Calliess / Beichelt | Die Europäisierung des Parlaments | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 447 Seiten

Calliess / Beichelt Die Europäisierung des Parlaments

Die europapolitische Rolle von Bundestag und Bundesrat

E-Book, Deutsch, 447 Seiten

ISBN: 978-3-86793-719-1
Verlag: Verlag Bertelsmann Stiftung
Format: PDF
Kopierschutz: Kein



Nun sollen es die Parlamente richten. Für Legitimität sorgen, demokratische Qualität sichern, en passant Öffentlichkeit für die europäische Sache herstellen, die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen: Alles was auf europäischer Ebene seit Jahren so schmerzlich vermisst wird, ist in den vergangenen Krisenjahren auf den Anforderungszettel der nationalen Parlamente gerutscht. Vor allem auf den des Bundestages, dem nicht nur die Verantwortung zufällt, die - in der Eurokrise anfallenden - größten Summen zu bewilligen, sondern der sich auch einem anspruchsvollen Bundesverfassungsgericht und einer in Finanzfragen empfindlichen Bevölkerung gegenübersieht.
Dabei lautet doch die landläufige Analyse, nationale Parlamente hätten in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung einen schweren Stand. Selbst Parlamente wie der Bundestag, die eine zentrale und gewichtige Stellung in der institutionellen Machtbalance ihrer Staaten haben, litten unter einem effektiven Verlust von Macht und Einfluss, wenn immer häufiger weitreichende Entscheidungen sich entweder ganz der politischen Sphäre entziehen (Wirtschaft, Finanzen) oder auf einer politischen Ebene getroffen werden, die jenseits der nationalen liegt (EU).
Wenn sich also tatsächlich die europapolitische Ambition des Bundestages in der Vergangenheit nicht im notwendigen Umfang entfaltet hat, stellt sich die Frage: Ist das nun anders - nach drei Jahren Schuldenkrise, aufgeregter Debatte, aufsehenerregender Rechtsprechung und intensiver Rechtsreform? Wenn ja, was hat sich verändert? Auf welchen Wegen übt der Bundestag seine europapolitische Macht aus? Mit welchen Zielen? Wer bestimmt den Kurs?
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1 Einleitung
Über viele Jahrzehnte galt der Bundestag als nachgeordneter Akteur in der Europapolitik. Dies galt sowohl für die auf die EU gerichtete Politik der Bundesrepublik als auch im Hinblick auf die politischen Prozesse auf der EU-Ebene. Diese Position des Bundestages, in der er als »Juniorpartner« in der europäischen Politikausübung bezeichnet wurde (Sturm und Pehle 2012), galt indes nur bedingt als problematisch. Im binnenpolitischen Verhältnis wurde weiterhin akzeptiert, dass die Europapolitik im weiteren Sinne zur Außenpolitik gehörte und damit in die Prärogative der Regierung fiel. Und auf der europäischen Ebene wurde das Europäische Parlament als diejenige Institution angesehen, die den europäischen Wählerwillen aufzunehmen hatte und somit für Legitimation sorgen könne. Mithin war wenig verwunderlich, dass der Bundestag nur über gering ausgeprägte Kompetenzen verfügte. Dies änderte sich allerdings – zunächst mit dem Vertrag von Maastricht und der Einführung eines neuen Europaartikels in das Grundgesetz (Art. 23 GG). Jedoch waren die Parlamentarier aus verschiedenen Gründen (auf die wir in den nachfolgenden Ausführungen eingehen) zunächst nicht in der Lage, gegenüber der Bundesregierung aktiv und eigenständig aufzutreten. Noch Mitte der 2000er-Jahre lautete der Tenor der gesamten einschlägigen Forschung, der Bundestag leiste außer einer punktuellen und nachgängigen Kontrolle keinen nennenswerten Beitrag zur Europapolitik. In den letzten Jahren hat sich diese Wahrnehmung grundlegend gewandelt. Zunächst hat der Vertrag von Lissabon