E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Capus Glaubst du, dass es Liebe war?
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-25991-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-446-25991-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Für sein literarisches Schaffen wurde er u.a. mit dem Solothurner Kunstpreis 2020 ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015), Das Leben ist gut (Roman, 2016), Königskinder (Roman, 2018) und Susanna (Roman, 2022).
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3
Es war November, das Ende der Regenzeit nahte; bald würde das Meer sich beruhigen, die Luftfeuchtigkeit abnehmen, die Temperatur auf ein erträgliches Maß sinken. Noch war Harry Widmer junior der einzige Fremde im Dorf. Aber an Thanksgiving würden die Touristen aus Nordamerika anreisen und ein halbes Jahr lang den Strand dicht an dicht mit ihren Leibern belegen. Sie würden die letzten flohverseuchten Hotelbetten besetzen, die Mädchen mit harten Dollars verderben, die Getränkevorräte noch der versifftesten Stehbar wegsaufen — und die Preise in die Höhe treiben. Es war am achtundsiebzigsten Tag seiner Flucht, als Harry junior sich einer unangenehmen, aber unausweichlichen Wahrheit stellte: Wenn er nicht bald das Biertrinken unterbrach und aus seiner Hängematte kletterte, würde ihm eher früher als später das Geld ausgehen.
Als der nachmittägliche Wolkenbruch vorüber war, machte sich Harry auf den Weg. Er stieg von seiner Düne hinunter, ging vorbei an der Süßwasserlagune, in der die Kraniche umherstelzten, und bog ein in die verschlammte Hauptstraße, die zum Dorfplatz führte. Sie war links und rechts gesäumt von Autowracks, die Kennzeichen trugen aus Kalifornien, Texas, Nevada und New Mexico. Generationen von Touristen hatten hier ihre Autos stehengelassen wegen eines versandeten Vergasers, einer zerschlissenen Automatik oder eines verlorenen Auspuffs. Da standen blumenbemalte VW-Busse und Cadillacs und Chevys und Fords in allen Stadien des Zerfalls; manche sahen noch ganz fahrtüchtig aus, bei manchen fehlten die Räder und ruhten die Achsen auf Ziegelsteinen; manche hatten keine Türen oder Motorhauben mehr, manche waren nur noch ein rostiges Gerippe, und ausnahmslos an jedem Wagen hatten die Kinder sämtliche Scheiben eingeworfen. In der Nachmittagshitze sonderte jedes Wrack seinen eigenen Duft ab, seine unverwechselbare Mischung von Rost, abblätterndem Lack und spröden, moosbewachsenen Gummidichtungen. In den VW-Bussen, wo es am schattigsten und kühlsten war, schliefen die Hunde — verwahrloste Gringo-Hunde, die irgendwann nicht zur Stelle gewesen waren, als Herrchen heimwärts fuhr.
Es war die Stunde, da das Dorf aus der Siesta erwachte; die Ladenbesitzer hoben die Rollgitter hoch, die Frauen hängten Wäsche auf die Leine, die Kinder fläzten auf Hollywoodschaukeln und tranken Cola. Als Harry über den Dorfplatz auf die Billardhalle zuging, winkte ihm der Besitzer schon von weitem zu. Angelito hatte einen Narren an Harry gefressen — wieso, wußte niemand. Er war ein hageres Männchen mit schütterem, grauem Schnurrbart, den fließenden Bewegungen einer Frau und klugen, schwermütigen Augen. Der Mittelpunkt seines Lebens war seine Billardhalle, und der Mittelpunkt der Halle war Angelitos rosa Resopaltisch — sein klappriger Klapptisch, mit dem er den ganzen Tag auf Wanderschaft war; frühmorgens, wenn der Dorfplatz noch im Schatten lag, schob er ihn hinaus an die frische Luft; gegen Mittag, wenn sich die Sonne übers Hausdach schob, trug er ihn zurück ins Haus; am späten Nachmittag, wenn die Strahlen tiefer in die Billardhalle drangen, zog auch Angelito sich mit seinem Tisch ins Innere des Hauses zurück. Und nachts war er dann wieder draußen, unter den Sternen.
Harry holte einen Stuhl und setzte sich zu ihm. Er durfte das, und das war eine Ehre, die seit Menschengedenken keinem Gringo zuteil geworden war. Nicht einmal die Einheimischen setzten sich ungebeten an Angelitos Tisch; noch nicht einmal jene, die schon mit ihm die Schulbank gedrückt hatten.
»Wie geht es dir, Cheffe?« Harry hatte in den letzten drei Monaten ganz ordentlich Spanisch gelernt. Gewisse Redewendungen brachte er schon ohne jeden Akzent über die Lippen.
