E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Caboni Der Zauber zwischen den Seiten
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22113-3
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-22113-3
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit sie denken kann, ist Sofia von Büchern fasziniert. Sie liebt das Rascheln der Seiten, den Geruch des Papiers und vor allem die darin beschriebenen Welten. Schon immer haben sie der schüchternen Frau geholfen, der Realität zu entkommen. Als sie eines Tages in einem Antiquariat ein altes Buch kauft, findet sie darin enthaltene Manuskripte und Briefe einer gewissen Clarice, die Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt haben soll. Sofia und Clarice scheinen viel gemeinsam zu haben, und Sofia spürt eine Verbindung zu ihr. Um mehr über sie zu erfahren, reist Sofia quer durch Europa. Dabei stößt sie nicht nur auf eine unglaubliche Liebesgeschichte, sondern findet endlich auch ihr eigenes Glück …
Cristina Caboni lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf Sardinien, wo sie sich leidenschaftlich um die Imkerei ihrer Familie kümmert. Ihr Debütroman »Die Rosenfrauen« war ein internationaler Erfolg und stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seitdem inspiriert Cristina Caboni ihre Leser*innen mit Geschichten über mutige Protagonistinnen, die sich nach einer Krise neu erfinden. Vor der wunderschönen Kulisse Italiens, zwischen verwunschenen Dörfern und flirrenden Sommertagen, wachsen sie über sich hinaus und finden das Glück.
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1
»Denn ein Herz das sucht, fühlt wohl, dass ihm etwas mangle, ein Herz das verloren hat, fühlt, dass es entbehre.«
Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften
Das Buch war ein Meisterwerk der Buchbindekunst, der Einband aus rotem Leder mit kunstvollen Ornamenten aus Blattgold. Eine Erstausgabe von Goethes Wahlverwandtschaften mit Unterschrift und Widmung des großen Dichters. Geschützt in einer Glasvitrine stehend, strahlte der Band etwas Geheimnisvolles aus, das die Besucher in seinen Bann zog.
Die Gäste der Wohltätigkeitsgala der Galileo-Gesellschaft wirkten beeindruckt. Einige wussten um den literarischen Wert des Werkes, andere musterten neugierig sein aufwendig gestaltetes Äußeres. Wie konnte ein vor mehr als zweihundert Jahren verfasster Roman ein so großes Interesse auslösen?
Sofia Bauer wartete geduldig, und als sie endlich vor der Vitrine stand, klopfte ihr Herz bis zum Hals, tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Aufmerksam betrachtete sie Einband und Titelseite.
Dieses Buch hatte eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. Der Dichter selbst hatte es einer geheimnisvollen Unbekannten geschenkt, darauf deutete jedenfalls die Widmung hin, doch war es dieser Dame irgendwann gestohlen worden. So weit die Gerüchte. Danach galt es lange als verschollen, und erst kürzlich hatte man es in einem kleinen Antiquariat in Bukarest wiedergefunden.
Als Sofia erfahren hatte, dass es in ihrer Heimatstadt Rom ausgestellt werde, hatte sie alles darangesetzt, eine Einladung zu dieser Gala zu bekommen. Was nicht allzu schwer gewesen war, da sie einige Jahre in der Bibliotheca Hertziana gearbeitet hatte.
»Einfach wunderschön.«
Das war es in der Tat. Sofia lächelte dem jungen Mann neben sich zu, der mit diesen Worten seiner Bewunderung Ausdruck verliehen hatte. Der Band war erstaunlich gut erhalten, am liebsten hätte sie ihn in die Hand genommen, durch die Seiten geblättert, den Geruch eingesogen. Sie hatte den Eindruck, als wünschte sich das Buch, angefasst zu werden, statt hinter Panzerglas jeder Berührung entzogen zu werden.
Um sie herum standen zahlreiche Gäste, die auf den Beginn des Vortrags warteten. Sie grüßte nach rechts und links, suchte indes weder ein Gespräch, noch wurde sie angesprochen. Seit ihrer Hochzeit gehörte sie nicht mehr dazu, sie war aus dieser Welt ausgeschieden. Zurückgezogen in einer Ecke stehend, lauschte sie den Ausführungen des Sekretärs der Galileo-Gesellschaft, der über die ungewöhnlichen Umstände sprach, unter denen man dieses Exemplar von Goethes Meisterwerk wiederentdeckt hatte.
