Burnside | Haus der Stummen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Burnside Haus der Stummen

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13018-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-13018-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Psychologische Spannung literarisch verdichtet - John Burnsides erster Roman endlich auch auf Deutsch.
John Burnside ist einer der faszinierendsten Literaten unserer Zeit, der in seinen Werken immer wieder die Abgründe der menschlichen Natur erkundet. Bereits in seinem ersten Roman zeigt sich Burnsides Meisterschaft: In spannungsgeladenen Sätzen zeichnet er das Porträt eines jungen Mannes, der von maßlosem Forschergeist in den Wahnsinn getrieben wird.

John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit 'Lügen über meinen Vater' (2006), 'Wie alle anderen' (2010), 'Über Liebe und Magie - I put a spell on you' (2014) und 'What light there is - Über die Schönheit des Moments' (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband 'So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe'. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.
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Nach dem Vorfall mit Karen Olerud blieb ich mehrere Wochen daheim und konzentrierte mich auf meine Recherchen. Ich hätte auch ständig zu Hause arbeiten können: Hier war es ruhig, und ich hatte, was ich brauchte; niemand kam vorbei. Manchmal las ich die ganze Nacht oben im Arbeitszimmer, saß da, allein, umgeben von Mutters Büchern und nahm alles um mich herum stärker wahr, die Haut gespannt wie das Fell einer Trommel, jedes Geräusch ein Pochen entlang des Rückgrats, und ich fühlte jeden Luftzug, jede Temperaturveränderung. Ich spürte auch, wie das Wild durch den Wald zog oder sich der Hecke näherte, hörte Hunde und Füchse aus Kilometern Entfernung bellen. Um drei Uhr morgens ging ich dann meist nach draußen und stand im Garten, schaute zu den Sternen auf, schmeckte die kühle Nachtluft und fühlte mich, als sei ich der letzte Mensch im Universum, der einzige Beobachter, der all dies möglich machte. Die Besuche bei Karen Olerud hatten mir meine Einsamkeit in diesem Haus noch bewusster gemacht, dennoch reizte es mich nicht, zu ihr zurückzukehren. Wenn ich mitten am Tag manchmal innehielt und an ihr feuchtes Fleisch dachte, verdrängte ich das Bild gleich wieder. Ich hatte kein Verlangen mehr nach dem Körperlichen, wollte den Leib transzendieren. Manchmal nahm ich von den Medikamenten, die Mutter zurückgelassen hatte, lag halb bewusstlos auf ihrem Bett, versank in Träume, wurde wieder wach und spürte, wie sich mein Körper auflöste, spürte, wie mein Geist am Rand eines anderen Bewusstseinszustandes schwebte, an der Schwelle zu etwas Neuem.

Auf diese Weise hätte es weitergehen können, hätte ich beim Einkaufen nicht eines Nachmittags beschlossen, zur Bücherei nach Weston zu fahren. Sie war klein; in den Regalen standen vor allem Unterhaltungsromane und Sachliteratur über wahre Verbrechen, dazwischen einige Biografien, Bücher über Gartenarbeit, Heimwerken, Selbsthilfe, Astrologie und eine unerklärlich große Auswahl von Bänden über Hundezucht und Oldtimer. Die Präsenzbibliothek nahm eine ganze Seite des Raumes ein und enthielt großformatige Bücher, Werke zur Lokalgeschichte sowie Enzyklopädien und Wörterbücher. Als ich kam, war sonst niemand zu sehen. Ich suchte mir ein Buch und schlug es auf. Die Ruhe verblüffte mich, aber auch das Gefühl, vor langer Zeit schon einmal hier gewesen zu sein – kein Déjà-vu, eher die Andeutung einer verlorenen Erinnerung, die vage Vision eines lang vergangenen Sommertages, an dem ich zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein musste. Plötzlich erinnerte ich mich, in genau diesem Raum gesessen und mich durch Wörterbücher gearbeitet zu haben. Ich hatte Wörter wie »Seele«, »Geburt« oder »Sprache« in verschiedenen Sprachen nachgeschlagen, weil ich die Etymologie begreifen und wissen wollte, was die Menschen darunter verstanden. Damals war ich davon überzeugt gewesen, dass die Sprache mit der Welt korrespondierte, dass grundlegende Wahrheiten allein durch die Wahl des Wortes mitgeteilt wurden: Wenn es ein Wort gab, dann gab es das aus gutem Grund, denn wie unbestimmt und unbefriedigend seine jeweilige Definition auch sein mochte, wies doch allein die Tatsache, dass sich ein Wort wie »Seele« in jeder Sprache fand, darauf hin, dass es etwas geben musste, worauf sich dieses Wort bezog.