»Sag nicht Cheffe zu mir, Haroldo. Ich bin dein Freund.« Angelito lächelte traurig unter seinem Schnurrbart hervor, dann streckte er seinen hageren Arm aus und drückte Harrys Schulter. »Wie soll's mir gehen — ich sitze hier, wie du siehst. Jedesmal, wenn du herkommst, sitze ich hier. Du kommst immer gegen Sonnenuntergang. Und jedesmal ist wieder ein Tag des Lebens vorbei.«
»Das ist so«, sagte Harry und nickte schwer. »Jeden Tag geht ein Tag vorbei.«
»Genauso ist es.« Angelito steckte sich einen Zigarillo an. »Das Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern, und ich habe nichts getan. Nichts erreicht. Nie richtig geliebt. Nichts gelernt. Kein Bild gemalt, keinen Baum gepflanzt, kein Buch geschrieben. Kenne kaum alle meine Kinder beim Vornamen. Vielleicht sollte ich öfter zur Messe gehen. Gehst du zur Messe, Haroldo?«
»Nein. Ich schlucke Vitamintabletten, wenn ich mich schwach fühle.«
Es war immer dasselbe, Tag für Tag. Jedesmal winkte Angelito Harry junior zu sich an den Tisch, und jedesmal leierte er dieselbe Klage herunter. Vielleicht war das der Grund für seine Zuneigung zu Harry junior: daß dieser ihm immer wieder zuhörte, während die Männer des Dorfes seiner Litanei seit Jahrzehnten überdrüssig waren. Tatsächlich genoß Harry die ewigen Wiederholungen. Wäre ihm zu Hause im »Rathskeller« einer mit solch weinerlichem Gewäsch gekommen, er hätte ihn hohnlachend zum Schweigen gebracht; aber hier, in Mexiko, klang das tiefsinnig und bedeutsam — allein schon, weil es Spanisch war.
Angelito war der reichste Mann im Dorf. Ihm gehörten nicht nur die Billardhalle und das Hostal schräg gegenüber, sondern auch der Souvenirladen auf dem Dorfplatz, die Kleiderboutique bei der Bushaltestelle sowie der Pavillon, den Harry bewohnte. Jede zweite oder dritte Touristensaison verliebte sich Angelito unsterblich in eine amerikanische Touristin; das war meist eine stille und freundliche, schon nicht mehr ganz junge Lehrerin oder Rechtsanwältin, die allein oder mit einer Freundin angereist war und ziemlich gut spanisch sprach und die nicht zum Tanz ins »Tropicana« ging, sondern Bücher von Thomas Pynchon las. Diese Frauen ließen sich häufig in Angelitos Billardhalle nieder, weil sie hier in Ruhe lesen konnten und nicht von den jungen Männern des Dorfes belästigt wurden. Manchmal setzte sich eine ahnungslos an Angelitos rosa Resopaltisch, wenn er grad an der Bar beschäftigt war; dann machte er sich nicht etwa an die Rückeroberung seines Tisches, sondern blieb hinter dem Tresen stehen, guckte und verliebte sich und überlegte hin und her, ob sie es wert wäre, daß er alles aufgäbe und mit ihr in die USA zöge, sann Tag und Nacht darüber nach, bis der Urlaub der Angebeteten vorbei war und sie abreiste, ohne von Angelitos Seelenqualen das Geringste erfahren zu haben.
Ein paarmal war ihm eingefallen, daß er nichts von der Welt gesehen hatte. Dann war er nach New York oder Los Angeles geflogen, wo ihm die Beschränktheit seiner dörflichen Existenz so richtig vor Augen geführt wurde, worauf er nach drei oder fünf Tagen noch unglücklicher als zuvor heimgekehrt war und ergeben die hysterischen Szenen seiner Frau über sich hatte ergehen lassen — und das waren nicht hysterische Szenen eines in Tränen aufgelösten Weibchens, sondern Skandalszenen einer leicht reizbaren Fürstin.
Harry junior hatte Angelitos Frau noch nie gesehen. Aber gehört hatte er sie. Schon oft. Sie und Angelito wohnten in den zwei Stockwerken über der Billardhalle, zusammen mit einer unüberblickbaren Schar Kinder aller Altersklassen. Die Kinder wuselten von morgens früh bis abends spät durchs Haus, polterten treppauf und treppab, spielten Verstecken im Keller, Fußball im Flur und Onkel Doktor im Dachstock; nur zur Billardhalle war ihnen der Zutritt verboten. Wenn man sich dem Haus auf weniger als hundert Schritte näherte, hörte man immer Kinder lachen oder brüllen oder weinen; an jedem Fenster konnte alle Augenblicke ein schwarzer Wuschelkopf vorbeiwischen, und wenn man im Näherkommen nicht aufpaßte, konnte einen leicht ein verirrter Ball oder Stein oder Teddybär treffen. Ein Fremder mochte den Eindruck bekommen, daß die Kinderschar völlig verwildert war und ohne jede Aufsicht heranwuchs. Aber das Gegenteil war der Fall. Denn tief im Innern des Hauses hockte wie eine Ameisenkönigin die Mutter, Angelitos Ehefrau, die alle Hausbewohner auf mysteriöse Weise lenkte. Die großen Mädchen waren ihre Arbeiterinnen; die kochten und putzten, buken und wuschen, paßten auf die Kleinen auf und erledigten Botengänge. Die Buben waren die Soldaten; sie bewachten das Haus und bespitzelten einander. Und Angelito war einfach ihr Mann. Die Ameisenkönigin verließ nie ihren Kommandoraum, aber sie war stets über alles im Bilde. Wenn einer ihrer älteren Söhne heimlich im Keller rauchte oder wenn Angelito sich schon am Mittag den ersten Schnaps gönnte oder einer Gringa schöne Augen machte, erhob sich orkanartig die Stimme der Matriarchin, daß die Fensterscheiben zitterten und die Eidechsen an der Hausfassade in der...




