Camartin Opernliebe
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-65965-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Buch für Enthusiasten
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-406-65965-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was die Liebe ist – wir wissen es und wissen es doch nicht so genau. Wir brauchen die Dichter und die Komponisten, um dies für uns zu klären, ja vielleicht sogar zu lehren. Ist das, was wir Liebe nennen, ein Produkt der Kunst? Die treffenden Worte, die schönen Gesänge, die ergreifende Musik?
Iso Camartin, der zwischen 2004 und 2012 die 'Opernwerkstatt' am Zürcher Opernhaus leitete, erzählt und erklärt, was die Liebe, zumal was Opernliebe ist. Sie bedeutet auf der einen Seite die Begeisterung für diese spektakuläre Kunstform, der sich Camartin von den Anfängen bei Monteverdi bis zur klassischen Moderne in diesem Buch widmet. Komponisten und Librettisten, Arien und Ensembles, Divas und Starinterpreten, werden kenntnisreich beschrieben. Opernliebe meint aber vor allem die Gesamtheit der Erscheinungsformen, in welchen wir Liebe auf der Opernbühne bis zum heutigen Tag erleben. Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an die Musik und das Musiktheater, geschrieben von einem Enthusiasten, für solche, die es sind, aber auch für jene, die – mit diesem Buch versehen – es bald werden könnten.
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MONTEVERDI ODER: AM ANFANG WAR DIE LIEBE
Man könnte meinen, dass es auf dieser Welt ein Leichtes sei, eine Liebe zu finden, jedoch unendlich schwerer, diese zu erhalten und zu bewahren. Schon am Anfang geht es in der Oper weniger um die zu erringende als um die bedrohte oder gar schon verlorene Liebe. Ist Liebe ein Geschenk der Götter, eine unverdiente Gabe der Natur, ein Erfolg von Mut und Überzeugungskraft eines Einzelnen? Alles ist denkbar – denn dass Menschen sich finden und lieben, scheint dem Plan der Götter, dem Gang der Natur und dem Glückstrieb der Menschen eingeschrieben zu sein. Doch Liebe ist eine gefährdete Angelegenheit, zumal auf der Opernbühne. Vielleicht, weil der Schmerz um verlorene Liebe musikalisch nicht weniger herausfordernd ist, als das schiere Jubeln in liebeserfüllter Seligkeit. Jedenfalls ist die erste Geschichte um Opernliebe, mit der wir uns befassen, die des Orfeo, welcher, kaum dass sein Liebesglück gefunden ist, es auch schon wieder verliert. Orfeo: «Rendetemi il mio ben! – Ich will die Geliebte zurück haben!» 1607
Ein mythischer Stoff also, in der Renaissancezeit wieder entdeckt, in der Barockzeit vielfach in Dichtung und Musik neu aufgegriffen. Monteverdi ist nicht der erste, aber doch der größte unter den Komponisten seiner Zeit, die sich nicht nur um Kirchenmusik, sondern auch um jene weltlichen Stoffe kümmern, die sich, in den höfischen Kreisen von Florenz, Mantua, Ferrara, Modena und Venedig miteinander wetteifernd, größter Beliebtheit erfreuen. Von Monteverdis Opernmusik ist der umfangreichere Teil verloren. Nur drei Werke sind uns vollständig erhalten, die jedoch einen derartig kräftigen Auftakt der Operngeschichte bilden, wie man sich diesen nicht glücklicher vorstellen kann. Die Geschichte des Orpheus ist der Anfang einer Kunstgattung, welche bis in unsere Tage die Menschen bewegt, zu Tränen rührt, sie süchtig macht nach Begegnungen mit Figuren, deren Schicksal ihnen in musikalischer Gestalt und Form entgegenkommt. Im Prolog von Monteverdis erster uns erhaltener Oper tritt die Musik