die Rolle der nationalen Parlamente aufgewertet. Dies geschah vor allem durch Art. 12 des EU-Vertrages (EUV), der den nationalen Parlamenten in Verbindung mit zwei Protokollen eine aktive Funktion in der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips zubilligt. Während der Lissabon-Vertrag die Parlamente so einerseits aufwertete, bewirkte er andererseits doch auch weitere Kompetenzübertragungen auf die EU-Ebene. Gestützt auf die hierauf gegründete Behauptung der verfassungswidrigen Aushöhlung mitgliedstaatlicher Souveränität (Art. 79 Abs. 3 GG), gab es aus den Reihen des Bundestages Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Das Gericht hielt den Vertrag von Lissabon im Ergebnis zwar für verfassungsgemäß, rückte jedoch unter dem Topos der »Integrationsverantwortung« zugleich den Bundestag verstärkt ins Zentrum der deutschen Europapolitik. Das Konzept einer primär beim Bundestag angesiedelten, aber vom BVerfG jederzeit kontrollierbaren Integrationsverantwortung stellt einen weiteren Grund für den Bedeutungszuwachs des Bundestages dar. Schließlich ist der Bundestag – wiederum mit dem »Rückenwind« des BVerfG, diesmal unter dem Topos der »Budgetverantwortung« – bei der Bewältigung der europäischen Finanz- und Schuldenkrise dort über seine tradierte Rolle als nachträglicher Kontrolleur hinausgewachsen, wo es um haushaltsrelevante Ausgaben, z. B. im Kontext des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), geht. Die Autoren des vorliegenden Buches haben es sich zur Aufgabe gemacht, die neue Dynamik in der parlamentarischen Europapolitik zu erfassen und, soweit möglich, einer ersten Bewertung zu unterziehen. Dabei werden die wesentlichen Ursachenbündel – Ereignisse um den Lissabon-Vertrag, um das Bundesverfassungsgericht und um die Schuldenkrise – in möglichst chronologischer Reihenfolge betrachtet, um die dahin führende Entwicklung samt der beträchtlichen Anpassungen innerhalb des Bundestages besser verstehen zu können. Der Sache entsprechend haben wir versucht, sowohl die rechtlichen als auch die politischen Gegebenheiten des Institutionenwandels zu bearbeiten. Die rechtswissenschaftliche Analyse stellt dabei zum einen die Basis für die Untersuchung der politisch-institutionellen Anpassungen dar. Zum anderen zeigt sich jedoch an vielen Stellen, dass erst ein Bewusstseinswandel der parlamentarischen Akteure die Voraussetzung für rechtliche Neujustierungen gewesen ist. Dementsprechend verzahnen wir in unserer Darstellung die rechts- und politikwissenschaftlichen Untersuchungsteile, um dem Gesamtphänomen, also dem seit einigen Jahren zu verzeichnenden symbolischen und realen Bedeutungszuwachs der parlamentarischen Europapolitik, gerecht werden zu können. Besteht aber aus verfassungsrechtlicher und außenpolitischer Perspektive überhaupt die Notwendigkeit, das Parlament in die Ausgestaltung der Europapolitik stärker einzubeziehen? Im Bereich der Außenpolitik weist das Grundgesetz zunächst ganz klassisch der Regierung die maßgebliche Rolle zu. Sie ist für diese komplexe Aufgabe mit ihren Ministerien, insbesondere dem Auswärtigen Amt, auch am besten ausgestattet. Der Gesetzgeber nimmt im parlamentarischen Regierungssystem Deutschlands zumeist »nur« im Nachhinein ansetzende Kontrollrechte wahr. Seine Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der sog. Auswärtigen Gewalt sind in der Folge begrenzt: Nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bedürfen Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der (nachträglichen) Zustimmung des Gesetzgebers. Allein weil in Art. 59 Abs. 2 GG für die dort genannten Fälle die Form des Gesetzes vorbehalten sei, so