E-Book, Deutsch, 159 Seiten
Bruck Das barfüßige Mädchen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3177-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Erinnerungen einer Überlebenden - eine Liebeserklärung an das Leben
E-Book, Deutsch, 159 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3177-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das berührende Memoir und die einzigartige Biographie einer Shoah-Überlebenden, die sich bis heute gegen das Vergessen engagiert.
Als junges Mädchen läuft sie unbeschwert durch die staubigen Gassen des kleinen ungarischen Dorfes, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Bis sie eines Tages nach Auschwitz deportiert wird. Edith Bruck, eine der letzten Überlebenden der Shoah, blickt zurück auf ihre eigene Geschichte. Sie erzählt, wie sie nach der Erfahrung absoluter Grausamkeit und Unmenschlichkeit zurück ins Leben findet, wie sie sich in Israel fremd fühlt, sich einer Tanztruppe anschließt und schließlich in Italien niederlässt, wo sie eine neue Sprache lernt, auf der sie bis heute schreibt. Ihre Worte zeugen von großer Stärke und Klarheit: Eindringlich schildert sie ihr Hadern mit Gott, ihr Festhalten an Vergebung und ihr vehementes Eintreten gegen das Vergessen.
'Edith Bruck ist eine außergewöhnliche Schriftstellerin. Intensiv wie wenige.' La Repubblica
Edith Bruck, 1931 in Ungarn geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung in Bergen-Belsen emigrierte sie zunächst nach Israel. Seit 1954 lebt sie in Rom, wo sie als Schriftstellerin, Journalistin, Drehbuchautorin und Übersetzerin arbeitet. Für ihr vielfältiges Werk wurden ihr zahlreiche Auszeichnungen verliehen, 2021 erhielt sie das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 'Das barfüßige Mädchen' war für den renommierten Premio Strega 2021 nominiert.
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Das barfüßige Mädchen
Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein Mädchen, das mit wippenden blonden Zöpfen im Frühling barfuß durch den sonnenwarmen Staub lief. In der Gasse des Dorfes, in dem es lebte, die Sechs Häuser hieß, grüßten die Kleine einige und andere nicht. Manchmal blieb sie stehen und schlüpfte heimlich in den Keller zu Juja, die oft dort unten weggesperrt und festgebunden war. Man sagte, Juja sei verrückt, dabei schien sie genau wie die anderen jungen Frauen zu sein, und voll Mitgefühl lauschte das Mädchen ihren Klagen über die böse Familie, die ihr verboten hatte, ihren geliebten Elek zu heiraten.
Das Mädchen hätte sie gerne gestreichelt, obwohl sie schmutzig war, doch als es sich einmal ängstlich näher wagte, riss Juja ihm eine rote Zopfschleife herunter, und ehe sie auch die zweite fortreißen konnte, stob es davon, ganz bang, von der Mutter oder der großen Schwester Judit, die sich gern als Vizemutter aufspielte, ausgeschimpft zu werden.
Die ältesten Schwestern waren in der Hauptstadt und machten eine Schneiderlehre, der große Bruder war in einer kleineren Stadt. Zu Hause lebten noch ein blässlicher älterer Bruder und sie, die Kleinste von sechs lebenden Geschwistern, oft Krätzchen genannt, wie die Reste des Teiges, den die Mutter vom Boden des Backtrogs kratzte.
»Krätzchen, halt den Mund«, bekam sie oft zu hören, sobald sie zu viel verstand, und nicht Ditke, ihren Kosenamen.
Wenn sie durchs Dorf rannte, hetzten schnauzbärtige Bauern ihr manchmal die Hunde nach, und bestürmte sie ihre Mutter mit zu vielen »Warum?«, hob die allenfalls den veilchenblauen Blick zum Himmel und sagte: »Frag Ihn und danke Ihm, dass ein weiterer Winter vorüber ist und das feuchte Holz im Ofen nicht mehr weint.«
»Und die Schleife, wo ist die Schleife?!«, zeterte die Mutter entsetzt, als Ditke nach Hause kam.