selbst in allegorischer Gestalt auf und verkündet dem Publikum stolz, sie sei diejenige, die mit lieblichen Tönen den verwirrten Herzen Ruhe schenke, Menschen, die eiseskalt seien, könne sie zu Hass und Liebe entflammen. Über ihre größte Tat wolle sie uns nun eine Geschichte erzählen: Wie es ihr gelungen sei, mit der Macht der Töne wilde Tiere zu zähmen und zu besänftigen, ja sogar die Bestien der Hölle nachgiebig und mitleidvoll zu machen. Die Geschichte ist bekannt und schnell erzählt. Orpheus und Eurydike feiern Hochzeit. Man singt Hymnen auf die Sonne, Hirten und Nymphen tanzen und bringen im Tempel Opfergaben dar zum Dank für das greifbare Glück aller Beteiligten. Doch dieses Glück ist von kurzer Dauer. Beim Blumenpflücken wird Eurydike von einer giftigen Schlange gebissen. Sie stirbt in den Armen ihrer Gefährtinnen, die Nahestehenden sind gelähmt durch Schrecken und Trauer. Orpheus beschließt, Eurydike von den Göttern der Unterwelt zurückzufordern – ein scheinbar so unerhörtes wie sinnloses Unterfangen –, doch er nimmt die Reise zu den Mächten des Schreckens mutig auf sich. Die Gestalt der Hoffnung begleitet ihn bis vor die Tore der Unterwelt – hier aber kann sie nicht weiter, denn an diesen Pforten steht geschrieben: «Lasst alle Hoffnung zurück, die ihr hier eintretet!» Die Hoffnung muss umkehren, Orpheus hat den Weg allein zu gehen. Zunächst muss er Charon, den Fährmann, besänftigen, der wild aufbegehrt, dass ein Sterblicher die Fluten zum Jenseits zu überqueren wagt. Er mutmaßt, dass das Herz eines solchen Menschen von unzüchtiger Begierde erfüllt sein muss, statt von Pietät vor den Göttern der Unterwelt. Mit einem derart tollkühnen Menschen hat er kein Erbarmen. Da holt Orpheus sein Instrument hervor und beginnt zu spielen. Und damit ist es bei fortschreitendem Spiel um die Macht Charons geschehen. Das ist die Szene, mit der wir uns befassen wollen. «Du mächtiger Geist und furchterregende Gottheit!», beginnt Orpheus. Er schmeichelt zuerst dem schrecklichen Gesellen und bestätigt, dass ohne dessen Hilfe sogar die Verstorbenen vergeblich hoffen, ans andere Ufer zu gelangen. Dann stimmt er seine Klage an: Seit meine Geliebte tot ist, lebe ich nicht mehr, ich habe kein Herz mehr – und wie sollte ich ohne Herz leben können? Der ungeheuerliche Weg in die Unterwelt, den er gewählt habe, führe ihn gar nicht in die Hölle, denn wo eine so große Schönheit wie seine Geliebte weile, da müsse man doch im Paradies sein! Nur die Augen seiner Geliebten vermöchten ihm das Leben zurückzugeben, und nur er, der göttliche Fährmann, könne ihm helfen, diese lebensrettenden Augenlichter wiederzufinden. Schau mich an, sagt Orpheus zu Charon, ich trage keine Waffen, die einzige Waffe, die ich habe, sind die Saiten meiner Leier. Sollten diese nicht fähig sein, auch die herzloseste Seele zu erweichen? – Charon gibt zu, dass der Gesang des trauernden Liebhabers sein Herz trifft. Doch Mitleid, nein, dies kenne sein Herz nicht. Orpheus aber stimmt eine neue Klage an: Soll niemand in der Unterwelt seine Trauer vernehmen können? Soll er ewig als Jammergestalt durch die Welt irren und betend und weinend den Namen der Geliebten rufen müssen? Orpheus setzt zu einem dreifachen Verzweiflungsruf an: «Rendetemi il mio ben, tartarei Numi! – Gebt mir mein Glück zurück, ihr Götter des Tartarus!» Singend hat Orpheus zwar nicht das Herz des Charon mitleidig gemacht, doch die schöne Musik hat diesen in Schlaf gewiegt. Jetzt heißt es handeln. Was zögere ich noch?, fragt