E-Book, Deutsch, 226 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 650 g
Buschmann / L'Audace Angry Cripples - Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7011-8325-8
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 226 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 650 g
ISBN: 978-3-7011-8325-8
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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THAT’S MY MAGIC
Es war der letzte Tag in den Sommerferien 2002 und ich hatte die Entscheidung getroffen, ab dem nächsten Tag mit einem Kopftuch in die Schule zu gehen. In den Sommerferien hatte ich zu Hause die Zeit und den geschützten Raum, es anzuprobieren, mit meinen Freundinnen damit rauszugehen und zu lernen, wie ich es selbstständig binde. Ich bin in einer muslimisch gläubigen Familie aufgewachsen und Glaube hat für mich eine große Rolle gespielt. Zu der Zeit habe ich viel Zeit in Krankenhäusern verbracht und Gebete von Papa waren, seitdem ich denken konnte, Bestandteil von Krankenhausaufenthalten. Bei jedem Unfall, vor jeder OP, bei tagelangen Schmerzen, legte Papa seine Hand auf eine meiner Körperstellen und betete. Ich schloss die Augen und glaubte fest daran, dass diese Gebete mich beschützen und weitertragen würden. Wir sprachen nicht viel darüber, ob ich irgendwann ein Kopftuch tragen würde oder nicht. Mein Papa kommunizierte zwischendurch, dass er es schön fände, wenn ich eins tragen würde. In der Gemeinde erzählten alle, dass ich ja keins tragen bräuchte, weil ich ja behindert sei. Sie waren fest der Überzeugung, dass Gott mir mit meiner Behinderung eine große Herausforderung gegeben hätte und ich somit von vielen »Pflichten« im Glauben »befreit« sei. Meine »Last« sei groß genug und ich müsse keine Weitere auf mich nehmen. Ich wurde stets als Opfer gesehen und damit irgendwie ausgeschlossen. Für mich galten, laut dieser Menschen, andere Regeln. Ein Freifahrtschein also?
Mein Glaube war stark, allerdings kann ich an einer Hand abzählen, wie oft ich, nachdem ich im Alter von 6 Jahren meinen ersten Rolli bekommen hatte, in einer Moschee war.
Diese waren nämlich nicht so einfach für mich zugänglich. Moscheen werden ohne Schuhe betreten, da der Boden mit Teppich ausgelegt ist, damit alle auf dem Boden beten können. Es war mir immer sehr unangenehm, mit meinen dreckigen Reifen diesen Raum zu betreten und an den Rand zu fahren. Noch schlimmer hat es sich angefühlt, wenn meine Reifen vorher sauber gemacht wurden, ich viel Aufsehen erregte und mir Menschen mit viel Mitleid und übergriffigem Verhalten begegneten. Also habe ich schnell Moscheen gemieden.
Nach dem 11. September 2001 war die »Toleranz« der Almans gegenüber Muslim*innen deutlich gesunken und mir war klar, dass meine Lehrer*innen und Mitschüler*innen von meinem Auftreten mit einem Kopftuch nicht begeistert sein würden. Also bereitete ich mich mental darauf vor, glaubhaft rüberzubringen, dass ich nicht dazu gezwungen worden war. Ich weiß noch genau, wie meine Lehrer*innen die Köpfe zusammensteckten, nachdem sie mich zum ersten Mal damit gesehen hatten, und darüber redeten.
Darauf folgte eine der ersten Performances meines Lebens. Ein Gespräch, bei dem ich keine Zweifel darüber zurücklassen durfte, dass ich dieses Kopftuch selbstbestimmt aufgesetzt hatte. Ich spreche von Performance, da ich mit zwölf Jahren natürlich noch gar nicht wissen konnte, was es bedeutete, dieses Kopftuch zu tragen – ich meine mit all seinen Konsequenzen. Anstatt mich darauf konzentrieren zu können, war ich immer einerseits damit beschäftigt, allen Almans die Unsicherheiten zu nehmen, damit sie bitte nicht das Jugendamt anrufen, und andererseits damit, mich in der Gemeinde vor Komplimenten und Lobeshymnen nicht retten zu können. Sie haben mich fast zu einer Heiligen gemacht. Ich konnte mich zumindest vor einer der Seiten retten, der Gemeinde, die ich seitdem gemieden habe. Diese habe ich seither nicht getroffen und konnte immer schön meine Behinderung als Ausrede nutzen, sodass es auch nicht groß hinterfragt wurde. LOL. Mit den Almans bin ich die Strategie gefahren, mich wie eine Vorzeige-Kanakin* zu verhalten: Keine türkische Musik mehr und zu Hause habe ich immer weniger türkisch gesprochen. Das Kopftuch habe ich mit der Zeit immer »westlicher« gebunden und mich immer mehr geschminkt.
2018 durfte ich von der queeren und behinderten Performance-Künstler*in Claire Cunningham eine Show mit dem Titel »Guide Gods« erleben. In dieser hat Claire den Stellenwert und die Bedeutung von Behinderung in Religionen aufgearbeitet, indem Claire Behinderte unterschiedlichster Religionen befragt hatte.
