E-Book, Deutsch, Band 13, 284 Seiten
Buchberger / Kühberger Historisches Lernen in der Primarstufe
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7065-6150-1
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Standpunkte – Herausforderungen – Perspektiven
E-Book, Deutsch, Band 13, 284 Seiten
Reihe: Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik.
ISBN: 978-3-7065-6150-1
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historisches Lernen in der Primarstufe erreicht alle Kinder. Geschichtsdidaktische Fragestellungen sind daher ein wichtiger Beitrag zur professionellen Weiterentwicklung von Unterricht und Lehrerausbildung. Der Band versucht, aktuelle Diskursstränge zwischen Theorie, Pragmatik und Empirie sichtbar zu machen. Dazu werden Positionen der Geschichts- und Sachunterrichtsdidaktik herausgearbeitet sowie empirische Einsichten zu verschiedenen Forschungsprojekten vorgestellt.
Die Beiträge diskutieren historisches Lernen im Museum oder konzeptionelle Vorstellungen von Primarschüler_innen ebenso wie den Stellenwert des Erzählens. Es werden zudem Herausforderungen in der Ausbildung von Primarstufenlehrer_innen fokussiert sowie die Rolle von Schulbüchern bzw. schriftlichen Lernaufgaben im frühen historischen Lernen analysiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vom Nahen und Fernen – Kinder erzählen ihre Welt
Versuch einer geschichtsdidaktischen Reflexion frühen Geschichtslernens
Christian Heuer „[…] ist das Ich nichts anderes als eben das Fenster,
durch das die Welt die Welt betrachtet?“1 1. Eine andere Perspektive
Dass das frühe Geschichtslernen längst kein „Stiefkind“ der Geschichtsdidaktik, aber auch kein „Paradiesgärtlein des Geschichtsunterrichts“2 mehr ist, hat wieder Dietmar von Reeken in seiner Rezension zum jüngsten Sammelband betont.3 Mittlerweile liegen zahlreiche Arbeiten vor, die sich mit der pragmatischen Modellierung, mit der theoretischen Reflexion und seit der empirischen Wende auch verstärkt mit der empirischen Erfassung frühen historischen Lernens auseinandersetzen.4 Liest man die gegenwärtigen Arbeiten und vergleicht diese mit den Arbeiten seit den siebziger Jahren zum Geschichtslernen in der Primarstufe5, fällt auf, dass das frühe historische Lernen über diese Zeitspanne hinweg in erster Linie als propädeutische Vorstufe historischen Lernens in der weiterführenden Schule – als „Vorarbeit“6 wie es noch in der Unterrichtsmethodik und vorcurricularen Geschichtsdidaktik der sechziger und siebziger Jahre bezeichnet wurde – verhandelt wird. Geschah dies noch bis in die achtziger Jahre hinein aus einer eher pädagogischen Perspektive heraus7, so wird das frühe Geschichtslernen im Zuge der empirischen Wende der Geschichtsdidaktik und anderer Fachdidaktiken in jüngster Zeit als psychologisches Phänomen betrachtet und empirisch erfasst. Insbesondere in den jüngeren empirischen Forschungsarbeiten wird das frühe historische Lernen dabei von seinen Resultaten, vom Output und seinen Evidenzen her verstanden und gedeutet und gerade nicht von seinem Anfang her. Frühes Geschichtslernen wird hier als Verhaltensänderung und als Verständnismodifikation, als Wissens- und Kompetenzentwicklung retrospektiv modelliert und beschrieben. Es ist diese Perspektive, aus der heraus Monika Fenn die Ergebnisse der verschiedenen empirischen Projekte zum frühen historischen Lernen zusammenfasst, wenn sie schreibt, dass „Primarstufenschülerinnen und -schüler in der Lage sind, historisch zu denken und auf der Metaebene über Vergangenheit, Geschichte und theoretische Erkenntnisprozesse im Fach zu reflektieren.“8 Der Beginn und der Vollzug des frühen Geschichtslernens selbst, die Bildsamkeit frühen Geschichtslernens und die Interaktionen zwischen Schülerinnen und Schülern, Lehrperson und „Sache“, die Begegnung mit dem nahen Fernen, werden von dieser Perspektive jedoch ebenso wenig erfasst, wie die gewandelten Weltverhältnisse9 und Zeitbezüge von Kindern heute berücksichtigt. Dass diese sich in den empirischen Arbeiten manifestierende kognitionspsychologische Perspektive eine zentrale innerhalb des geschichtsdidaktischen Diskurses zum frühen historischen Lernen darstellt, möchte ich nicht bestreiten, wenn ich in den folgenden Überlegungen für einen anderen Blick, für einen aufmerksamen, geschichtsdidaktischen Blick auf das frühe Geschichtslernen plädiere. Es geht mir um Perspektivenerweiterung und nicht um ein Entweder-oder: „In der Aufmerksamkeit sehen wir nicht anderes, sondern wir sehen, was wir sehen, anders als zuvor.