E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Bude / Munk / Wieland Transit 64
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28516-3
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-28516-3
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heinz Bude, geboren 1954, studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 2000 bis 2023 war er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Seit 2020 Gründungsdirektor des documenta Instituts in Kassel. Er lebt in Berlin. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: 'Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968' (2018), 'Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee' (2019) und, gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland, 'Aufprall' (2020) sowie 'Abschied von den Boomern' (2024).
Autoren/Hrsg.
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15. Januar 1964
DDR, Zentralflughafen Berlin-Schönefeld
Um die Wahrheit zu sagen, weiß sie vom ersten Moment an nicht, was sie hier eigentlich soll. Hier, in dieser Stadt, in der sie gefühlt vor zwei Jahrhunderten geboren worden ist und jetzt angeblich von einer Regierungsdelegation empfangen werden soll. Sie versucht sich zu erinnern, ob sie jemals schon in diesem Schönefeld gewesen ist. In Schöneberg geboren, aber Schönefeld?
Sibirien ist das da draußen nicht, aber eiskalt wird es sein. Sie ist froh, dass sie den gefütterten Lammfellmantel anhat. Ihre Nerze sind verhökert, um Hotelrechnungen bezahlen zu können, aber dieser Lammfellmantel ist ihr geblieben, und der tut auch seine Dienste. Das Rollfeld sieht nass aus. Sie bindet sich ein Chiffonkopftuch um, knotet es unterm Kinn. Auf einmal hat Marlene Dietrich ein ganz kleines, trauriges Gesicht.
Das Empfangskomitee besteht aus drei Männern. Erwartungsvoll stehen sie im Nieselregen. Ihr Anführer, zu erkennen an seiner Teddy-Thälmann-Mütze, ist ein baumlanger Kerl mit der Figur eines Schwimmers. Seine tellergroßen Handrücken sind mit dunklen Haaren übersät. Mit dem Kopf noch in den Wolken, schreckt sie zurück, als er ihr mit einem schiefen, verunglückten Lächeln die noch eingepackten Blumen überreicht.
»Gnädige Frau, gestatten, mein Name ist Wolf Kaiser. Ich spiele den Mackie Messer und bin der Ersatz für Helene Weigel, die es ausdrücklich bedauert, dass sie Sie nicht persönlich in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik willkommen heißen kann. Als Künstlerin werden Sie sicher Verständnis dafür haben, dass die Arbeit Vorrang hat. Übermorgen ist Premiere von Mann ist Mann, sie leitet die Proben und ist unabkömmlich. Also hat sie mich gebeten, Ihnen zum Zeichen ihrer Hochachtung für Ihren Kampf gegen den Faschismus diese Blumen zu überreichen.«
»Danke.« Leise singt sie: »Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht, und Macheath, der hat ein Messer, doch das Messer sieht man nicht.«
Es ist noch nicht einmal vier Uhr nachmittags, doch im Flughafengebäude, einem lang gestreckten Bau, brennt schon Licht.
Die Empfangshalle gefällt ihr. Schnörkellos, klar, funktional, irgendwie preußisch. Marlene Dietrich findet sich im Transit wieder. Eine Heimatlose in der Heimat. Angekommen in einem Land, das ihr vollkommen fremd ist und das es noch nicht lange gibt.
»Gnädige Frau, im Namen des Deutschen Fernsehfunks und seiner Millionen Zuschauer diese Blumen. Wären Sie so freundlich und würden einige Worte an unsere Zuschauer richten?« Der eilfertige junge Mann mit dem kleinen Schnurrbart beugt sich zu ihr herunter und hält ihr das Mikrofon vor die Nase. »Nun, ich sage Grüß Gott, Guten Tag, wie geht’s euch.«
Grüß Gott, warum sagt sie denn Grüß Gott? Was soll das denn? Kein Berliner und erst recht kein Ostberliner sagt je Grüß Gott. Dem jungen Mann bricht der Schweiß aus. Schnell schiebt er die nächste Frage nach.
»Gnädige Frau, ist Ihnen bekannt, dass zurzeit Ihr Film Das Urteil von Nürnberg hier in den Filmtheatern läuft?«
»Nein, das weiß ich nicht«, antwortet sie mit gelangweiltem Dietrich-Unterton.
»Er läuft hier in Ostberlin, und viele Zuschauer können Sie darin bewundern. Hatten Sie große Freude an dieser Rolle?«
»Mmmmmm, nein, ich mach ja Filme nicht sehr gerne. Viel lieber mach ich, was ich jetzt mache.«
»Ahhh ja. Dürfte ich fragen, wohin Sie reisen und was Sie dort vorhaben?
»Ich fahre für drei Tage nach Warschau und singe dort zwei Vorstellungen am Tag.«
Dass sie im Mai und Juni Konzerte in Moskau und Leningrad geben wird, behält sie lieber für sich. Das hat ihr Rudi, ihr Mann, geraten. Der hat Angst um sie, wenn sie in den Osten reist. Rudi versteht auch nicht, warum sie sich das antut. Sie hat doch genug Angebote in der freien Welt, aber nein, es muss ausgerechnet Warschau sein. Das soll er mal ihr überlassen. Sie weiß genau, was sie tut.
Marlene Dietrich würde jetzt gerne aufstehen und gehen, .
»Mackie Messer, haben Sie Feuer für mich?«
Sie sind jetzt in einem Hinterzimmer gelandet. Sitzen leicht verlegen um einen viereckigen Tisch herum. Die Dietrich, Mackie Messer, der junge Mann mit dem kleinen Schnurrbart, der sein Mikrofon nicht aus der Hand legen mag, und mehrere Frauen und Männer, die sich als Journalisten vorstellen oder nichts sagen und eifrig fotografieren. Während die Dietrich, noch immer im Mantel mit Kopftuch, die beklommene Stimmung im Blitzlichtgewitter ignoriert, werden die anderen zusehends unruhiger. Ist diese elegante, leicht hochmütige Frau wirklich eine Antifaschistin? Sie hat einen US-amerikanischen Pass, vermutlich unendlich viel Geld und bestimmt noch nie eine Zeile Marx gelesen. Kann so eine überhaupt Antifaschistin sein? Über was sollen sie denn mit der reden? Vielleicht ist sie eine Spionin? Warum ist die Weigel nicht da? Die ist auch Schauspielerin und hätte die Situation im Griff.
Marlene Dietrich hat gar keine Lust, sich so kämpferisch antifaschistisch zu geben, wie die anderen gern glauben wollen, dass sie es sei. Sie sitzt da, lächelt in sich hinein und schaut dem bläulichen Rauch ihrer Zigarette nach, der sich in eleganten Schleifen im Raum verteilt. .
Erst als die Sektkorken knallen, lockert sich die Stimmung ein wenig auf.
»Nein,...