E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Bruyn Vierzig Jahre
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403179-8
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Lebensbericht
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-10-403179-8
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«, die autobiographischen Bände »Zwischenbilanz« und »Vierzig Jahre« sowie die Romane »Buridans Esel« und »Neue Herrlichkeit«. Zuletzt erschien bei S. Fischer der Titel »Der neunzigste Geburtstag« (2018). Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow. Literaturpreise: Heinrich-Mann-Preis (1964) Lion-Feuchtwanger-Preis (1982) Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie (1987) Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1989) Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1990) Ehrendoktor der Universität Freiburg (1990) Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste (1993) Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1996) Brandenburgischer Literaturpreis (1996) Jean-Paul-Preis (1997) Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, Berlin (1998) Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (2000) Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (2000) Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (2002) Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2006) Hanns Martin Schleyer-Preis (2007) Hoffmann-von-Fallersleben-Preis (2008) Preis für deutsche und europäische Verständigung der Deutschen Gesellschaft e.V. (2010) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2011)
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FLUCHTHILFE
Sollte der Staatssicherheitsdienst schon in seinen Kinderjahren so registrierwütig gewesen sein wie im Mannesalter, müßte mein Name 1952 in Maras Akten gestanden haben – als der ihres Ausbilders und Fluchthelfers, vielleicht auch als der ihres Liebhabers; denn mit der Vermutung »intimer Beziehungen« war man dort schnell bei der Hand.
In diesem Fall wäre das voreilig gewesen. Denn wenn auch Ansätze dazu vorhanden waren, so konnten sie doch nicht zur Reife gelangen, weil Ohnmachtsanfälle, Verwandte verschiedenen Grades und auch Geheimpolizisten dazwischenkamen – und damit das Schema vorgaben, das für mein Leben in DDR-Zeiten typisch war: Wie privat auch immer die Liebes- und Freundschaftsverhältnisse waren, irgendwann kamen sie doch mit politischer Macht in Konflikt.
Ich war 25 damals, Mara, die Praktikantin, vier oder fünf Jahre jünger, und der Staat, der auf sie ein wachsames Auge hatte, noch keine drei Jahre alt. Ort der Handlung war Berlins sowjetischer Sektor, der Ostsektor genannt wurde, aber Demokratischer Sektor genannt werden sollte, und der zwar praktisch, nicht aber offiziell, zur DDR gehörte, wohl aber deren Hauptstadt war. An den östlichen Stadtgrenzen gab es Kontrollpunkte mit Schlagbäumen, wo Passanten die Ausweise vorzeigen mußten; um aus der DDR nach Ost-Berlin überzusiedeln, war eine schwer erreichbare Zuzugsgenehmigung nötig, und mit Löhnen und Lebensmittelrationen war man in der Stadt besser dran als im Staat. Im Stadtbezirk Köpenick, wo ich ein möbliertes Zimmer ohne Wasserleitung und Heizung bewohnte, hatte ich nach dem vorzeitig abgelegten Examen Arbeit gefunden. Im Köpenicker Rathaus, das ein halbes Jahrhundert zuvor ein falscher Hauptmann weltberühmt gemacht hatte, war mein erster Anstellungsvertrag unterzeichnet worden, wobei der Personalchef, genannt Kaderleiter, ein einarmiger Alt-Genosse nicht mich, sondern seine Vorgesetzten mit den Worten beschimpft hatte: Schon wieder schicken sie mir einen Parteilosen, der auch noch in amerikanischer Gefangenschaft war. Solche nämlich galten als Risikofaktor und durften nur an untergeordneter Stelle beschäftigt werden. Es wurden aber leitende Genossen gebraucht.
