Bunin / Grob | Gespräch in der Nacht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Bunin / Grob Gespräch in der Nacht

Erzählungen 1911
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-908778-53-0
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen 1911

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-908778-53-0
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In diesen 1911 entstandenen Erzählungen verdichtet Iwan Bunin Momentaufnahmen des russischen Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkrieges und der Revolution. Oft erzählen seine Figuren selbst ihre Geschichte, so wie die Tochter eines ehemaligen Leibeigenen. Diese Menschen verbindet vielfach ein grausames Schicksal, das ihnen Widerstandsfähigkeit und Überlebenswillen abverlangt. Der aus dem verarmten Landadel stammende Bunin kannte das russische Dorf wie kaum ein Intellektueller seiner Zeit. Er schildert das Leben der Menschen auf dem Lande, und er bettet die Schicksale in wunderbare Landschafts- und Naturbeschreibungen ein, mit denen sie sich zu einem dunkel leuchtenden Tableau fügen.

Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Auswahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890-1909 (Band 3). Das Dorf / Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzählungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8) und Leichter Atem. Erzählungen 1916-1919 (Band 9). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.
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HUNDERTACHT

Früh spürt man den Herbst, seine Ruhe. Es ist Anfang August, scheint aber eher wie in einem heiteren September, wenn es nur an einem windstillen, sonnigen Plätzchen noch heiß ist.

Der Lehrer Iwanizki, ein junger, aber ungewöhnlich ernsthafter Mann, der beim kleinsten Anlaß in tiefe Gedanken versinkt, geht gemächlich den sanft ansteigenden Hügel hinauf, über den Viehweg durch das Anwesen der bettelarmen Fürsten Koselski. Der Lehrer hat die eine Hand hinter den breiten Gürtel gesteckt, mit dem sein langes Hemd aus Bastseide zusammengehalten wird, zupft mit der anderen die Enden seines spärlichen weißblonden Schnurrbarts, hält die langgestreckte, magere Gestalt gebeugt und kneift die wachsamen grünlichen Augen zusammen. Mit seinem Spaziergang nimmt er Abschied vom Dorf – dieser Tage wird er nach Moskau fahren, zur Universität.

Auf dem Viehweg liegt Schatten. Rechter Hand ist ein großer Garten hinter einem Wall aus Stroh, linker Hand eine alte Schmiede, ein zerfallener Hundezwinger, leere, aus rosa Ziegeln gebaute Getreidedarren und dazwischen die Einfahrt zu einem unübersehbar großen, gleichfalls leeren Dreschplatz. Über dem schon lichter gewordenen Garten liegen Stille und schräger Sonnenglanz; hier und da schillert goldenes Spinngewebe in allen Regenbogenfarben; still liegen Schattenflecke unter den Apfelbäumen; bisweilen fällt mit einem kurzen, dumpfen Schlag ein reifer Apfel in das seidige, trockene Gras. Auf dem eingesunkenen Grasdach der Schmiede wuchert allenthalben samtig-smaragdgrünes, bräunlich schattiertes Moos. Die abgedeckten Darren sind schwer und wuchtig und künden mit ihren Umrissen von uralten Zeiten. Und all das – das Moos auf der Schmiede, der mit Kletten überwucherte Hundezwinger, die kahlen Dachgerippe über den rosa Ziegelmauern –, all das ist so wunderschön vor dem klaren hellblauen Himmel zwischen den weißen runden Wolken. Auf dem gewaltigen leeren Dreschplatz prasseln die Spatzen einem Platzregen gleich von einem Brennesselstrauch zum nächsten. Hinter diesem Gesträuch erhebt sich das rosa schimmernde Espenwäldchen … Der Lehrer geht zu den Solowjows, er will vor seiner Abreise noch einmal ihren Großvater Taganok besuchen. Uralt ist er, wie man in Koselschtschina sagt: Er ist hundertacht, er ist eine Berühmtheit im Kreis.

Hinter dem Gut führen Straßen zwischen Höfen und Gemüsegärten hindurch. Der Lehrer biegt nach links in die Straße ein, die zwischen dem mit Gebüsch bewachsenen Erdwall am Dreschplatz und den alten Katen der früheren Leibeigenen des Fürsten verläuft. Sie ist leicht abschüssig und scheint in den zartgrünen, septemberlichen Horizont zu münden. September liegt auch in den Spitzen der Weiden, die da und dort vor den Katen wachsen und deren feines, sich gelblich verfärbendes Laub vor den weißen Wolken und dem Azurblau durchscheinend leuchtet; September liegt im goldenen Sonnenlicht und in dem durchsichtigen Schatten, der von den Katen auf die Straße fällt, auf die Wagen mit den Wassertonnen, die mit scheckigen Pferdedecken und Bauernmänteln abgedeckt sind … Der Lehrer wirft im Vorübergehen von der Seite her einen Blick auf die Katen, auf die kleinen Fenster und die Vortreppen.

