E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Katie Wildheart
Burgis Katie Wildheart – Zaubern ohne Furcht und Tadel
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7336-5178-7
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Katie Wildheart
ISBN: 978-3-7336-5178-7
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephanie Burgis ist in den USA aufgewachsen und hat während ihres Studiums in Österreich in den Caféhäusern von Wien ihre Leidenschaft für Schokolade entdeckt. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einer getigerten Katze in Wales.
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1. Kapitel
Es war leider kein Geheimnis, dass mein Bruder Charles nicht nur ein unverbesserlicher Spieler und unglaublicher Langschläfer, sondern auch als Einziger von uns vier Geschwistern zu faul war, sich an Familienstreitigkeiten zu beteiligen. Da konnten meine Schwestern noch so nervig sein. (Waren sie normalerweise auch.)
Aber für einen älteren Bruder hatte er eine wunderbare Eigenschaft: Man konnte ihn immer wieder leicht zu etwas überreden.
»Dir ist schon klar, Katie, dass Stiefmama dir den Hals umdreht, wenn sie es herausfindet«, flüsterte er mir jetzt zu und gähnte dabei so lauthals, dass Leute, die ihn nicht kannten wie ich, ihn gar nicht verstanden hätten. Er war bereits zum zweiten Mal mit Schimpf und Schande von der Universität Oxford geflogen und wohnte wieder zu Hause. Obwohl er sich vor Familienpflichten mit Vorliebe in den Schlaf flüchtete, folgte er mir heute am frühen Morgen vor sich hingähnend und mäkelnd die knarzenden Holzstufen hinunter ins Erdgeschoss der Pfarrei, unserem Zuhause.
Gemeinhin scheute er die Anstrengung, sich gegen jemanden zu wehren, der sich über sein erstes »Nein« hinwegsetzte. Und ich, sturköpfig, wie alle meine Geschwister bezeugen konnten, ließ mich schon gar nicht mit einem Nein von ihm abspeisen.
Draußen und drinnen war es noch dunkel, und lediglich die Kerze in meiner Hand warf Licht auf die Treppe. Damit auch Charles etwas sehen konnte, hielt ich sie hoch, achtete aber darauf, dass ich nicht auf die Stellen trat, wo das uralte Holz morsch war.
»Stiefmama wird mir den Hals deshalb nicht umdrehen, weil sie gar nichts erfährt«, flüsterte ich. »Außerdem ist sie so sehr mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass sie sich – falls sie aufwacht – nicht auch noch darum schert, was wir beide tun oder lassen.«
»Hä?« Wie üblich war er zu träge, mir zu widersprechen. Was mir gerade recht war, denn ich hätte mich ohnehin nicht umstimmen lassen.
In drei Stunden würde meine älteste Schwester Elissa heiraten. In vier Stunden – fünf, wenn das Hochzeitsfrühstück länger dauerte als gedacht –, würde sie weggehen und sich unser aller Leben für immer verändern. Selbst wenn sie zu Besuch kam, würde sie von nun an immer ihren Mann mitbringen, und so sehr ich den gutmütigen Mr Collingwood auch mochte, es würde nie wieder so sein wie früher. Zum Beispiel würden die beiden in einem Zimmer schlafen, und ich konnte nicht mehr zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Elissa hineinschlüpfen, um mir Trost, einen guten Rat oder Hilfe zu holen, wenn ich wieder Streit mit Stiefmama hatte. Oft ließ ich mich auch einfach nur von ihr umsorgen, was sie ja schon tat, solange ich lebte. Meine Mutter war nämlich kurz nach meiner Geburt gestorben, und meine beiden älteren Schwestern hatten sich um mich gekümmert.
Mit den Jahren ging es mir allerdings zunehmend auf die Nerven, wie etepetete und überheblich Elissa war und mir dauernd Vorträge über schickliches Benehmen hielt. Wie oft vergaß sie auch, dass ich mittlerweile zwölf Jahre alt und kein Baby mehr war.
Heute Morgen war ich um vier Uhr aufgewacht, hatte dagelegen und eine volle Stunde in die Dunkelheit meiner Dachkammer gestarrt, bis ich schließlich aufgegeben und Charles im Stockwerk unter mir aus dem Bett geholt hatte. Was mein Bruder und ich vorhatten, hätte Elissa bis ins Innerste ihrer damenhaften Seele empört, aber wenn ich darauf verzichtet hätte, wäre ich explodiert.
Nach der letzten Stufe vor dem Erdgeschoss atmete ich erleichtert auf. Niemand war wach geworden. »Komm«, flüsterte ich. »Mrs Watkins ist noch nicht in der Küche, und keiner hört uns.«
Charles zuckte die Achseln und tappte in Morgenmantel und Schlappen hinter mir her. Sein Haar – es hatte den gleichen hellblonden Farbton wie Elissas und Papas (bevor es grau wurde) – guckte in ungebärdigen Locken unter der Nachtmütze hervor. Er hatte auf dem Gesicht geschlafen, als ich ihn wach gerüttelt hatte. Wie er in dieser Lage überhaupt atmen konnte, war mir stets ein Rätsel. Eigentlich war mir Charles mehr oder weniger ein Rätsel, denn als Stiefmama vor fünf Jahren in unser Leben getreten war, hatte sie ihn sofort aus dem Haus geschickt, damit er in dem Knabeninternat Harrow zum feinen Herrn erzogen wurde.
Dort hatte er sich natürlich verändert – zum Teil sogar zum Guten, wie zum Beispiel, dass er ein paar sehr nützliche Fähigkeiten erworben hatte.
Da das Feuer im Küchenkamin nur glimmte und der große Raum eiskalt war, fachte ich die Glut an und entzündete zwei weitere Talgkerzen, weil es draußen und folglich auch hier drin immer noch nicht heller geworden war. Dann bat ich Charles, mir zu helfen, den schweren Holztisch zur Seite zu schieben.
