E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Buch Stillleben mit Totenkopf
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-627-02262-4
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-627-02262-4
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, ist Erzähler, Essayist und Reporter und lebt in Berlin. Er ist der große Reisende unter Deutschlands Schriftstellern. Im Mittelpunkt von Buchs zahlreichen Veröffentlichungen steht eine Romantrilogie über Haiti, wo sein Großvater sich vor über hundert Jahren als Apotheker niederließ, sowie Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten. In der FVA erschienen die Novelle 'Tod in Habana' (2007) sowie die Romane 'Reise um die Welt in acht Nächten' (2009), 'Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod' (2013), 'Elf Arten, das Eis zu brechen' (2016) und der Essayband 'Boat People - Literatur als Geisterschiff' (2014).
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ICH HABE IHN GELIEBT
James Agee
Ich hatte mir vorgenommen, nie zu vergessen, wie mir zumute war, als ich mit roten Ohren Hauffs Märchen las, besonders der an den Mastbaum genagelte Kapitän des Gespensterschiffs jagte mir Angst ein oder die in Glasbehältern pochenden Herzen in der Geschichte vom Kalten Herz, nicht zu vergessen Gepäckschein 666 und Die Jungen der Paulstraße, Kidnapped von Robert Louis Stevenson, Der Schatz im Silbersee und andere Karl-May-Romane, die mein Blut in Wallung brachten: Zepter und Hammer Auf fremden Pfaden Der Waldschwarze Aus dunklem Tann. Die Helden meiner frühen Jahre hießen Akim und Sigurd, aber auch Jan Bock und Peter Prinz, keine gleichaltrigen, sondern ältere Freunde, zu denen ich aufblickte, weil sie ferne Länder gesehen und Dinge erlebt hatten, von denen ich nur träumte: Jan Bock war als Schiffsjunge nach New York gesegelt und brachte winzige Schwarzweißfotos mit vom Empire State Building Times Square Fifth Avenue, die ich in ein mit Ostseemuscheln verziertes Fotoalbum klebte, in Belém am Amazonasdelta besuchte er den Ver-o-peso-Markt und hatte Sex mit einer Prostituierten, die kein Geld von ihm verlangte, und Peter Prinz war Goldschmied von Beruf, lebte in einer Gartenhütte, malte und musizierte auf der Bassklarinette und einem selbstgebauten Sopransaxophon. Ganz zu schweigen von Hanno Schütt, Europameister über 400 Meter, der auf der Schulbank neben mir saß – aber ich will die Geschichte von Anfang an erzählen.
Ja, ich habe ihn geliebt, ich habe Hanno geliebt, nicht körperlich, obwohl auch bei Männerfreundschaften physische Anziehung eine Rolle spielt, sondern geistig und emotional, aber das stimmt so nicht ganz, die Arbeitsteilung funktionierte anders, denn während Hanno in der Unter- und Obersekunda, Unter- und Oberprima auf der Schulbank neben mir saß, zitternd wie ein Rennpferd, dessen nervöses Zucken sich auf Tische und Bänke übertrug, weil er früh am Morgen schon zwei Stunden Lauftraining im Godesberger Stadtwald hinter sich hatte, Leichtathletik mit Lockerungsübungen, Kniebeugen und Liegestütz, während Hanno also mit bebenden Muskeln neben mir saß, in Schweiß gebadet, der süß und nicht sauer roch, erledigte ich die Hausaufgaben für ihn, schrieb Deutschaufsätze, übersetzte Caesar Tacitus Horaz Vergil, und er schob mir Spickzettel mit algebraischen Gleichungen zu, vor denen ich ratlos stand wie der Ochs vorm Berg – das war die Arbeitsteilung zwischen uns. Ich fühlte mich körperlich zu ihm hingezogen, während Hanno meinen Geist bewunderte und, lange bevor ich mein erstes Buch veröffentlichte, ein Vorbild in mir sah. Er las Bücher, die ich ihm empfahl, doch ich bin mir nicht sicher, ob er sie wirklich gelesen hat, zumindest kaufte er alles, was ich ihm anpries, Kafkas Prozess, Brechts Geschichten vom Herrn Keuner, Rilkes Malte Laurids Brigge und, man höre und staune, das Gesamtwerk von Freud, das nach Hannos Tod in meinen Besitz überging. Auch die Marx-Engels-Auswahl des Dietz Verlags, zwei blaue Bände, gehörten zum Grundbestand seiner Bibliothek, wenn man eine mit Büchern und Platten gefüllte Schrankwand so nennen will, Erich Kästners Gedichte und Leni Riefenstahls Fotos von der Olympiade 1936, an der sein Trainer Schlund als Zehnkämpfer teilgenommen hatte – oder war er Speerwerfer gewesen?