Zu der Zeit hatte ich bereits damit begonnen, lebende, im Wald gefangene Tiere aufzuschneiden und nach dem Rhythmus zu suchen, der flüchtigen Wärme, die ihr Wesen ausmachen mochte. Ich hatte die Schönheit der Anatomie kennengelernt: Alles war bis ins Kleinste geordnet, jedes Tier eine feuchte, filigrane Maschine aus Gewebe, die man in winzigste Bestandteile auseinandernehmen und untersuchen konnte. Das hatte ich zuvor nicht gewusst. Bislang war ich ein bloßer Beobachter des Verfallsprozesses gewesen; mit der ersten Vivisektion aber wurde ich zu einem aktiven Teilnehmer. Ich fühlte mich, als hätte ich ein geheimes Reich betreten, ein Reich, in das ich mir mit Zange und Skalpell Einlass verschaffte. Lange war ich glücklich. Ich spürte, mit einiger Anstrengung müsste es möglich sein, die Wahrheit zu entdecken.

Mit einem Mal änderte sich das alles. Was ich auch tat, irgendetwas glitt mir durch die Finger, entging der Klingenspitze. Also begann ich, über andere Möglichkeiten, neue Horizonte nachzudenken. Ich wusste nicht, wo die Seele hauste, fürchtete aber plötzlich, dass sie gar nicht im Körper steckte. Nur – wenn nicht dort, wo dann? Wenn nicht in Fleisch und Blut oder in den Synapsen des Hirns, dann musste sie woanders sein. Vielleicht war sie ja gar nichts Körperliches. Vielleicht war sie ein Prozess wie der Gedanke, wie ein Gespräch. Wenn die Bestandteile des Körpers Sprache und Gedanke waren, dann waren die Bestandteile von Sprache und Gedanke Wörter und Grammatik. Genau das hatte Mutter schon immer behauptet: Ein Geschöpf ohne Sprache ist ein Geschöpf ohne Seele. Wollte ich die Seele kennen, musste ich die Sprache kennen. Es schien so offensichtlich, dass es mich überraschte, nicht früher darauf gekommen zu sein. Und so hatte ich meine wahre Berufung gefunden. Wollte ich die Seele sezieren, würde ich eine neue Methode anwenden und andere Fähigkeiten entwickeln müssen.

Diese plötzliche Erinnerung änderte mein Leben. Ich begriff, dass meine wahre Berufung dort ihren Ursprung hatte, in der Bibliothek von Weston, zwischen Regalen mit Büchern über Fischzucht und Polarexpeditionen. Ein gänzlich sentimentaler Impuls entschied mein Schicksal, eine unverbürgte nostalgische Erinnerung, doch sie wies den Pfad, der mich zu Lillian und den Zwillingen führte. Wäre dies nicht geschehen, dann wäre etwas anderes geschehen, könnte ich heute behaupten, und das stimmt, doch kommt es stets auf den Weg des Schicksals an, auf die den Dingen innewohnende Ordnung, die dazu führt, dass wir uns so und nicht anders entscheiden, weshalb jede Wahl, die wir treffen, und mag sie noch so unbedeutend scheinen, letzten Endes maßgeblich zu sein vermag.