das BVerfG (BVerfGE 1, 372, 394), gebe dies dem Bundestag noch kein Recht, (generell) in den (originären) außenpolitischen Zuständigkeitsbereich der Exekutive einzugreifen. Unter Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG fallen alle bedeutsamen völkerrechtlichen Verträge und damit auch die europäischen Verträge: vom EGKS-Vertrag angefangen über den EWG-Vertrag bis hin zum EU-Vertrag. Seit der 1992 erfolgten Verfassungsänderung kommt für alle Verträge, die die Entwicklung der EU betreffen, parallel der sog. Europaartikel, Art. 23 Abs. 1 GG, zur Anwendung. In der Folge ist jeder qualitative, mit der Übertragung von Hoheitsrechten verbundene Schritt der europäischen Integration mit Zustimmung der im Bundestag repräsentierten Bürger (sowie des die Länder repräsentierenden Bundesrates) erfolgt. Seit Einfügung des Europaartikels ist nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG insoweit sogar zumeist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich. Jeder Integrationsschritt durch Vertragsänderung ist also durch den Bundestag in besonderer Weise demokratisch kontrolliert und legitimiert. Damit kann jede Vertragsänderung als erneute demokratische Bestätigung des Prozesses der europäischen Integration verstanden werden. Worin besteht dann aber das viel diskutierte »Demokratiedefizit« des europäischen Integrationsprozesses? Wie hängen Demokratiedefizit und parlamentarische Mitgestaltungslücken zusammen? Warum geriet der als »Vertrag über eine Verfassung für Europa« im Jahr 2003 gestartete und nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden zum bloßen Reformprojekt abgespeckte Vertrag von Lissabon so sehr in die Kritik? Ist – wenn auch nicht aus der Sicht des Rechts, so doch aus der Perspektive der Politik – der jeweils entscheidende Integrationsschritt vielleicht nicht im vertraglichen Kompetenztransfer zu sehen, sondern in der eigentlichen Kompetenzausübung, im Zuge derer die übertragene Kompetenz durch europäische Gesetzgebung ausgefüllt wird? Insoweit kann man dann mit guten Gründen fragen: Ist Europapolitik überhaupt noch Außenpolitik? Oder handelt es sich hier nicht eigentlich um eine neue Form der Politik, eine Art »europäisierte Innenpolitik« (vgl. zum Begriff Calliess 2006 und 2012). Müsste dann aber in europapolitischen Entscheidungen nicht der Bundestag als gewählter Repräsentant des Souveräns, also des Volkes, stärker im Zentrum der Entscheidungsfindung stehen? Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Probleme ist die Demokratiefrage mit guten Gründen umso stärker in den Vordergrund der politischen und rechtlichen Debatte gerückt, je mehr Zuständigkeiten die Mitgliedstaaten an die EU übertrugen. Auch wenn es sich hierbei kaum um ausschließliche Zuständigkeiten der EU, sondern in der Regel um gemeinsam mit den Mitgliedstaaten ausgeübte, sog. geteilte Zuständigkeiten handelt, führt deren Inanspruchnahme durch die EU doch dazu, dass die nationalen Parlamente aufgrund der Sperrwirkung des Unionsrechts Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verlieren (vgl. Art. 2 Abs. 1 und 2 AEUV). Daher erfüllt das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Art. 5 Abs. 3 EUV) eine wichtige Funktion, weil mit seiner Hilfe die Weiche für die jeweilige Handlungsebene gestellt wird. Seiner konsequenten Beachtung kommt im Alltag des Entscheidungsprozesses der EU eine entscheidende Bedeutung für den autonomen Gestaltungsspielraum der nationalen Parlamente zu. Dementsprechend haben in der Konstruktion des Lissabon-Vertrages vor allem die nationalen Parlamente die Aufgabe erhalten, den...


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