Hanno war Leichtathlet, 180 cm groß und nur 67 Kilo schwer, wie Wikipedia schreibt, als er 1962 als Mitglied der 4×400-Meter-Staffel die Europameisterschaft gewann mit Kindermann als Schlussläufer, zwei Jahre später bei der Olympiade in Tokio reichte es nur zum dritten Platz, weil Stasi-Funktionäre den DDR-Sportlern gemeinsames Training mit Sprintern aus der BRD verboten, so dass sie die Stabübergabe heimlich üben mussten, es war der letzte Auftritt einer gesamtdeutschen Staffel, danach gingen DDR und BRD mit getrennten Mannschaften an den Start. Doch der Flaggenstreit um das Hissen der »Spalterfahne« mit Hammer und Zirkel oder das Absingen der von Johannes R. Becher gedichteten DDR-Hymne wurde erst Jahre später beigelegt, als die Entspannungspolitik und später die Maueröffnung die Folgen der Teilung überwanden. Damals reiste Hanno, zwanzig Jahre nach dem Ende seiner Karriere als Leistungssportler, laborierend an den Nachwirkungen eines Autounfalls, den nicht er verursacht hatte, nach Berlin und reihte sich unter die Mauerspechte ein, die den Beton in Stücke zerlegten und in Asbestwolken gehüllt, Freudentänze auf der Mauer vollführten. WIR SIND DAS VOLK, nein: WIR SIND EIN VOLK, der Mauerfall brachte seine eigene Poesie hervor, dass ich das noch erleben darf, WAHNSINN, und im Freudentaumel verlor Hanno Schütt, der nicht nur ein genialer Sprinter, sondern auch Hürdenläufer und Weitspringer gewesen war, das Gleichgewicht und stürzte von der Mauer am Brandenburger Tor, so wie er mehr als einmal die Kellertreppe seines Hauses in Königsdorf bei Köln heruntergefallen ist: Gleichgewichtsstörungen als Spätfolgen des Unfalls von 1970, aber zum Glück nichts gebrochen, nur Prellungen und blaue Flecken, denn Hanno hatte harte Knochen, bevor der Abbau seiner Kräfte begann, eine sich beschleunigende Spirale, die abwärts führte, immer tiefer hinab, bis das nervöse Rennpferd von einst als Invalide am Tropf hing, unfähig, sich zu bewegen, mit Magensonde künstlich ernährt, hilflos ausgeliefert Ärzten Pflegern Schwestern, mit denen er zu flirten versuchte, bis auch das nicht mehr ging und er nur noch ein Häufchen Elend war, HOLT MICH HIER RAUS, stöhnte Hanno mit vergehender Stimme, nachdem er die Verfügungsgewalt über sein Leben seiner Ex-Geliebten überschrieben hatte, einer kettenrauchenden Furie, die seine Entmündigung notariell beglaubigen ließ.
