E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Burnside Ashland & Vine
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-21264-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-641-21264-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit dem Mord an ihrem Vater, Rechtsanwalt und Gegner der Rassentrennung, endet die behütete Kindheit der jungen Jean. In ihrer Lebensgeschichte spiegeln sich die politischen Entwicklungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Amerika tief gespalten haben: von der Kommunistenverfolgung der McCarthy-Ära über die erstarkende Bürgerrechtsbewegung zur Black Panther Party, Vietnam und dem Kalten Krieg. Als der Traum von einer gerechten Welt immer weiter in die Ferne rückt, zieht sich Jean in die Einsamkeit zurück. Bis eines Tages eine junge, alkoholkranke Frau vor ihrer Tür steht und ihre Hilfe braucht.
John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit 'Lügen über meinen Vater' (2006), 'Wie alle anderen' (2010), 'Über Liebe und Magie - I put a spell on you' (2014) und 'What light there is - Über die Schönheit des Moments' (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband 'So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe'. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.
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Backe Kuchen, hacke Holz
Der Tag, an dem ich Jean Culver kennenlernte, war auch der Tag, an dem ich mit dem Trinken aufhörte.
Lange wollte ich mir einreden, dass dies eher Zufall war. Sicher, Jean Culver hatte das Experiment vorgeschlagen, aber fast beiläufig und ohne Nachdruck. Ich konnte tun, was ich wollte, so viel war stets klar. Sie verurteilte mich nicht, erwartete nicht, dass ich für immer aufhörte, verlangte auch nicht, dass ich mich einer Selbsthilfegruppe anschloss. Ich sollte einfach nur für eine Weile nüchtern bleiben, zeigen, dass ich es konnte. So hat sie mich zu Anfang getäuscht. Sie ließ mich glauben, dass ich längst aufhören wollte. Und wenn nicht wollte, dann doch sollte. Ehrlich gesagt, ich brauchte eine Pause. Ich brauchte etwas Abstand zu Laurits, musste zurück zu etwas, das nicht so klar definiert, auf jeden Fall aber geheim war und die Kraft zur Veränderung besaß, wie jene Orte, an die man sich in alten Popsongs zurückzieht. Vor allem aber musste ich damit aufhören, das Ende eines jeden Tages in so beliebigem wie flüchtigem Vergessen auszulöschen, musste lernen, mit dem zu leben, was mich erwartete – den Erinnerungen, den Zweifeln, den Wiederholungen derselben alten Fragen. Ich musste aus der schieren Eintönigkeit meines immer gleichen Alltags ausbrechen: sich betrinken, nüchtern werden, paranoid werden, sich wieder betrinken. Vielleicht war das längst schlimmer als alles andere. Dieser Überdruss am eigenen Ich. Nicht der Überdruss an mir, nein, sondern ein Überdruss an der eigenen Persönlichkeit als willkürlicher Last, mir auferlegt dank des wunderlichen Einfalls eines übelwollenden Besuchers aus einem uralten Märchen. Oder aus einer Sage, etwa aus den Wäldern Estlands, wohin, wie Laurits stets behauptete, er eigentlich gehöre.
Wie auch immer, an jenem ersten Morgen habe ich nichts dergleichen gedacht. Eigentlich habe ich überhaupt nichts gedacht und nur das Übliche getan. Als ich das Tor zu ihrem Garten öffnete, ahnte ich nicht mal, dass es Jean Culver gab, und nichts wäre mir lieber gewesen, als nach Hause zu gehen, mich in mein schmales, kreideweißes Schlafzimmer zu legen und auf ein Wunder zu warten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits drei Stunden gearbeitet, falls man denn Arbeit nennen will, was ich tat, mich durch die Hitze zu schleppen mit immer denselben elf Fragen für jeden, der an die Tür kam und bereit war, mir einige Minuten seiner Zeit zu opfern. Meist blieben die Türen geschlossen und die Fragen unbeantwortet, was aber nicht weiter ungewöhnlich war, auch nicht in einer eher freundlichen, gutbürgerlichen Gegend wie dieser. Dennoch, nachdem ich meinen Brummschädel über ein Dutzend Auffahrten zu Häusern geschleppt hatte, die leer waren oder doch so aussahen, war ich kurz davor aufzugeben und mir den Rest des Tages freizunehmen. Ich weiß nicht, was mich veranlasste, es ein letztes Mal zu versuchen, ehe ich zu dem zurückkehrte, was als mein Zuhause durchging. Vielleicht dachte ich daran, was Laurits sagen würde, wenn ich wieder einmal, wie so oft, mit leeren Händen zurückkäme; vielleicht war es auch schlicht Neugier: Jean Culvers Haus stand schließlich nicht einmal auf meiner Liste, was seltsam war, da Laurits es mit diesen Dingen sonst sehr genau nahm.