»Die habe ich verloren.« Sie konnte die Wahrheit nicht sagen, denn hätte die Mutter herausgefunden, dass sie die verrückte Juja besucht hatte, hätte sie ihr sofort eine Ohrfeige verpasst oder sie ohne Abendbrot ins Bett geschickt, weil sie wusste, dass diese letzte rotznäsige Tochter, die sie auf die Welt geschissen hatte (so drückte sie sich aus, wenn sie fuchsig war), eine Schwäche für Idioten hatte, für Greise, die bei der ersten Sonne stumm auf der Straße hockten, oder für sabbernde Stotterer, die sie zu verstehen versuchte. Sie besaß eine ungesunde Neugier, aber die Mutter musste anerkennen, dass sie die Beste in der Schule war, trotz der Rassengesetze, die das Dorf nicht vollständig umsetzte. Obwohl man sie in die hinterste Schulbank verbannt hatte, bekamen die drei jüdischen Mädchen die Gesetze nicht mit der gleichen Härte zu spüren wie die Schulkinder in den Städten. Die kleine Ditke saß neben ihren zwei Glaubensgenossinnen: Piri, Tochter der Krämerin Roth, und Eva, Tochter des Gewürzhändlers Reisman, dazwischen sie, Tochter von Stein Schreiber, der in Ermangelung einer besseren Arbeit anderer Leute Vieh auf den Markt der nächstgelegenen Stadt brachte, um es dort für mageren Lohn zu verkaufen.
Piri schaute sie schief an, weil sie so arm war wegen dieses Vaters. Im Gegensatz zu ihrem mit Bart und Locken, sah Ditkes Vater aus wie ein Goi und ließ sich nur selten in der kleinen Synagoge blicken. Eva dagegen, die zwölfte Tochter eines orthodoxen Vaters, war eine Freundin. Aber alle waren neidisch, als Ditke für einen Aufsatz über den Frühling als Einzige der Klasse einen Preis bekam und fast platzte vor Freude. An dem Tag ging sie nicht, sie flog nach Hause und schwenkte ihren Preis, eine bunte Postkarte mit einer Schwalbe und einer Widmung auf der Rückseite: »Meiner besten und verdientesten Schülerin«, unterschrieben von Tarpai, Klara, der Lehrerin. »Mama!«, jauchzte sie auf der Straße. Die Leute streckten die Köpfe heraus, nur ihre Eltern schienen verschwunden zu sein. Als sie zur Tür hereinkam, sah sie Mutter und Schwester im sonnigen Hof die Federn aus den Kissen rupfen.
»Was wedelst du denn so herum? Hast du keine Augen im Kopf? Halt die Pfoten still und mach nicht so einen Wind! Und heb sofort sämtliche Federn auf, die du weggeweht hast!«
»Schaut, schaut doch!« Noch immer schwenkte sie die Postkarte, wirbelte eine weitere Wolke empor und zeigte auf die Widmung.
»Hat uns noch gefehlt, dass du einen Preis kriegst! Statt zu beten, sagst du nur Gedichte auf«, knurrte die Mutter, wenn auch mit wohlwollendem Blick und einem kaum merklichen Lächeln, das ihrer strengen Miene eine zauberhafte Milde verlieh und ihre Schönheit und Jugend wiederaufscheinen ließ.
