E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Burger Foodamentalismus
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7453-0569-2
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie Essen unsere Religion wurde
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7453-0569-2
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kathrin Burger hat Ökotrophologie studiert und ist freie Wissenschaftsjournalistin. Sie schreibt für diverse Zeitungen, Zeitschriften und Online-Medien wie Süddeutsche Zeitung, taz oder spektrum.de über Ernährung, Gesundheit und Umwelt und ist Autorin mehrerer Bücher. Sie lebt in München.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Wie konnte es so weit kommen?
Am Ende des Tages stellen wir uns bewusst kritisch die Frage, wie es so weit kommen konnte. Wie ist es möglich, dass so viele unterschiedliche Ernährungsweisen populär sind, obwohl sie teilweise auf hahnebüchenen und völlig konträren Überlegungen basieren? Wie kann es sein, dass Menschen ohne ernährungswissenschaftlichen Hintergrund eine so große Fangemeinde um sich versammeln können? Wie kommt es, dass immer mehr Menschen meinen, bestimmte Nahrungsmittel wie Milch oder Brot seien nicht bekömmlich oder sogar giftig? Und warum haben diese Themen eine so große Wichtigkeit erlangt?
Uns fehlen Religion und moralische Autoritäten
Tatsächlich sind die Gesellschaften in industrialisierten Nationen von einer zunehmenden Glaubensleere und damit einem Mangel an Ritualen und Gemeinschaft erfüllt. Denn die Religionen lieferten nicht nur Antworten auf viele transzendentale Fragen und unerklärliche Dinge, früher organisierte die Kirche auch Lebensbereiche, die nichts oder nur am Rande mit Religion zu tun hatten, wie Kolpingvereine, Wallfahrten und Bildungsaktivitäten. Sie dienten also auch als sozialer Kitt, um Bevölkerungsgruppen ein Gefühl des Zusammenhalts zu geben. 1960 war noch fast jeder Deutsche katholisch oder evangelisch, heute sind es nur etwas mehr als die Hälfte – konkret: es gibt derzeit rund 26 Prozent evangelische und 28 Prozent katholische Christen[272]. Und von diesen gehen immer weniger in die Kirche oder pflegen religiöse Praktiken wie Gebete oder Pilgerreisen. Noch weniger Gläubige findet man etwa unter den Vegetariern. Laut einer Studie der Universität Jena sind nur 23 Prozent evangelisch und 17 Prozent katholisch[273].
Die Aussagen von bestimmten Kirchenvertretern zu Themen wie Homosexualität oder Abtreibung missfallen vor allem jüngeren Menschen, weswegen sie sich zunehmend von der Kirche abwenden. Und auch die Missbrauchsskandale und deren nur unzureichende Aufarbeitung sind Gründe, warum die Kirche nicht mehr als moralische Instanz infrage kommt. Obendrein werden immer weniger Deutsche gemäß einer christlichen Glaubenslehre erzogen[274]. »Zudem verharrt die Kirche in einer hierarchischen Kommunikationsstruktur des Senders und Empfängers«, so meint Rochus Winkler, Psychologe von concept m. »Der moderne Mensch ist jedoch aufgeklärt, gut informiert, kritisch und kommuniziert vor allem in sozialen Netzwerken ohne Hierarchien. Und hier halten die Kirchen nicht mit.«[275]