sich Orpheus. Hinein in die Barke und ans andere Ufer gerudert, begleitet von der nochmals dreifach in jeweils höherer Tonlage wiederholten Bitte: Gebt mir mein Glück zurück, ihr Götter der Unterwelt! Ein Chor, beinah wie in der griechischen Tragödie, kommentiert das Geschehen: Nichts unternimmt der mutige Mensch vergeblich – er überwindet die Gefahren, trotzt allen Widrigkeiten, und gelangt so zu Ruhm – wie Orpheus in die Unterwelt. Erst im folgenden Akt werden die einsichtige Proserpina und der strenge Pluto miteinander über das Los des Orpheus verhandeln – und ihm die Mitnahme der Eurydike unter der Bedingung gestatten, dass er sich nicht nach ihr umschaue, solange sie in der Unterwelt seien. Wir wissen es: Orpheus wird von der Sehnsucht, vom Zweifel, von Liebesgier übermannt, er dreht sich um, und verliert für ewig seine Geliebte. Zurück auf Erden beklagt Orpheus erneut seinen Schmerz, doch da ist nur noch die Nymphe Echo, die daran teilhat und auf seine Klagen antwortet. Bis sich – denn die Geschichte muss doch ein gutes Ende haben! – der Gott Apollo im Himmel seines Sohnes Orpheus erbarmt, und ihn, fern von Streben nach Glück und irdischem Leid, jetzt in den Götterhimmel versetzt – zu ewigem Frieden und tugendhaftem Dasein. Wir wollen über das zweifelhafte Glück, unsterblich zu werden und dafür die Geliebte auf ewig zu verlieren, nicht weiter nachdenken. Kehren wir noch einmal zur Musik des Orpheus zurück, welche Bestien besänftigt und die hartherzigsten Rüpel in den Schlaf singt. Die von Monteverdi entwickelte musikalische Kunst des «recitar cantando» – des gleichzeitigen Erzählens und Singens – erleben wir in der Szene von Orpheus mit Charon in geradezu vollendeter Weise. Diese melodramatische Kompositionstechnik wird auch als die «seconda pratica» Monteverdis bezeichnet, während als seine erste die Kunst des kontrapunktisch geführten Madrigals gilt. Monteverdi erprobt sie immer neu und immer mutiger, bis an sein Lebensende. Es entstehen zahlreiche Hirtenszenen, Tänze, Intermezzi, Ritornelli, aber auch «Ariose Lamenti» – Klagelieder wie etwa Il lamento d’Arianna – und ganze dramatische Szenen (zum Beispiel das berühmte Stück Il combattimento di Clorinda e Tancredi), in welchen Monteverdi den Liebhabern von in Musik gesetzten Schicksalen – es mögen jene der Götter oder der Menschen sein – in bisher nie gehörter Weise vormacht, was das eigentlich bedeutet, Musik zum Herzen sprechen zu lassen. Monteverdis Musik für die Besänftigungsszene des Charon setzt die unterschiedlichsten Register ein. Da ist einmal Vorsicht zu spüren, Respekt, ja geradezu etwas wie Unheimlichkeit auszumachen angesichts des «Possente spirto» – des mächtigen Gegenübers. Die Tenorstimme hebt an, wagt sich hinauf, ins Hellere und Deutlichere, sie wird umspielt von verschiedenen Instrumenten. Die Frage der Instrumentierung ist meist den Interpreten überlassen. Heute jedoch sind die Spezialisten frühbarocker Instrumente derartig perfekt, dass sich die feinsten Stimmungen und Gefühle durch den Farbklang der Instrumente andeuten lassen. Zwei Geigen, zwei Trompeten, aber auch Theorben oder Harfen setzen wie im Wechselspiel zwischen den Textzeilen ein, als würde sich der Musikant Orpheus sagen: Jetzt versuche ich alles und setze alles aufs Spiel. Diese kurzen Zwischenspiele erlauben dem Sänger jeweils einen Neueinstieg. So entfaltet er sich von furchtsamer Zurückhaltung bis zu einem virtuos verzierten Freiflug des mutigen Forderns. Bestimmte Wörter malt die Stimme...