»Bekomme ich von dir auch einen Preis, Mama? Einen Kuss?«
Ein Kuss war eine rare Geste, die einzigen Anlässe waren Trauerfälle, Trennungen und Wiedersehen: Als die Mutter zur Hochzeit der zweitältesten Tochter Mirjam gefahren war, die einen geflohenen jungen Polen geheiratet hatte; als der kriegsdekorierte Vater 1942 heimgekehrt war; und als die Großmutter mütterlicherseits starb, uralt in den Augen der zwölfjährigen Ditke, die den reglosen, in ein weißes Tuch gehüllten Körper am Boden anstarrte, bis er auf zwei Brettern fortgetragen wurde, zum kleinen Friedhof hinter Evas Haus. Weder Evas noch Piris Vater waren gekommen, denn sie waren Kohanim. Betrübt ging Ditke in Gedanken die Namen der jüdischen Familien des Dorfes durch: Szàmeth, die beiden Familien Grosz, Kràmer, Klein, Printz, Weisz, zweimal Reisman, Ròth und Bieber, der Bruder ihrer Mutter. Nur die drei Männer ohne Bart und Locken waren gekommen.
»Sind die mit Bart und Locken was Besseres, Papa?«, fragte Ditke ihren Vater.
»Sie sind wie Priester. Sie meditieren, studieren, sind Kohanim und zeugen Dutzende Kinder«, flüsterte er.
»Und haben nicht mal deren Namen im Kopf«, zischte die Mutter.
»Ihr sollt nicht streiten«, ging Ditke dazwischen, drückte die warme, weiche mütterliche Hand und versuchte, aus dem rituellen Gebet, das soeben begonnen hatte, schlau zu werden.
»Möge Sein großer Name für immer gelobt und geheiligt sein auf der Welt, die er nach Seinem Willen erschaffen hat. Möge Er Sein Reich in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel errichten …«
Als der Name Israels fiel, brach ihre Mutter, die bis dahin keine Träne vergossen hatte, in Schluchzen aus, das der Himmel unmöglich überhören konnte. Der Vater drückte sie so fest an sich wie noch nie und sagte immer wieder ihren Namen, Frida, Friduska (ihr hebräischer Name war Deborah). Und in einem seltsamen, ungewohnten Moment des geeinten Glücks klammerten sich die drei Kinder an ihre Eltern: Judit, die Gläubigste, Jonas, der Blasseste, und die kleine Ditke. Die drei älteren, Sara, Mirjam und David, kehrten nur selten nach Hause zurück.
Nach der einwöchigen Trauerzeit, die sie, vor allem von Judit umsorgt, hockend auf dem Boden verbracht hatte, richtete sich die Mutter voller Schmerzen auf. Statt sich die Beine zu vertreten und die Glieder zu strecken, starrte sie auf den ewigen Morgenrock der Großmutter, den sie nie hatte waschen dürfen. Sie nahm ihn in die zitternden Hände und rief die Kinder zu sich, ohne den Blick von einer der beiden Taschen, die zugenäht war, zu nehmen, als enthielte sie etwas Hässliches oder Heiliges oder gar einen geheimen Schatz.
Ganz behutsam, die Brille auf der Nase, trennte sie die dunkle Naht auf, dunkel wie das Kleidungsstück, in dem die immer kleiner werdende Gestalt der Großmutter versunken war. Der Faden löste sich rasch, und mit angehaltenem Atem wollten alle sehen, was in der Tasche war.
Die Mutter steckte ihre Hand nicht ohne Furcht hinein. Beim Anblick der vielen Geldscheine stieß sie einen ungläubigen Seufzer aus. Den Kindern blieb der Mund offen stehen, und als zudem die beiden goldenen Eheringe und eine Halskette mit dem Davidstern zum Vorschein kamen, brachen sie in Freudenschreie aus, während der Mutter Tränen in die Augen schossen.
»Damit«, sie hob die Faust, die noch immer die Gegenstände umklammerte, »bauen wir uns ein neues Haus, bevor diese alte Bruchbude über uns einstürzt. Es ist zwar nicht die richtige Zeit zu bauen, aber euer Onkel Berti, mein lieber Bruder, nimmt uns bestimmt so lange in seinem großen Haus auf, im vornehmen Viertel, gleich beim Rathaus und ...




