißen Fahrtwind um die Nase wehen. Draußen schien der Asphalt unter der gleißenden Sonne zu schmelzen. Die Reifen der Autos und vor allem der Lkws hinterließen Abdrücke auf der klebrigen Oberfläche. Ein grünes Straßenschild schoss vorbei – E 77, die polnische Version eines Highways?: eine zweispurige Landstraße mit jeweils einem schmalen...


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.