Bürger | Theorie der Avantgarde | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Bürger Theorie der Avantgarde


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8353-4165-4
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4165-4
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
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Die Neuausgabe eines der wichtigsten Bücher linker Theorie der 1970er Jahre erweitert um neue Texte. Duchamp, Warhol, Picasso, Heartfield - was vereint diese und andere Künstler, deren Werke bei Ihrem Erscheinen in der Kunstwelt zunächst als bloße Provokationen wahrgenommen wurden? Peter Bürger sucht in seiner »Theorie der Avantgarde« nach Antworten auf diese und viele daran anschließende Fragen. Im Kern geht es dabei immer um die Bedeutung des Kunstwerks und der Kunst im Allgemeinen für die moderne Gesellschaft. Die »Theorie der Avantgarde« erschien 1974 und entfaltete sogleich eine beträchtliche Resonanz. 1976 kam der Antworten-Band von Martin Lüdke heraus, der Kritik sammelte. Auch in den USA stieß die 1984 erschienene Übersetzung lebhafte Diskussionen an. Die Neuausgabe der »Theorie der Avantgarde« vereint den unveränderten Text der Erstausgabe von 1974, das Nachwort der 2. Auflage sowie zwei neue Texte von Peter Bürger: einen Dialog mit Thomas Hettche über Entstehung und Wirkung des Buches sowie eine Reflexion über »das zwiespältige Erbe der Avantgarde«.

Peter Bürger, geb. 1936, war bis Ende 1998 Professor für Romanistik an der Universität Bremen. Seit seiner Emiritierung lebt und arbeitet er in Berlin.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I. Theorie der Avantgarde
und kritische Literaturwissenschaft


1. Die Historizität ästhetischer Kategorien


Geschichte ist der ästhetischen Theorie inhärent. Ihre Kategorien sind radikal geschichtlich.

Th. W. Adorno[1]

Daß ästhetische Theorien, mögen sie noch so sehr auf übergeschichtlich gültige Erkenntnis ihres Gegenstandes ausgehen, doch selbst deutlich durch die Epoche geprägt sind, der sie sich verdanken, ist eine Einsicht, die sich post festum meist relativ leicht gewinnen läßt. Wenn ästhethische Theorien geschichtlich sind, dann muß eine kritische Theorie des Gegenstandbereichs Kunst, die sich um Aufhellung ihres eigenen Tuns bemüht, ihre eigene Geschichtlichkeit durchschauen. Anders ausgedrückt: Es gilt, die ästhetische Theorie zu historisieren.

Vorab wird man zu klären haben, was es bedeuten kann, eine Theorie zu historisieren. Nicht bedeuten kann es, die historistische Betrachtungsweise, die alle Erscheinungen einer Epoche nur aus dieser versteht und die einzelnen Epochen dann in eine ideelle Gleichzeitigkeit setzt (Rankes »gleich unmittelbar zu Gott«), auf die ästhetische Theoriebildung in der Gegenwart zu übertragen. Der falsche Objektivismus historistischer Betrachtungsweise ist zu Recht kritisiert worden; ihn auf der Ebene der Erörterung von Theorien neu beleben zu wollen, wäre ein Unding.[2] Ebensowenig kann es bedeuten, alle vergangenen Theoriebildungen nur als Stufen zur eigenen Theorie zu begreifen. Vergangene Theoriestücke werden dabei aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und einem neuen eingefügt, ohne daß der dadurch sich ergebende Funktions- und Bedeutungswandel des Theoriestücks adäquat reflektiert würde. Die für aufsteigende Klassen charakteristische Konstruktion der Geschichte als Vorgeschichte der Gegenwart ist unbeschadet ihrer Fortschrittlichkeit insofern im Hegelschen Wortsinne einseitig, als sie nur eine Seite des geschichtlichen Prozesses erfaßt, dessen andere in falschem Objektivismus der Historismus festhält. Unter Historisierung der Theorie soll hier etwas anderes verstanden werden: die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Entfaltung des Gegenstandes und der Kategorien einer Wissenschaft. So verstanden gründet die Geschichtlichkeit einer Theorie nicht darin, daß sie Ausdruck eines Zeitgeists ist (dies die historistische Ansicht), noch darin, daß sie vergangene Theoriestücke sich einverleibt (Geschichte als Vorgeschichte der Gegenwart), sondern darin, daß die Entfaltung des Gegenstandes und die der Kategorien in einem Zusammenhang stehen. Diesen Zusammenhang erfassen heißt, eine Theorie historisieren.