Laurits: Er war der Grund, warum ich mich hier draußen aufhielt; glühend, verschwitzt, verkatert, mit einer Zunge wie Schleifpapier und Krämpfen in den Beinen. Laurits – nichts weiter, kein Vorname, nur Laurits, was, wie er behauptete, Estnisch sei. Mein Freund, mein Mitbewohner und angeblich auch mein Mitarbeiter – nur, wie er dieses Projekt für eine Gemeinschaftsarbeit halten konnte, blieb mir schleierhaft, da ich die Einzige war, die durch die Hitze stolperte, der Türen vor der Nase geschlossen wurden, Zielscheibe für Spott und Mitleid oder auch beides. Ich wusste nicht, was ich tat, oder warum ich es tat, denn als ich ihn bat, es mir zu erklären, antwortete er, ich bräuchte mich nur an die Anweisungen zu halten, die er mir gegeben hatte: Suche dir eine Gegend aus, mehr oder weniger vorstädtisch, wo sich auch tagsüber vielleicht Leute zu Hause aufhalten – alte Leute sind immer die besten Kunden –, und stell die vorbereiteten elf Fragen. Fragen wie: Woran erinnern Sie sich aus Ihrer Kindheit? Was war der glücklichste Augenblick in Ihrem Leben? Wenn Sie in anderer Gestalt wiedergeboren werden könnten, wofür würden Sie sich entscheiden?
»Und was dann?«, fragte ich. »Ich meine, mal angenommen, sie reden mit mir, soll ich sie dann was unterschreiben lassen? Oder kann ich einfach loslegen und mit der Aufnahme beginnen?«
»Keine Aufnahme«, sagte er. »Wir brauchen nur die Geschichten.«
»Also schreibe ich sie auf.«
»Nein. Du machst dir bloß Notizen. Keine wortwörtliche Mitschrift, nichts dergleichen. Nur gerade genug, damit du, wenn du wieder hier bist, dich mehr oder weniger an das erinnern kannst, was sie gesagt haben.«
»Mehr oder weniger?«
»Ja.« Er sah mich aufmerksam an, um herauszufinden, ob ich verstanden hatte, was von mir erwartet wurde. Er hatte mir, mehr als einmal, erzählt, dass er immer sehr präzise wisse, was er wolle, dass es ihm nur schwerfalle, es anderen Leuten zu erklären. »Ich möchte, dass du dir die Geschichten anhörst, dann nach Hause kommst und sie mir mit eigenen Worten nacherzählst. So gut du dich erinnern kannst. Es braucht nicht perfekt zu sein. Nur das, woran du dich erinnerst – und vielleicht, hoffentlich, fügst du noch Eigenes hinzu.«
»Hinzufügen?«
»Ja.« Er lächelte. »Kleine … Verschönerungen.«
»Und was dann? Filmst du mich, wie ich die Geschichte anderer Leute erzähle?«
»Vielleicht.«
»Und du bestimmst die Fragen.«
»Aber ja.« Sein Lächeln wurde breiter. »Darin besteht mein Teil der Zusammenarbeit.«
Das war so typisch für ihn. Er klagte, dass er es schwierig fände, etwas zu erklären, dann aber hielt er seine Erklärungen absichtlich vage und reicherte sie noch mit einem Hauch Absurdem an. So war Laurits, der – ja, was eigentlich war? Ein Künstler? Ein Filmemacher? Nein – niemand gab sich noch die Mühe, Filme zu machen, jedenfalls nicht laut Laurits. Zumindest nicht, wie man sie früher gemacht hatte. Heutzutage war jeder ein Anthropologe. Und dennoch drehte er Filme, stellte vielmehr Collagen aus gefundenem Filmmaterial her, um von ihm selbst gedrehte Szenen verlängert, die, auch wenn sie keine Geschichte erzählten und meist von woanders Stammendes, aus Kontexten Zusammengesetztes