Aber auch andere moralische Autoritäten wie Intellektuelle, Wissenschaftler, Ärzte, Journalisten und Politiker genießen kein Vertrauen mehr und werden von ihren Sockeln gestoßen. An ihre Stelle treten Sportler, Schauspieler, Popstars, Internetmilliardäre, Köche oder selbst ernannte Gesundheitsgurus. Diese werden angebetet und vergöttert. Vor allem die Köche treten wahlweise als Propheten, Beichtväter, Sozialreformer, als Ratgeber im Kampf gegen das schlechte Gewissen oder als Welthungerexperten auf, wie Jens-Christian Rabe in der Süddeutschen Zeitung anmerkte[276]. »Es geht bei Nigel Slater & Co. um viel mehr als die Frage, wie man ein Ei technisch einwandfrei pochiert. Es geht ums große Ganze: das richtige Leben in einer falschen Welt.«
Denn das religiöse Bedürfnis ist da, der Wunsch nach Diskussionen über Ethik und Moral, der Wunsch nach Identität und Zugehörigkeit. Die Religion bot den Menschen zudem eine Möglichkeit, sich mit Heiligem oder Transzendentalem zu verbinden und ein Leben mit Sinn zu führen. Leid, Trauer und Krisen hat die Menschheit über Jahrhunderte mithilfe von Religion und Spiritualität überwunden. Religion bietet auch Theorien über die Natur des Menschen oder seinen Platz im Universum, über Leben und Tod also. Nun ist da nur noch diese Glaubensleere. Moralische Leitfiguren und gute Vorbilder fehlen. Und darum sind die Menschen auf der Suche nach etwas Bedeutsamem in ihrem Leben, nach einem höheren Zweck, der ihnen hilft, ihr Leben zu ordnen. Denn Glauben gibt Halt: Wer auch heute noch eine Religion ausübt, lebt insgesamt zufriedener, so zeigen Studien, daher suchen sich die Menschen einen Religionsersatz. Und dafür muss der Körper herhalten. Er muss nun die ganze Fracht tragen, die früher die Religion übernahm. Daher werden vor allem Ernährung, aber auch Sport zur Obsession. »Das Essen eignet sich jedoch noch besser«, ist Klotter der Meinung, »da man das Essen inkorporiert, in sich aufnimmt.« Zudem hatte Ernährung schon immer, etwa als Teil der Religion oder als soziales Distinktionsmittel zwischen arm und reich eine identitätsstiftende Funktion.
Nahrung stiftet Identität, erlaubt Selbstdarstellung
Nahrung verleiht also Identität. Wie ist das zu verstehen? Die Soziologin Barlösius meint etwa, dass die Küche und die mit ihr verbundene Mahlzeit die Funktion hätten, »eine vergemeinschaftende kulturelle Identität auszubilden und zweitens soziale, politische und andere Abgrenzungsbestrebungen durchzusetzen – also die eigene von der fremden Identität distinktiv abzuheben«[277]. Über Nahrung wird also kommuniziert, es werden Botschaften darüber übermittelt, wer man ist und wie man wahrgenommen werden möchte. So dienten auch in den verschiedenen Weltreligionen Speisegebote wie Nahrungstabus dazu, sich von anderen religiösen Gemeinschaften abzugrenzen, um die eigene Glaubensgemeinschaft zu festigen. Egal ob katholisch, evangelisch, christlich-orthodox, Adventisten, jüdisch, muslimisch, hinduistisch und buddhistisch – jede religiöse Tradition beinhaltet Rituale, Zeremonien und Alltagspraktiken, die auch Essen und Trinken einschließen[278]. In der römisch-katholischen Kirche gibt es etwa das Freitagsopfer, an diesem Tag soll also auf Fleisch oder andere Genussmittel verzichtet werden. Auch das Fasten hat in der christlichen Kirche Tradition. Im Islam gibt es neben dem 30-tägigen Fasten (Ramadan) die Einteilung von erlaubten und verbotenen Lebensmitteln. So sind Schweinefleisch, Fleisch und Wurst von nichtgeschächteten Tieren oder Alkohol »haram«, während alle anderen nicht ausdrücklich verbotenen Lebensmittel »halal« sind.