***

Ich begann, einmal die Woche die Bücherei zu besuchen, nahm in der Präsenzbibliothek Platz und machte mir ausgiebig Notizen, griff wahllos Bücher aus den Regalen und suchte nach einer Verbindung, die das Geheimnis offenbarte. Ich wusste, es war sinnlos, einer solchen Frage systematisch nachgehen zu wollen, da jede Methode, jeder Plan die gefundene Information durch eine eigene künstliche Logik verzerren musste. Wenn ich einer bestimmten Idee oder einem methodischen Ansatz folgte, würde ich manches übersehen und anderem ungebührliches Gewicht beimessen, also las ich wahllos, zog die Bände von Enzyklopädien heraus, Nachschlagewerke, Bücher über Geschichte und Mythologie, machte Fotokopien und verbrachte ganze Tage damit, obskure Kommentare zum Analogiezauber oder zum Alten Testament zu entschlüsseln. Fand ich einen Hinweis auf einen Text, der mir unbekannt war, bat ich Miss Patterson, die einzige Vollzeitbibliothekarin, ihn für mich zu bestellen. Mit Miss Patterson verstand ich mich auf Anhieb gut: eine zierliche Frau mittleren Alters, die jünger aussah, als sie war, stets makellos gekleidet, meist im klassischen Twinset, dazu eine schlichte Perlen- oder Halbedelsteinkette. Ihr Haar war tiefschwarz, stellenweise aber vorzeitig ergraut, was ihr, zusammen mit der Goldrandbrille, ein gelehrtes, leicht spöttisch wirkendes Aussehen verlieh. Manchmal wirkte sie wie eine adrette Großmutter, die ihr Strickzeug beiseitegelegt hatte, um einige Bücher einzuräumen; an anderen Tagen kam sie mir wie ein Mädchen vor, das sich als alte Frau verkleidet hatte und einen festen, wohlgerundeten Körper mitsamt dessen lebhafter Energie hinter dem Äußeren einer respektablen Dame verbarg. Meist behandelte sie jeden Besucher wie einen Eindringling in einen letztlich privaten Raum: Sie gab sich höflich, aber distanziert und beantwortete Fragen geduldig sowie mit beeindruckender Gründlichkeit, ließ aber niemals zu, dass ihre Kunden sich rundum willkommen fühlten. Auf jede Anfrage reagierte sie mit einer gewissen Beiläufigkeit, nichts wurde allzu ernst genommen.

Mir gegenüber war sie von Anfang an anders. Wenn ich in der Präsenzbibliothek saß, spürte ich gelegentlich ihren anerkennenden Blick, so als glaubte sie, dass ich mit etwas Wichtigem beschäftigt sei und ihre Bibliothek durch die Anwesenheit eines echten Gelehrten geehrt wurde. Wenn ich eine Anfrage an sie richtete oder eine Fernleihe beantragte, fragte sie mich manchmal, wie ich mit der Arbeit vorankomme. Obwohl ich ihr nie gesagt hatte, was ich mit meinen Nachforschungen bezweckte, und sie nur die Titel der Bücher kannte, die ich bestellte, bekundete sie reges Interesse an meiner Arbeit. Vermutlich wollte sie nur, dass ich ihr irgendetwas erzählte, dass ich sie ins Vertrauen zog, sie in irgendeiner Weise teilnehmen ließ, doch blieben meine Antworten stets unverbindlich, und ich achtete sorgsam darauf, keinesfalls den Eindruck zu vermitteln, dass mir ihr Interesse behagte. Dennoch ließen mich die Tage in der Bibliothek und die kurzen, belanglosen Wortwechsel, diese Momente offensichtlicher Bewunderung, glauben, ich hätte ein Ziel und würde vorankommen. Dann überkam mich ein seltsam angenehmes Gefühl der Befriedigung, und ganz unabhängig davon, wie viel ich tatsächlich gelernt hatte, schien mir meine Arbeit durch diese Recherchestunden bedeutend, beinah professionell.

Meist verließ ich das Haus nur, um in die Bibliothek zu fahren. Auf dem Hinweg nahm ich die Hauptstraße, fuhr auf dem Rückweg aber über die Hügel, da dort kaum Verkehr herrschte. Abends, wenn es schon dunkel wurde, fühlte ich mich mit der Erde verbunden, so als bewegte sich der Wagen in einem Strom aus Eichwurzeln und Benzin. Das Scheinwerferlicht tastete die Dämmerung ab, fiel auf die Konturen einer Eule im Dornendickicht, auf die Augen eines...


Robben, Bernhard
Bernhard Robben, geboren 1955, ist seit 1992 als Übersetzer tätig. Er übertrug und überträgt u.a. die Werke von Ian McEwan, John Burnside, John Williams und Salman Rushdie ins Deutsche. 2003 wurde er mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt. Er lebt in Brunne, Brandenburg.

Burnside, John
John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie – I put a spell on you« (2014) und »What light there is – Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.



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