Die Fenster sind winzig und dunkel. Die Vortreppen und die Türschwellen starren vor Schmutz. Aber auch vor den Katen ist es nicht besser: In dem verkrusteten Schlamm, der hart ist wie Gußeisen und in dem Lumpen und faulige Bastschuhe festgewachsen sind, liegen große, flache Steine, auf denen zu Mittag und zu Abend gegessen wird. Kinder schreien, rufen einander etwas zu und klettern auf den Steinen herum. Viele Kinder gibt es in Koselschtschtina, und, Allmächtiger, wie rotznasig sie sind, wie viele Schrunden sie auf Wangen und Lippen haben!

»Was machst du da?« ruft der Lehrer einem kleinen Mädchen zu, das vor einem Stein steht.

Sie ist kränklich und mager, hat dunkle Augen, trägt Bastschuhe von der Großmutter, ist in ein dunkles Hanftuch gehüllt. Sie patscht mit ihren kleinen Händen auf den Stein, tut so, als würde sie Wäsche waschen, Wasser über den Stein gießen und mit einem Bleuel darauf schlagen. Als sie den Lehrer hört, blickt sie ihn verlegen an und stürzt Hals über Kopf zur Kate.

»Wie heißt du?« fragt der Lehrer einen dicken blauäugigen Jungen in einer großen, alten Weste, der an einer Weide beim Hof der Fomins steht.

Der Junge schweigt. Der Lehrer wiederholt seine Frage. Der Junge weicht zurück unter die Weide, streckt die Brust vor, bläst sich so auf, daß er rot anläuft, und schweigt.

Geschäftig laufen die Hühner umher, sie kratzen mit ihren Krallen in der Asche und der Erde, picken etwas auf, gackern und locken die Küken an. Auf dem Hof der Klimows liegt unter dem Wagen mit der Wassertonne eine alte Frau und schläft. Der schräg fallende Schatten der Kate ist weitergerückt, die Sonne scheint nun auf den Wagen und das Wasserfaß und sengt das Gesicht, das so dicht mit Fliegen bedeckt ist, als hätte sich ein schwarzer Schwarm darauf niedergelassen, sengt das magere Kreuzbein, die bloßen, plumpen, sonnenverbrannt glänzenden Beine. Ein etwa fünfjähriger Junge mit Hosenträgern und roten Wollstrümpfen saust zwischen den Küken herum, die hin und her rennen und Fliegen von der Erde und von den Beinen der Alten aufpicken, und versucht immer, wenigstens auf eines von ihnen zu treten; die Küken flattern piepsend auseinander, und er bleibt stehen und wartet ab, bis sie sich in einem Häuflein zusammengefunden haben, um sich dann unverzüglich wieder auf sie zu stürzen, so schnell ihn seine Beinchen tragen. Ein anderer, etwa zweijähriger Junge macht sich an einem Krummholz zu schaffen, das gerade frisch mit brauner Farbe gestrichen ist und an der Haustreppe lehnt; das Krummholz kippt um und wirft ihn zu Boden, und er bricht in wüstes Geschrei aus. Der Lehrer eilt hinzu, um ihn zu befreien.

»He, Alte! Wach auf, der Teufel soll dich holen«, ruft er und hält das brüllende Kind gepackt, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen soll.

Die Alte hebt den Kopf und begreift zunächst überhaupt nichts: Die Augen sind stumpf, der Mund steht offen, das Kopftuch und die grauen Haare sind zur Seite gerutscht. Dann steht sie hastig auf und schwankt benommen, geht zum Lehrer, reißt ihm das Kind aus den ungeschickten Händen und steigt die Vortreppe hoch. Oben setzt sie den Jungen unsanft auf den mit Hirsebrei bekleckerten Boden, und sofort hört er auf zu schreien: Er krabbelt auf dem Treppenabsatz umher, klaubt den mit Schmutz vermengten Brei vom Boden auf und stopft ihn sich in den Mund. Die Alte selbst setzt sich auf die Bank, und während sie ihren Kopfputz zurechtrückt, folgt sie dem Lehrer mit einem langen, bitterbösen Blick.