Dagegen ließe sich einwenden, ein solches Unterfangen müsse notwendig für sich selbst einen außergeschichtlichen Standort beanspruchen, die Historisierung sei also zugleich notwendig eine Enthistorisierung; anders ausgedrückt: Die Feststellung der Geschichtlichkeit der Sprache einer Wissenschaft setze eine Meta-Ebene voraus, von der aus diese Feststellung getroffen werden könne, und diese Meta-Ebene sei notwendig eine transhistorische (womit sich dann die Aufgabe der Historisierung der Meta-Ebene ergäbe usw.). Nicht im Sinne einer Trennung verschiedener Ebenen der Wissenschaftssprache ist hier der Begriff Historisierung eingeführt worden, sondern im Sinne von Reflexion, die im Medium der einen Sprache die Geschichtlichkeit ihrer eigenen Rede erfaßt.

Das hier Gemeinte läßt sich am besten an einigen grundlegenden methodologischen Einsichten erläutern, die Marx in der Einleitung der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie formuliert hat. Am Beispiel der Arbeit zeigt Marx, »wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit – eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen, doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen«.[3] Der Gedanke ist schwer zu fassen, weil Marx einerseits behauptet, daß bestimmte einfache Kategorien immer schon gelten, andererseits, daß ihre Allgemeinheit sich bestimmten historischen Verhältnissen verdankt. Der entscheidende Unterschied ist hier der zwischen »Gültigkeit für alle Epochen« und der Erkenntnis dieser Allgemeingültigkeit (in den Termini von Marx: »der Bestimmtheit dieser Abstraktion«). Die These von Marx lautet nun, daß erst die historisch entfalteten Verhältnisse diese Erkenntnis ermöglichen. Im Monetarsystem, so führt er aus, wird Reichtum noch als Geld gefaßt, d. h. der Zusammenhang zwischen Arbeit und Reichtum bleibt undurchschaut. Erst in der Theorie der Physiokraten wird Arbeit als Quelle des Reichtums erkannt, allerdings nicht die Arbeit überhaupt, sondern eine bestimmte Art der Arbeit, der Ackerbau. In der klassischen englischen Nationalökonomie, bei Adam Smith, wird dann nicht mehr eine bestimmte Art der Arbeit, sondern die Arbeit allgemein als Quelle des Reichtums erkannt. Diese Entwicklung ist nun für Marx nicht bloß eine solche der ökonomischen Theorie; die Möglichkeit des Erkenntnisfortschritts scheint ihm vielmehr bedingt durch die Entfaltung der Sache, auf die sich die Erkenntnis richtet. Als die Physiokraten ihre Theorie entwickelten (in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich), war dort die Agrikultur in der Tat noch der ökonomisch dominierende Sektor, von dem alle anderen Sektoren abhingen. Erst das wirtschaftlich sehr viel weiter entwickelte England, in dem bereits die industrielle Revolution eingesetzt hat und damit die Vorherrschaft der Agrikultur über alle anderen Sektoren gesellschaftlicher Produktion tendenziell gebrochen ist, ermöglicht die Smithsche Erkenntnis, daß nicht eine bestimmte Art der Arbeit, sondern Arbeit schlechthin reichtumschaffend ist. »Die Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Art der Arbeit setzt eine sehr entwickelte Totalität wirklicher Arbeitsarten voraus, von denen keine mehr die alles beherrschende ist« (Grundrisse, S. 25).