Kaum hatte er das Rednerpult verlassen, verließ Sofia unauffällig den Raum.
Kurze Zeit später stand sie auf der Terrasse, eine kühle Brise fuhr ihr durchs Haar und bewegte den Saum ihres Kleides. Sie ging langsam die Stufen zum Park hinunter und schaute sich interessiert um. Früher hatte sie häufig an solchen Veranstaltungen teilgenommen, das letzte Mal allerdings lag bereits geraume Zeit zurück. Sie ging ohnehin höchst selten aus, erst recht nicht allein. Und auch jetzt fühlte sie sich unsicher, als wäre sie aus Glas und könnte beim kleinsten Stoß zerbrechen.
Während sie durch den Park schlenderte, kamen ihr die Wahlverwandtschaften wieder in den Sinn. Die Liebe riss alles mit. Rationales Denken und Vernunft waren keine Hindernisse auf ihrem Weg. Mit einer gewissen Bitterkeit fragte sie sich, ob es jemals eine Liebe geben würde, die sich allein aus sich selbst nährte.
Die Nacht war lau, der Herbst ließ sich Zeit. Die Blumen blühten noch in voller Pracht, der Sommer schien nicht weichen zu wollen. Eine Übergangszeit, eine Klammer zwischen dem Davor und dem Danach, die sich nicht einigen konnten, wie es weiterging.
Der Ort, an dem die Galileo-Gesellschaft die Gala organisiert hatte, war eine der ältesten Villen Roms. Ein faszinierendes Ambiente, das sorgfältig restauriert worden war. Wenngleich es inzwischen dunkel war, konnte Sofia die Überreste eines Turms erkennen. Ein Säulengang führte zu den Blumenbeeten, die Individualität und Formbewusstsein verrieten. Der Gartenarchitekt liebte offenbar klare Linien und hatte sie bei der Gestaltung des Parks konsequent umgesetzt. Und noch etwas strahlten die Beete aus: Frieden. Hier wollte man verweilen und ausruhen. Einfach nur das tun, wonach einem war, hier konnte man mit sich ins Reine kommen, ganz man selbst sein.
Am Haupteingang stand ein Wachmann. »Würden Sie mir bitte ein Taxi rufen?«
»Aber natürlich, Signora.«
Sofia wartete und schaute gedankenverloren in den Nachthimmel.
»Es dauert etwa zwanzig Minuten, wenn Sie möchten, können Sie gerne im Park warten, ich gebe Ihnen rechtzeitig Bescheid.«
»Danke.«
Sie ging die Allee entlang, an der von Lampen erleuchtete Bänke zum Verweilen einluden. Einige waren besetzt, kein Wunder an einem solch lauen Abend. Sofia schlenderte weiter auf der Suche nach einem ruhigen Platz, an dem sie ungestört sein konnte. Bleierne Müdigkeit überkam sie, selbst das Denken fiel ihr schwer.
Schließlich entdeckte sie eine freie Bank, ließ sich seufzend darauf nieder, legte den Kopf gegen das schmiedeeiserne Gitter und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie über sich die Silhouetten der Baumwipfel und die Sterne am Nachthimmel.
»Nichts zeigt einem so sehr, wie klein und unscheinbar man ist, wie die unendliche Weite des Himmels«, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Sofia fuhr herum.
»Ich bin hier, rechts von Ihnen.«
Sie erblickte einen hochgewachsenen, elegant gekleideten Mann, der an einer Säule lehnte. Er musste schon länger dort stehen, ohne dass er ihr aufgefallen war. Sein Blick ruhte wohlgefällig auf ihr. Sie entspannte sich und schaute erneut zum Himmel.