Die Solowjows haben den Besitz unter sich aufgeteilt. Taganok wohnt bei Gleb. Doch der Lehrer geht zuerst zum Hof seines anderen Enkels, des Zimmermanns Grigori. Grigori hat leichte Ähnlichkeit mit einem Mephistopheles, aber er ist ein angenehmer Mensch. Er steht zwischen Kate und Vorratskeller, wo der Durchgang zum Dreschplatz ist, in einem Geviert aus frischen, blaßroten, in drei Lagen übereinandergeschichteten Holzbalken: Er baut sich einen kleinen Speicher. Er trägt eine städtische Schirmmütze, ein noch nicht gewaschenes und zu einem knittrigen, rosa Ballon geblähtes Kattunhemd, eine Hose aus festem Baumwollstoff und Stiefel: Die Solowjows sind die bedeutendsten Einwohner in Koselschtschina. Beim Anblick des Gastes schlägt er die in der Sonne aufblitzende Axt leichthin und geschickt in einen Balken. Sie begrüßen einander, setzen sich auf das Balkengefüge und stecken sich eine Zigarette an.

»Wollen Sie zu Taganok?« fragt Grigori.

»Ja. Ich habe ihn lange nicht gesehen …«

»Na, das ist schön. Machen Sie das nur. Er hat gerne Besuch.«

»Und wie geht es ihm? Er wird wohl immer gebrechlicher?«

»Nein, es geht noch einigermaßen. Natürlich kein Vergleich mit uns: Er ist schließlich hundertacht.«

»Bittet er Gott nicht, ihn sterben zu lassen?«

»Nun ja, was soll ich sagen? Er möchte wohl sehr gerne noch ein bißchen leben, aber bekanntlich ist das Greisenleben kein Zuckerschlecken.«

»Was meinst du?«

»Was schon, man muß es ehrlich sagen: Sie schlagen ihn, und sie lassen ihn hungern – das ist das Schlimmste.«

»Die Schwiegertochter?«

»Natürlich. Aber ich meine, der Grund liegt bei meinem Bruder Gleb. Er läßt das alles zu. Dabei müßte er ihn beschützen, wer denn sonst? Taganok selbst – na, Sie kennen ihn ja: Sein Leben lang hat er keiner Fliege etwas zuleide getan.«

»Im Ernst, sie schlagen ihn?«

»Aber sicher. Und wie! Manchmal stoßen sie ihn so heftig … Wie oft hat er sich bei mir beklagt. Aber die Schläge sind nicht das Schlimmste! Alleine sechs Pud Schinkenfleisch haben sie da hängen – aber glauben Sie mir, nie geben sie ihm auch nur das kleinste Rippchen ab. Feiertags setzen sie sich zum Tee, aber er wagt nicht, um ein Täßchen zu bitten. Selbst um Kleinigkeiten ist es ihnen zu schade …«

»Tja-a«, sagt der Lehrer gedankenverloren.

Die Grashüpfer zirpen im Unkraut in der Sonne. Alles welkt dahin und verliert schwarze Samenkörner: die Brennesseln, das Bilsenkraut, die Kletten, der Amarant. Eine Bäuerin in einem roten Rock und einem weißen Hemd steht im Hanfdickicht, das höher ist als sie selbst, und nimmt die tauben Stauden ab. Jenseits des Hanffeldes schimmern graue Getreidedarren und gelbe, neue Schober.

»Tja-a«, sagt der Lehrer und nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Das Gottesträgervolk! … Sind das eure Heuschober?«

»In diesem Jahr hat der Herr uns reichlich beschenkt«, antwortet Grigori...


Bunin, Iwan
Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Auswahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890–1909 (Band 3). Das Dorf / Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzählungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8) und Leichter Atem. Erzählungen 1916–1919 (Band 9). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.

Trottenberg, Dorothea
Dorothea Trottenberg arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, u. a. von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol,Vladimir Sorokin, Maria Rybakova, Boris Akunin und Iwan Bunin. Für ihre Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Grob, Thomas
Thomas Grob ist Professor für Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zudem ist er publizistisch tätig, u. a. als Herausgeber der Werke Bunins im Dörlemann Verlag.

IWAN BUNIN, geboren am 22. Oktober 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10. Dezember 1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. Bislang erschienen: »Ein unbekannter Freund«. Deutsch von Swetlana Geier (2003) sowie »Verfluchte Tage« (2005), »Der Sonnentempel« (2008), »Am Ursprung der Tage« (2010) und »Das Dorf / Suchodol« (2011), alle vier in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg.DOROTHEA TROTTENBERG studierte Slavistik in Köln und Leningrad, arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, u.a. von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol, Vladimir Sorokin, Lev Tolstoj und Ivan Turgenev. 2007 wurde sie mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis, 2012 mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.THOMAS GROB ist Professor für Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zudem ist er publizistisch tätig.



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