Das Ergebnis war für mich persönlich nicht überraschend, jedoch sehr empowernd, weil ich verstand, dass die Schuld nicht bei meiner Religion lag, sondern bei den Menschen, die über Generationen hinweg schädliche Narrative über Behinderung vermittelten und es immer noch tun. In sämtlichen Religionen.
Die ableistische Annahme, dass Behinderte anders behandelt werden müssen und für sie im Glauben andere Regeln gelten, ist nicht nur in der muslimischen Community breit vertreten. Im Laufe meines Lebens habe ich viele unterschiedliche Theorien zu der Rolle der Behinderten im Glauben gehört. Von der Bestrafung Gottes über die Heiligsprechung bis hin zum vom Teufel besessen zu sein, gibt es viele hochgradig diskriminierende Annahmen.
2012 habe ich mein Kopftuch abgelegt. Ich konnte es nicht länger als 10 Jahre aushalten, einer weiteren Dimension der Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Kurz vor meinem Studium habe ich diese Entscheidung getroffen, in der Hoffnung getroffen, schnelleren Anschluss in der Uni zu finden. Ich wusste, dass ich es aufgrund von ableistischen Verhaltensmustern der Studierenden und Professor*innen sowieso schwerer haben würde. Und ich nutze hier bewusst nicht die Formulierung: »Aufgrund meiner Behinderung«, denn nicht unsere Behinderungen sind das Problem, ableistische Strukturen und ihre schädlichen Narrative sind es.
Mit dem Beginn des Studiums habe ich den ersten Schritt in die »nicht-behinderte Welt« gemacht. Zuvor wurde ich, wie viele Behinderte in Deutschland, immer in Sondereinrichtungen unterrichtet und Nicht-Behinderte kannte ich nur durch ein paar Freundinnen aus der Nachbarschaft.
Mein internalisierter* Ableismus und Rassismus hatten mit Beginn des Studiums ihre Höhepunkte erreicht. Ich habe, sooft es ging, versucht, Barrieren zu ignorieren, sie unsichtbar zu machen und so »alman« wie möglich zu sein. Nächste WG-Party im 4. Stock? Kein Problem, ich laufe hoch! In dieser Zeit habe ich sehr viel Alkohol konsumiert und bin an meine körperlichen und psychischen Grenzen gestoßen. Alles nur, um dazuzugehören, um vor Problemen zu fliehen, um irgendwie ein »richtiges Studi-Leben « zu führen. Komme was wolle. Ich habe mich wie ein Wirbelsturm gefühlt.
Jedes »Kübra, wenn ich mit dir bin, vergesse ich deine Behinderung!«, war für mich wie ein Sportabzeichen, das ich mir verdient hatte.
»Du bist so unkompliziert und so lebensfroh«, hat mich beflügelt und ich habe mich teilweise wie eine Heldin gefühlt. Woohoo! Dabei habe ich nur ein einziges Mal den Mut gehabt, mit einer behinderten Freundin und Kommilitonin die Uni und die Tutor*innen öffentlich zu kritisieren, weil sie es nach 3 Jahren mit uns im Studiengang nicht hinbekommen haben, eine barrierearme Location für eine Party zu organisieren.
Man dürfte meinen, dass sich eine Hochschule mit angehenden sogenannten Heilpädagog*innen und Sozialarbeiter*innen bestimmt einsichtig gezeigt hätte und beschämt eine Lösung gefunden hätte. Pustekuchen. Sie haben uns als »undankbar, böse« und »aufmerksamkeitsgeil«, dargestellt. »Wir hätten euch ja tragen können«, war nur ein Kommentar von vielen. Während meiner gesamten Studienzeit habe ich nur noch , deutsche Freund*innen gehabt und meine Türkischkenntnisse haben sich komplett verabschiedet.
Ich konnte zu der Zeit an einer Hand abzählen, wie viele BIPoC* überhaupt an dieser Hochschule studierten. Ich wusste, dass dieser Ort eigentlich nicht für mich gemacht war. Egal wie sehr alle anderen versuchten, das Gegenteil zu behaupten, war ich mit meiner Behinderung und meinem Nicht--Sein**, ein Unikat an diesem Ort.
Wie sollte ich unter diesen Bedingungen eine angemessene Entwicklung meiner Persönlichkeit, meiner Identitäten, meiner selbst machen?
Die Hochschule wurde für mich schnell zu einem Ort des Unwohlseins, zumal ich viel arbeiten musste, um mir das Studium und meine Studibude überhaupt finanzieren zu können. Zwischen all dem fragte mein Papa regelmäßig, wie die Uni liefe und wann ich fertig werden würde. Er sagte, dass er so stolz auf mich wäre, weil ich studierte. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und ihm zeigen, dass ich mit meiner Behinderung gar nicht so schlecht dran war, wie ihm von anderen immer gespiegelt worden war. Eigentlich hat er auch nie daran gezweifelt, aber ich wollte, dass dies auch so bleibt und kein Zweifel daran aufkommt. Der Druck war also sehr hoch.
Als ich kaum noch Kapazitäten hatte weiterzustudieren, traf ich eine Person, durch die ich erfuhr, dass ich nicht hetero war. Diese Erfahrung machte...