Die Kleinstbibliothek, die ich ins Leben zu rufen hatte, sollte im bevölkerungsreichsten und häßlichsten Teil des Bezirks, in Oberschöneweide, stationiert werden, in einer parallel zur Spree verlaufenden lauten Straße, die nicht nur von Autos und Straßenbahnen, sondern auch von Güterzügen befahren wurde. Auf ihrer der Spree zugewandten Seite standen ausschließlich Fabrikgebäude, die Walther Rathenaus AEG Anfang der zwanziger Jahre gebaut hatte. In den Wohnhäusern gegenüber hatten in vorsozialistischen Zeiten Ladenbesitzer und Kneipenwirte ihr Auskommen gefunden, jetzt aber, da man private Geschäfte verbot oder unmöglich machte, waren die meisten Gewerberäume verwaist. Eine Eckkneipe sollte als Bibliothek ausgebaut werden. Aber des Materialmangels wegen verzögerte sich die Fertigstellung, und die Bibliothek, die ich vorfand, bestand vorläufig nur aus einem verstaubten Bücherhaufen, der in Alt-Köpenick in der Feuerwache gestapelt war. Monatelang (mit Unterbrechungen freilich, da das Bezirksamt mich tagelang auch als Austräger politischer Aufrufe und Erfasser von Kleinviehbeständen beschäftigte) saß ich hier einsam in einer Kammer am Fenster, von dem aus man auf die Müggelspree sehen konnte, schrieb Zugangslisten und Katalogkarten, drückte auf die Rückseiten der Titelblätter den Eigentumsstempel, überstempelte alte Stempel mit dem Stempel »Ungültig« und las mich in den mir meist unbekannten Werken immer wieder fest. Aus Prag waren diese alten Bestände, ich weiß nicht, warum und auf welchen Wegen, im Krieg oder Nachkrieg in die Köpenicker Feuerwache geraten und sollten nun der Volksbüchereizweigstelle als Grundstock dienen, wozu sie aber nur teilweise geeignet waren; entweder waren sie zu alt und zu wertvoll, um ausgeliehen zu werden, oder zu überholt oder zu speziell. Mit Bedauern legte ich die mit Kupfer- und Stahlstichen versehenen naturwissenschaftlichen Werke, die Ranke-, Treitschke-, Kant-, Fichte- und Heidegger-Ausgaben auf den zur Überstellung an wissenschaftliche Bibliotheken bestimmten Stapel und behielt für die Zweigstelle des Arbeiterviertels vor allem Romane, Biographien und Reisebeschreibungen zurück.
Es war eine schöne, aber leider vergebliche Arbeit. Denn als ich mit meinen Büchern die Feuerwache verlassen und in die Eckkneipe in der Wilhelminenhofstraße umziehen konnte, stellte mein Chef, ein gutmütiger, ruhiger, resigniert wirkender Genosse, Parteilichkeitsmängel in der Bestandspolitik fest. Besonders meine Romanbestände, die meist aus den zwanziger Jahren stammten, würden, so meinte er, Ärger erregen, weil sie zu viele reaktionäre, dekadente und pazifistische Werke enthielten, die zwar nicht ausdrücklich verboten seien, aber für die Erziehung der Werktätigen doch unerwünscht. Er begann sofort auszusondern, und da seine Angst vor politischen Fehlern größer war als sein literarisches Wissen, flog auch manches raus, was ihm nur deshalb gefährlich dünkte, weil es ihm unbekannt war.
Die schmale Kammer neben der Theke, die als Garderobe und Kaffeeküche diente, füllte sich also bald mit Erstausgaben von Musil und Döblin, Remarque und Glaeser, mit frühen sowjetischen Romanen, mit alten Ausgaben von Marx und Lenin, die einen in Ungnade gefallenen Herausgeber hatten, mit Claudel, Cocteau, Proust und Gide. Als bekannt wurde, daß diese Ausschußware nicht in wissenschaftliche Bibliotheken, sondern in die Papiermühle geschafft werden sollte, verschwand erst der den ich damals noch nicht zu schätzen wußte, nach dem aber Freund H. dringend verlangte, und dann der dreibändige, in schwarzes Leinen gebundene dessen Vorzüge ich beim Katalogisieren in der Feuerwache entdeckt hatte und der noch heute bei mir immer in Reichweite steht.