Meine These lautet nun, daß der von Marx am Beispiel der Kategorie Arbeit aufgezeigte Zusammenhang zwischen der Erkenntnis der Allgemeingültigkeit einer Kategorie und der geschichtlichen realen Entfaltung des Bereichs, auf den diese Kategorie zielt, auch für künstlerische Objektivationen gilt. Auch hier ist die Ausdifferenzierung des Gegenstandsbereichs die Bedingung der Möglichkeit einer adäquaten Gegenstandserkenntnis. Die volle Ausdifferenzierung des Phänomens Kunst ist aber in der bürgerlichen Gesellschaft erst mit dem Ästhetizismus erreicht, auf den die historischen Avantgardebewegungen antworten.[4]

Die These sei an der zentralen Kategorie Kunstmittel (Verfahren) verdeutlicht. Mit ihrer Hilfe läßt sich der künstlerische Schaffensprozeß rekonstruieren als ein Prozeß rationaler Wahl zwischen verschiedenen Verfahrensweisen, wobei die Wahl im Hinblick auf eine zu erreichende Wirkung getroffen wird. Eine solche Rekonstruktion der künstlerischen Produktion setzt nicht nur einen relativ hohen Grad der Rationalität in der künstlerischen Produktion voraus, sondern auch, daß die Kunstmittel frei verfügbar, d. h. nicht mehr in ein System stilistischer Normen eingebunden sind, in dem sich, wenngleich vermittelt, gesellschaftliche Normen niederschlagen. Selbstverständlich sind in der Komödie Molières genauso Kunstmittel verwendet wie etwa bei Beckett; daß sie aber als Kunstmittel zur Zeit Molières noch nicht erkannt werden, kann ein Blick auf die Kritik Boileaus zeigen. Ästhetische Kritik ist hier noch direkt Kritik an den von der herrschenden Gesellschaftsschicht nicht akzeptierten Stilmitteln des Grob-Komischen. In der feudalabsolutistischen Gesellschaft des französischen 17. Jahrhunderts ist die Kunst noch weitgehend in den Lebensvollzug der herrschenden Oberschicht integriert. Auch wenn die im 18. Jahrhundert sich entwickelnde bürgerliche Ästhetik sich von den stilistischen Normen befreit, die die Kunst des Feudalabsolutismus mit der herrschenden Schicht dieser Gesellschaft verknüpft hatten, so bleibt doch die Kunst weiterhin am Prinzip der imitatio naturae ausgerichtet. Die Stilmittel haben daher noch nicht die Allgemeinheit eines allein an der Wirkung auf den Rezipienten festgemachten Kunstmittels, sondern sind einem (geschichtlich sich wandelnden) Stilprinzip untergeordnet.

Zweifellos ist Kunstmittel die allgemeinste Kategorie überhaupt, die zur Beschreibung von Kunstwerken zur Verfügung steht. Aber als Kunstmittel erkannt werden können die einzelnen Verfahrensweisen erst seit den historischen Avantgardebewegungen. Denn erst in den historischen Avantgardebewegungen wird die Gesamtheit künstlerischer Mittel als Mittel verfügbar. Bis zu dieser Epoche der Kunstentwicklung war die Verwendung der Kunstmittel eingeschränkt durch den epochalen Stil, einen vorgegebenen, nur in gewissen Grenzen überschreitbaren Kanon zugelassener Verfahrensweisen. Solange aber ein Stil herrscht, ist die Kategorie Kunstmittel als allgemeine nicht durchschaubar, weil sie realiter nur als besondere vorkommt. Ein charakteristisches Merkmal der historischen Avantgardebewegungen besteht nun gerade darin, daß sie keinen Stil entwickelt haben; es gibt keinen dadaistischen, keinen surrealistischen Stil. Diese Bewegungen haben vielmehr die Möglichkeit eines epochalen Stils liquidiert, indem sie die Verfügbarkeit über die Kunstmittel vergangener Epochen zum Prinzip erhoben haben. Erst die universale Verfügbarkeit macht die Kategorie des Kunstmittels zu einer allgemeinen.

...


Bürger, Peter
Peter Bürger, geb. 1936, war bis Ende 1998 Professor für Romanistik an der Universität Bremen. Nach seiner Emiritierung lebte und arbeitete er in Berlin.
Veröffentlichungen u. a.:
Nach der Avantgarde (2014); Ursprung des postmodernen Denkens (2000); Prosa der Moderne (mit Christa Bürger, 1988); Kritik der idealistischen Ästhetik (1983); Theorie der Avantgarde (1974); Der französische Surrealismus (1971).



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