“10 Denn die grundlegende Fremdheit und Dignität frühen Geschichtslernens und die Differenz zum „späteren“ historischen Lernen in der weiterführenden Schule, in der Hochschule und außerschulischen Geschichtskultur werden in dieser evidenzbasierten Perspektive nicht berücksichtigt. Es sei aber daran erinnert, dass das frühe historische Lernen im Gegensatz zum historischen Lernen z.B. im Geschichtsunterricht der weiterführenden Schule als eine Perspektive unter anderen in erster Linie dazu beizutragen hat, dass Kinder in ihrer Lebenswelt handlungsfähig werden und sich als solche handlungsfähigen Subjekte erfahren können.11 Es geht also um ein Zuhausesein in ihrer und der Welt.12 Bereits 1977 formulierte Jochen Huhn in seinen „elementaren Formen historischen Lernens“ die geschichtsdidaktische Grundfrage, die auch heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren hat, nämlich die Frage danach, ob „historisches Lernen den Schülern bei der Bewältigung gegenwärtiger und künftiger Probleme helfen kann“.13 In dieser Perspektive stellt das frühe Geschichtslernen einen Erfahrungsprozess dar und zwar einen Prozess, „aus dem ein Subjekt verändert hervorgeht.“14 Es geht um agency und eben nicht in erster Linie um Wissensaufbau und Kompetenzentwicklung. Was aber kann agency im Kontext frühen historischen Lernens der Grundschule aus geschichtsdidaktischer Perspektive bedeuten, was historische Bildung für Kinder in unsicheren Zeiten und welche Rolle übernimmt in diesem Erfahrungsprozess die Ermöglichung historischer Erzählungen, als dem einzigen, was wir angeblich haben?15 Die Frage, die sich dann meiner Ansicht nach zwangsläufig stellt, ist die, wie sich Lernprozesse in der Grundschule mit seinem „Alleinstellungsmerkmal“16 des Lebensweltbezuges17 als soziale Gegebenheiten frühen Geschichtslernens wahrnehmen und mit dem „Koordinatensystem“18 der Geschichtsdidaktik als solche überhaupt reflektieren lassen? Dabei geht es im Folgenden nicht darum aufzuzeigen, was in einer konkreten Situation zu tun ist. Vielmehr soll aus der wissenschaftlichen Distanz der Geschichtsdidaktik heraus das fachspezifische Beobachterwissen artikuliert werden, mittels dem sich die konkrete Situation im Klassenzimmer als Sequenz des Anfangs frühen historischen Lernens beschreiben lässt. Im folgenden Text möchte ich deshalb ausgehend von einem in Vignettenform vorliegenden konkreten Fall frühen Geschichtslernens in der Grundschule („Alexandra und das Holz-Ding“) versuchen, die soziale Tatsache der vorliegenden Unterrichtssequenz frühen historischen Lernens aus einer phänomenologisch-inspirierten Perspektive19 heraus, geschichtsdidaktisch zu reflektieren, um die darin manifestierte Bildsamkeit als Beginn eines historisch-lernspezifischen Erfahrungsprozess in seiner Abhängigkeit vom jeweils Anderen zu modellieren und aufmerksam zu beschreiben.20 2. Alexandra und das Holz-Ding
Als Alexandra an der Reihe ist, ihren Gegenstand von früher vorzustellen, muss sie zunächst noch einmal aufstehen. Er sei noch in ihrem Schulranzen, meint sie. Die anderen Kinder verdrehen die Augen. Vor ihnen liegen bereits schwarz-weiß-Fotografien von Einschulungen der Großeltern, eine CD von Foreigner, ein Bienenkorb, eine Baby-Born-Puppe, eine hochschwarzwälderische Tracht, eine Eintrittskarte in den Europa-Park, eine weiße Kommunionskerze, ein paar Holzski, ein Playmobilpirat. Alexandra kramt in ihrem Ranzen, holt eine weiße Tüte heraus und kommt in den Kreis zurück. Sie setzt sich auf ihren Platz, die Tüte fest umschlossen. „Was hesch mit’bracht?“, fragt Kevin. Die Kinder werden unruhig. Der Lehrer ergreift das Wort. „Alexandra, zeig uns doch mal, was du in der Tüte hast.“ Alexandra greift in ihre Tüte und zieht einen Gegenstand aus Holz heraus. „Was isch’n des für a Ding?“ wird gefragt. „S’isch aus Holz“ hört man von einem anderen Kind. „Des isch a Holzboot“ meint Mirko. Alexandra sagt nichts. Sie sitzt da und hält ihren Gegenstand in der einen, die Tüte in der anderen Hand. Auf die Aufforderung des Lehrers legt sie ihn in die Mitte zu den anderen Gegenständen. „Kannst du uns etwas zu deinem Gegenstand sagen?“, fragt der Lehrer. Sie schüttelt den Kopf, verschränkt die Arme. „Warum hast du es denn mitgebracht?“, fragt der Lehrer weiter. Alexandra überlegt kurz. Die Frage ist ihr sichtlich unangenehm. „S’isch halt alt“, antwortet sie.21 3. Verunsichernde Verstrickungen
Der französische Philosoph Michel Serres hat in seinem 2013 auf Deutsch erschienen Buch „Erfindet euch neu“ mit dem kleinen Däumling, die eigentlich Däumelinchen heißen müsste – la petite poucette –, eine Figur in den Diskurs um Kindheiten und Welterschließung eingebracht, der sich von anderen Kindheits-Konstruktionen deutlich unterscheidet. Hier wird kein defizitorientiertes „Verschwinden der Kindheit“ (Neil Postmann) beklagt, sondern vielmehr der Möglichkeitsraum neuer Entwürfe und Welterschließungen euphorisch gefeiert. In dieser lesenswerten Kindheitskonstruktion schreibt er, dass in der „kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt ein neuer Mensch geboren worden“ zu sein scheint. Dieser neue Mensch ist und lebt anders, radikal anders. „Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum.“22 In ihm oder ihr wird die radikale Andersheit des Kindes als das prototypische Fremde offensichtlich.23 Denn für...