enthielten, doch immer noch Filme waren. Laurits gehörte zum Fachbereich Creative Arts am Scarsville College; er bekam Stipendien und Geld aus dem Forschungsfond zur Förderung seiner Arbeit; er besaß einen Doktor in Filmwissenschaften und gab Seminare über Literatur und Film, aber er sei kein Filmemacher, behauptete er, sondern Anthropologe. Filmemacher erzählten Geschichten, selbst wenn sie das nicht wollten, er aber interessiere sich nicht für Geschichten. Für Laurits war eine Geschichte nur eine Schnur, auf der die wahren Perlen aufgereiht wurden. Stattdessen wollte er Atmosphäre, Textur, Wetter. Wenn Menschen Geschichten erzählen, sagte er, lügen sie, was die Ereignisse betrifft, aber nicht über die anderen Dinge, da lügen sie nicht – zumindest nicht absichtlich.
Laut Laurits war dies das Evangelium der Erzähltheorie. Ich lief durch die Junihitze, zog von Tür zu Tür als Teil einer anthropologischen Studie über die verschiedenen Weisen von Menschen zu lügen, wenn sie sich an die Vergangenheit erinnerten. Wenigstens meinte ich, deshalb hier draußen zu sein. Bei den meisten Projekten tat Laurits selbst gar nichts. Er gab seinen sogenannten Mitarbeitern nur eine ungefähre Anleitung – er hatte mehrere Mitarbeiter, die alle so verwirrt und auf Erklärungen angewiesen waren wie ich – und ließ sie dann die Einzelheiten herausfinden. Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen war, dass ich mit ihm zusammenlebte. Wir teilten uns eine Wohnung. An den meisten Abenden betranken wir uns. Und manchmal liebten wir uns, wobei ich nicht weiß, ob Liebe hier das richtige Wort ist.
Ich lernte Laurits im Sidetrack kennen, einer Bar, die am Scarsville College einem Treffpunkt für künstlerisch angehauchte Studenten noch am nächsten kam. Hinter mir lagen gerade die Anfangswochen meiner zweiten Collegekarriere. Die erste hatte ich aufgegeben, als mein Dad gestorben war; und nachdem ich vergebens darauf gewartet hatte, dass sein Geist mich heimsuchte, bewarb ich mich am Scarsville College um einen Platz, den ich zu meiner Überraschung auch bekam. Das Haus in Stonybrook gab es da schon nicht mehr, und ich hatte kaum noch Geld. Um Miete zu sparen, bezog ich ein billiges Zimmer in der unschönsten Gegend der Stadt und aß nichts weiter als Reis und Obst. Dad war seit Monaten tot, aber ich wachte noch jeden Morgen panisch mit dem Gedanken auf, dass es ihn eigentlich nie gegeben hatte. Dass ich ihn nur geträumt hatte – vielmehr, dass er ein ganz anderer als der gewesen war, den ich gekannt und dass ich ihn mir nur so vorgestellt hatte, wie ich ihn gern gehabt hätte. Ehrlich gesagt, wäre er zurückgekommen und hätte in meinen Kopf sehen können, hätte er sich wohl selbst nicht wiedererkannt. In diesem Teil der Stadt gab es eine andere Art Dämmerung, ein langsames, unverbindliches Licht, das durch die Nebenstraßen sickerte und zwischen den Häusern gelegentlich auf Inseln früherer Zeiten stieß, zerbrochene Blumentöpfe, kaputte Zäune und Höfe, in denen es früher Hunde gab, wo sich heute aber nichts weiter als Glasscherben und ausgelaugte Erde fanden. Alles, nur kein Zuhause. Zu Hause war es so – frisch. Sauber. Sonne auf den...