»So. Prima.« Ich trat auf die freie Stelle, die wir geschaffen hatten, und hob die Fäuste, wie er es mir vor mehr als einem Jahr beigebracht hatte, als er die Universität zum ersten Mal wegen schlechten Betragens verlassen musste. Über mir baumelten Kräuterbündel und Fleisch von der Decke. Ebenso wie die abgedeckten Speisen auf dem Küchentisch waren sie für das opulente Hochzeitsfrühstück später am Morgen vorgesehen. Aber daran wollte ich gar nicht denken, schon gar nicht daran, was danach sein würde.
Elissa … Ich kriegte einen Kloß im Hals und räusperte ihn weg. Dann zog ich meine Hausschuhe aus und tänzelte auf dem kalten Fußboden wie ein Boxer. »Los, komm!«
»Gut, wenn es denn sein muss.« Charles reckte die Schultern und brachte seine Fäuste in Stellung. Dann ließ er sie sinken. »Ach, weißt du, für Faustkämpfe ist es eigentlich noch viel zu früh. Wenn außerdem auch nur einer von uns beim Hochzeitsgottesdienst mit blauen Flecken erscheint, gerät Stiefmama mal wieder außer sich vor Wut.«
»Charles …« Ich bedachte ihn mit meinem gebieterischsten Blick. Den hatte ich von Angeline gelernt, unserer anderen Schwester, die ihn aus dem Effeff beherrschte. »Du hast mir dein Ehrenwort gegeben.«
»Ich will auch gar nicht kneifen. Wenn du unbedingt jetzt boxen willst, gut, dann bin ich dir zu Diensten. Trotzdem frage ich dich, wie’s zur Abwechslung mal mit Ringen wäre?«
»Mit Ringen?« Ich ließ die Fäuste sinken und überlegte. Im letzten Jahr hatte Charles mir Boxen und Fechten beigebracht und vor zwei Wochen Frederick Carlyle das Billardspielen. (Nach außen war Frederick seit neuestem Papas Student der alten Sprachen, in Wirklichkeit aber der einzige Mann in England, der Angeline gewachsen war und sich mit ihr messen konnte.) Aus irgendeinem Grund hatte ich allerdings nie erwogen, dass ich zu den genannten, mir als Mädchen verbotenen, aber nützlichen Fähigkeiten auch die Kunst des Ringens erlernen könnte.
»Wenn wir ringen, ersparen wir uns vielleicht die blauen Flecken und die Schimpftiraden«, sagte Charles.
»Gut, zeig’s mir.« Ich ließ die Arme hängen.
»Besser du fängst an und nicht ich«, erwiderte er stirnrunzelnd. »Wenn was passiert … ähm. Pass auf, ich sage dir, was du tun musst. Komm so auf mich zu, pack mich hier und da« – er legte meine Hände auf die Stellen –, »und dann dreh dich in der Hüfte. Nein, warte, ich meine …« Er wurde knallrot. »Verflixt. Wenn Stiefmama gehört hätte, wie ich ›Hüfte‹ gesagt habe –«
»Charles, ich weiß, dass ich Hüften habe.« Ich verdrehte die Augen. »Nur weil Damen dieses Wort nicht in den Mund nehmen sollen, müssen wir –«
»Damen sollen das Wort nicht mal verstehen«, murmelte Charles. »Nicht, dass dich das interessieren würde. Natürlich nicht …«
»Natürlich nicht. Ich drehe mich also so –«
»Nein, nein, so ist es falsch. So!« Wir stellten uns anders hin, und er zeigte es mir ganz langsam. »Mit genügend Kraft kannst du deinen Gegner über die Hüfte werfen. Siehst du, zuerst bringst du ihn aus dem Gleichgewicht und dann –«
»Was um alles in der Welt treibt ihr denn hier?« Angeline stand in der Tür. Ich rutschte aus, als ich mich in Charles’ Armen drehte, während Charles, auf frischer Tat bei seiner Lehrstunde ertappt, die Panik kriegte und selbst einen Hüftschwung hinlegte. Prompt schoss ich durch die Luft.
»Verflixt und zugenäht!«
Manchmal vergaß ich, wie stark mein Bruder, dieser Unglücksrabe, wirklich war. Ich flog durch die Küche auf den großen Holztisch zu. Biss auf die Zähne, um mich auf den Aufprall vorzubereiten …
… und erstarrte mitten in der Luft! Angeline hatte leise etwas geflüstert, und der Duft von frischem Flieder zog durch den Raum. Einen knappen Meter über dem Boden und etwas mehr als zwanzig Zentimeter vom Küchentisch entfernt hing ich waagerecht und reglos in der Luft.
Manchmal war es eben nützlich, eine praktizierende Hexe in der Familie zu haben.
»Toll«, sagte Angeline. »Einfach toll, ihr beiden. Genau das hat sich Elissa zu ihrem Hochzeitstag bestimmt gewünscht.«
Manchmal war eine praktizierende Hexenschwester nur nervend.
»Ach, hör doch auf.« Ich streckte ihr die Zunge heraus. »Elissa hätte gar nichts davon mitbekommen.«
»Nicht mal, wenn Charles dich in die Teigmassen für Mrs Watkins’ Pasteten geschleudert hätte?« Mit dem Kopf deutete sie auf die zugedeckten Schüsseln auf dem Tisch.
Charles verdrückte sich natürlich schon in Richtung Tür, wobei er es peinlichst vermied, uns anzuschauen.
»Das wäre gar nicht passiert, wenn du ihn nicht erschreckt hättest«, erwiderte ich. »Aber Elissa – die wäre mindestens genauso...