Hanno war 180 cm groß und wog gerade mal 67 Kilo, er hatte kein überflüssiges Fett am Leib, schien nur aus Muskeln, Sehnen und Knochen zu bestehen und, wie wir alle, zu siebzig Prozent aus Wasser, das er beim Training ausschwitzte und seinem Körper wieder zuführte in Form von Gerolsteiner, Fachinger und Orangensaft Marke Hohes C, der griffbereit auf der Rückbank seines Volvos lag – das Adjektiv naturtrüb stammt aus späterer Zeit, und Bierflaschen gehörten noch nicht zur Grundausstattung der jungen Generation. Hanno fuhr einen Buckelvolvo, mit dem er in fünf oder sechs Stunden von Bonn nach Lenzerheide bretterte, wo seine Eltern ein Chalet besaßen, oder nach Westberlin, zeitraubende Kontrollen an der DDR-Grenze mitgerechnet, bei denen Vopos seinen Kofferraum und sein Gepäck durchwühlten und statt staatsfeindlicher Schriften nur nach Fußschweiß stinkende Socken und Adidas-Schuhe mit Spikes zutage förderten. Obwohl er sich im Zweifelsfall nicht an die Verkehrsregeln hielt, Überholverbote wie Tempolimits ignorierte und Ampeln, die auf Rot sprangen, im letzten Moment überfuhr, wurde Hanno nur selten auf frischer Tat ertappt und noch seltener zur Zahlung eines Bußgelds verurteilt oder zum Entzug des Führerscheins, weil er west- und ostdeutsche Polizisten in Gespräche verwickelte, die mit Bert Brecht begannen und bei der 400-Meter-Staffel in Tokio endeten. »Brecht schreibt, ein guter Autofahrer sollte das vor ihm fahrende Fahrzeug genauso im Auge behalten wie das hinter ihm«, sagte er, als habe der Autor der Dreigroschenoper Ratgebertexte für Autofahrer verfasst, »Sie kennen doch Bertolt Brecht – oder nicht?« Dann kam er auf die eingebaute Induktionsschleife zu sprechen, mit deren Hilfe Verkehrsampeln in Sekundenbruchteilen von Grün auf Gelb schalten oder von Gelb auf Rot, und von da auf die 4×400-Meter-Staffel bei der Olympiade in Tokio – »das Wort gesamtdeutsch hören Sie nicht gern, ich weiß, aber ich habe mit Kindermann und Reske die Staffelübergabe geübt«, und so weiter, bis Vopos und westdeutsche Polizisten ihn durchwinkten, genervt und geschmeichelt zugleich, denn Spitzensportler waren in beiden Deutschlands beliebt.
Vor mir liegt oder vielmehr steht ein Schwarzweißfoto, silbern gerahmt und von Hanno Schütt persönlich signiert, das seine Lebensgefährtin mir nach seinem Tod aus Frechen nach Berlin geschickt hat. Auf dem Foto ist er auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu sehen – nicht bei der Olympiade in Tokio, denn statt des Outfits der Olympiamannschaft trägt er ein schwarzes oder dunkelblaues Hemd mit dem Logo des ASV, dazu die damals üblichen, knapp sitzenden Turnhosen, unter denen sich die Muskeln seiner Oberschenkel abzeichnen, die rechte Hand hochgereckt mit erhobenem Zeigefinger, den linken Arm abgewinkelt und die Finger gespreizt, als erwarte er die Übergabe eines Staffelstabs, aber das stimmt so nicht, weil er nicht bloß tief durchatmet, sondern hyperventiliert, sein Mund steht offen wie bei einem aus dem Wasser gezogenen Fisch, der mühsam nach Luft japst, der Brustkorb ist gebläht und die Armmuskeln treten plastisch hervor, es scheint ein Endspurt zu sein, der Höhepunkt eines 100- oder 400-Meter-Laufs, beim Leichtathletik-Turnier in Belgrad vielleicht, wo Hanno Europameister über 400 Meter wurde und anschließend in der Klasse II A b des Beethovengymnasiums Besuch von Journalisten bekam, sein Foto wurde im abgedruckt, nein, das ist ein anderes Foto, auf dem ich feixend zwischen Erhard Ney und Gerhard Lauterkorn mit Hanno auf der Schulbank zu sehen bin.
»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, hatte der Staatsratsvorsitzende der DDR und Erste Sekretär der SED vor der versammelten Presse erklärt, als wir im Sommer 1961 eine vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen subventionierte Klassenfahrt unternahmen und unter Führung unseres Deutschlehrers, der später als NS-Täter entlarvt und aus dem Schuldienst entlassen wurde, das Brandenburger Tor durchschritten, misstrauisch...