»Das hängt davon ab.«
Er kam näher. »Von was?«
»Vom Betrachter.«
»Interessanter Gedanke.« Der Unbekannte hielt inne. »Darf ich Sie fragen, was Sie dort sehen?«
Zu ihrer Überraschung antwortete sie ganz spontan und ohne Zögern: »Frieden.« War es das, wonach sie sich sehnte, überlegte sie, bevor sie weitersprach. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich hier einfach aufgetaucht bin, ich war so in Gedanken vertieft, dass ich Sie gar nicht gesehen habe.«
Er wirkte überrascht. »Nicht doch. Wenn ich Sie nicht angesprochen hätte, wüssten wir beide nicht, was wir hier gesucht und gefunden haben. Ich die Einsamkeit, Sie den Frieden. Dann hätten wir uns nicht kennengelernt, was ich sehr bedauert hätte.«
Sofia wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Jedenfalls hatten seine Worte ihr gefallen.
»Sie sind sehr freundlich.«
Eine Weile schwieg er. »Wirklich? Woher wissen Sie das? Wir haben lediglich fünf, sechs Sätze gewechselt, das dürfte kaum für ein Urteil ausreichen.«
Seine Antwort verwirrte sie. Sie erhob sich, schaute hinüber zu der hell erleuchteten hochherrschaftlichen Villa und zu den Gästen, die auf die Terrasse hinaustraten, um frische Luft zu schnappen. Etwas weiter entfernt entdeckte sie einen kleinen Teich, der ebenfalls angestrahlt wurde und dessen Wasseroberfläche sich in der leichten Brise kräuselte.
Es gab Momente, die etwas ganz Besonderes waren, weil sie nicht länger dauerten als einen Wimpernschlag.
Ihre Blicke wanderten zu dem Unbekannten zurück. Sie betrachtete ihn genauer. Sein Äußeres passte zu seiner Stimme. Hohe Wangenknochen, volle Lippen. Ein Dreitagebart, der das markante Gesicht eher interessant als schön wirken ließ.
Warum hatte er so reagiert? Warum wollte er nicht als freundlich wahrgenommen werden? Oder missfiel es ihm einfach, wenn man über ihn urteilte? Sie konnte bloß mutmaßen. Immerhin hatte dieser Mann ihr ein Lächeln entlockt, und das war ihr in letzter Zeit selten passiert. Also verdiente er zumindest eine Antwort.
»Nicht allein das, was gesagt wird, ist wichtig. Häufig bedeutet das Wie viel mehr. Man muss nur genau hinhören. Ich danke Ihnen nochmals und wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab und entfernte sich in Richtung Haupteingang. Ihr Taxi wartete bereits.
»Zur Piazza di Spagna, bitte.«
Sofia wollte nicht gleich nach Hause, denn um diese Zeit war Rom einfach unwiderstehlich. Sie würde noch ein wenig spazieren gehen, zumal es von der Piazza nicht weit war bis zu ihrer Wohnung.
Auf der Fahrt kamen ihr das Buch und die Gefühle, die es in ihr ausgelöst hatte wieder in den Sinn. Und damit auch eine elementare Frage: Warum hatte sie das Leben, das sie so geliebt hatte, aufgegeben?
Bücher waren seit jeher ihre Leidenschaft gewesen, aus ihnen schöpfte sie Kraft und fand Antworten auf ihre Fragen. Bibliothekarin zu sein war mehr als ein Beruf für sie gewesen, sich um Bücher zu kümmern war eine Berufung. Und das hätte sie nicht opfern sollen.
Als sie die Wohnung betrat, war es still. Keine Spur von Alberto. Ihr Ehemann war nicht zu Hause. Sie duschte und ging auf die Terrasse hinaus. Die kühler gewordene Nachtluft ließ sie erzittern, dennoch wollte sie noch etwas draußen bleiben. Sie setzte sich, zog die Knie an die Brust und ließ ihren Gedanken freien Lauf. So konnte es nicht weitergehen, sie musste eine Entscheidung treffen. Im Geist ging sie alle Möglichkeiten durch. Als hinter ihr das Licht anging, drehte sie sich nicht um, sondern blieb reglos sitzen.
Er war wieder da, sie spürte seine Anwesenheit.
»Hattest du einen schönen Abend?«
Sie nickte. »Ja, danke. Und du?«
Wie banal das war, wie sinnlos. Das war ihr...