So gesetzwidrig wurde noch manches Kulturgut vor der Vernichtung gerettet, in größerem Umfang von Mara, der Praktikantin, die täglich zum Tode verurteilte Bücher in großen Taschen nach Hause schleppte und traurig wurde, als der Henkerskarren von der Papierfabrik kam. Da wir später alle von ihr sichergestellten Bücher von der Polizei wieder zurückerhielten, weiß ich, daß sie keine besonderen Vorlieben hatte, vielmehr Bücher als solche besitzen wollte, ob die nun von Plechanow waren, von Sombart, Emil Ludwig oder Crevel.
Sie war nicht besonders belesen. In den zwei bis drei Praktikanten-Monaten, in denen sie die Bibliothek durcheinanderbrachte, quälte sie sich durch den den ihr irgend jemand mit der Bemerkung empfohlen hatte, sie Außenseiterin würde sich selbst darin wiederfinden; aber so sehr sie auch danach suchte, sie fand sich nicht.
Sie war Außenseiterin wider Willen, ständig darum bemüht, den anderen zu gleichen, doch hob schon der Eifer, mit dem sie Normalität zeigen wollte, sie aus dieser heraus. Ihr mit russischen Lauten vermischtes Deutsch wäre weniger auffallend gewesen, hätte sie nicht versucht, berlinisch zu reden. Bücher wollte sie haben, weil andere sie hatten. Weil ihre Mitschüler FDJler waren, mußte auch sie das Blauhemd tragen, und da sie es häufiger trug als vorgeschrieben, wurde ihr ein Amt angetragen, in dem sie sich unbeliebt machte durch übertriebenen Elan. Den für Bibliotheksarbeit nötigen Ordnungssinn, den sie nicht hatte, versuchte sie zu erzwingen, bekam Zornausbrüche, bei denen sie sich das sowieso immer wirre Haar raufte, und da sie auch Schwierigkeiten mit dem Alphabet hatte, richtete sie oft Wirrwarr an. Auch pünktlich zu sein war ihr nicht gegeben. Entweder stand sie rauchend und frierend schon eine halbe Stunde zu früh vor verschlossenen Türen, oder sie kam, schwer atmend, mit schiefgeknöpftem Mantel, eine Stunde zu spät. Erfinderisch war sie in Ausreden. Neben den üblichen Verkehrsmittelstörungen und Weckerdefekten kamen in ihren detailreichen Schilderungen sämtliche Katastrophen, von Wasserrohrbrüchen und Toilettenverstopfungen bis zu gestohlenen Lebensmittelkarten und verlorenen Hausschlüsseln vor.
Ob es wirklich das Herz war, das ihre Ohnmachtsanfälle erzeugte, haben die Ärzte damals nicht klären können. Ich vermutete psychosomatische Ursachen, die mit dem ständigen Zwang, den sie sich auferlegte, zusammenhingen. Die Anfälle kamen stets überraschend. Lautlos sank sie zwischen den Regalen zu Boden und lag wie tot. Während ich nach dem Notarzt telefonierte, die brennende Zigarette, die auf dem Thekenrand lag, unschädlich machte und die am Boden verstreuten Katalogzettel zusammensuchte, brachte die Bibliothekshelferin die Leblose in Rückenlage, öffnete das Blauhemd oder die Bluse und legte ihr einen nassen Lappen auf die knochige Brust. Sie machte das mißmutig, denn sie konnte Mara nicht leiden und hielt die Anfälle für simuliert.
Das Ende der Bewußtlosigkeit war von schnaufenden Atemzügen begleitet. Sie lächelte verlegen, flehte mich an, sie nicht ins Krankenhaus befördern zu lassen, und blickte sich suchend nach der angerauchten Zigarette um. Die Notärzte ließen sich immer von ihr bereden, es mit Spritzen oder Tropfen genug sein zu lassen. Als aber einmal die Feuerwehr kam, die gleich eine Trage mitbrachte, berief man sich auf die Dienstvorschriften, die auch die Begleitung durch einen Angehörigen verlangten, und fuhr sie zur Unfallstation. Auf der Fahrt mußte sie liegen, ich saß ihr zu Häupten, im Wartezimmer der Klinik an ihrer Seite und mußte sie auch bis ins Krankenzimmer begleiten; denn man ließ sie so schnell nicht mehr...