Das Judentum kennt ebenfalls Speisegesetze (Kaschrut), die »koschere« und »treife« Lebensmittel trennt. So sind etwa Rinder, Schafe, Ziegen und Rehwild koscher, Schweine oder Hasen dagegen nicht. Rabbiner einer Kaschrut-Organisation können auch das Koscher-Siegel für Fertigprodukte vergeben. Fleisch und Milchprodukte dürfen obendrein nicht miteinander gemischt werden, also auch nicht auf den gleichen Küchenutensilien zubereitet oder angerichtet werden. In der Pessachwoche gibt es weitere strenge Vorschriften. So darf in dieser Zeit etwa nur ungesäuertes Brot (Matzot) gegessen werden.
Die Buddhisten lehnen Fleisch zwar nicht völlig ab, allerdings gibt es viele streng vegetarisch lebende Buddhisten, weil sie glauben, dass jedes fühlende Wesen einen Buddha in sich tragen könnte. Auch Zwiebelgewächse wie Knoblauch und Lauch sowie Ingwer gehören zu den verbotenen Lebensmitteln, da diese als anregend gelten und ungewollte, sexuelle Energien freisetzen könnten. Bei den Hinduisten darf der Koch einer niederen Kaste nicht das Essen für eine höhere Kaste zubereiten, da dieses dann nicht als rein gilt. Die Hinduisten essen großteils vegetarisch. Oft gibt es bei religiösen Speisevorschriften auch Regeln darüber, was bestimmte Leute an bestimmten Orten nicht essen sollten. Säkulare und selbst auferlegte Nahrungsverbote und -regeln wie glutenfrei oder Rohkost liefern darum auch einen gewissen Komfort, den Religionen traditionellerweise mit sich bringen.
Jede Kultur hat ihre Nahrungssitten und -Gebräuche
Nahrung war aber nicht nur religiös ein Mittel, um Grenzen zwischen Gruppen zu ziehen, sondern auch kulturell. Verschiedene Kulturen zeigen schließlich mithilfe von Sitten, Gebräuchen und Nahrungstabus ihre Zugehörigkeit. Katzen oder Hunde darf man hierzulande etwa nicht essen, das ist sogar gesetzlich verboten. Auch der Verzehr von Insekten ist (noch) mit Ekelgefühlen behaftet. Japaner essen zum Frühstück Misosuppe, die Schweden goutieren »Rotten Herring«, die Chilenen verspeisen Seeigel, während viele andere Nationen angesichts dieser Speisen mit Übelkeit und Ablehnung reagieren. Und das ist kein physiologisch erklärbarer Mechanismus, wie er bei verdorbenen Speisen auftritt, um uns vor Vergiftung zu schützen. »Unsere Übereinstimmung in Essensfragen gehört zu dem, was unsere Existenz als kulturelle Gemeinschaft konstituiert«, schreibt Funkschmidt[279]. Sie drücken kulturelle Eigenarten aus, die eine Kultur von anderen unterscheidet. Nahrungsbeschränkungen können dazu dienen, bereits vorhandene Differenzen auszudrücken oder zu verstärken. Denn das Nahrungssystem entspricht einem Zeichensystem, auf dessen Grundlage Kommunikation möglich wird[280].
Nun haben sich unsere Ernährungsgewohnheiten jedoch radikal verändert. Es wird weniger selbst gekocht – deutsche Verbraucher verbringen nur fünf Stunden pro Woche mit Kochen, im internationalen Vergleich sind wir damit auf dem viertletzten Platz[281]. Was Ausgaben für das Essen angeht, sind wir knauserig. Dafür werden mehr industrielle Lebensmittel als früher verwendet oder es wird gleich außer Haus gegessen. Wer Hunger hat, muss nicht auf die nächste Mahlzeit warten, sondern kann die Zeit mit Snacks überbrücken. Marktforscher nennen das eine »Entrhythmisierung der Ernährung«. Früher wurde der Tag rundum die Mahlzeiten organisiert, sie waren feste Institutionen, heute wird eher zwischen Meeting und Fitnessstudio noch schnell ein Proteinriegel verzehrt. Nahrungsaufnahme ist kein Ritual mehr, sondern nur noch Notwendigkeit....




