E-Book, Deutsch, Band 152, 220 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Carlotto Die Frau am Dienstag
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-99037-109-1
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 152, 220 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-109-1
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gibt es ein Recht auf Vergessenwerden? Die bitterzarte Geschichte dreier Menschen am Rande der Gesellschaft.
Sie kommt jeden Dienstag zu ihm, zwischen drei und vier Uhr, seit neun Jahren. Er kennt weder ihren Namen, noch weiß er um ihr Geheimnis, das sie allwöchentlich mit gutem Sex und edlen Destillaten zu vergessen sucht. Sie ist ihm nicht gleichgültig, auch wenn sie ihn bezahlt. Bonamente Fanzago, einst erfolgreicher Pornodarsteller, steht nach einem Schlaganfall am Ende seiner Karriere. Was ihm bleibt, sind die Treffen in der Pension Lisbona mit seiner mysteriösen Dienstagsfrau. Die Pension, die der sanftmütige Transvestit Signor Alfredo führt, ist ihm Oase des Friedens und des Rückzugs.
Bis durch ein Verbrechen die dunklen Gestalten aus der Vergangenheit wieder auftauchen und die Dienstagsfrau einholen. Menschen wie sie haben kein Recht darauf, vergessen zu werden.
'Carlotto zählt zweifelsohne zu den großen italienischen Autoren.' Hamburger Abendblatt
'Carlotto beschreibt die Unterseite der sichtbaren Wirklichkeit.' NZZ
'Carlottos ironische Gelassenheit ist so fein wie bewundernswert.' FAZ
Massimo Carlotto, geboren in Padua 1956, ist einer der bekanntesten italienischen Roman- und Krimiautoren. Neben den Büchern mit der beliebten Figur des 'Alligators' hat er eine Vielzahl anderer Romane, Drehbücher und Bühnenstücke geschrieben. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt.
Auf Deutsch bei Folio: 'Der Tourist' (2017), 'Blues für sanfte Halunken und alte Huren' (2019) und gem. mit Carofiglio/ De Cataldo: 'Kokain' (2013).
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2.
Am folgenden Tag, dem Samstag, wirkte Signor Alfredo besonders zufrieden und servierte das Frühstück mit einem Lied auf den Lippen, einem alten Hit von Gianni Morandi: Non se ne va questo spirito libero Questo ragazzo che porto dentro È una vita che ti guardo E non se ne va questa luce dagli occhi … La voglia di rivivere tutto da capo e ogni momento La voglia di chiamarti amore come non te l’avessi mai detto In diesem Moment wusste Bonamente, dass sich Professor Bassi angesagt haben musste. „Er bleibt das ganze Wochenende“, raunte ihm sein Vermieter zu. „Sein Zimmer wird soeben hergerichtet.“ Dabei war das eigentlich gar nicht nötig, weil der Raum immer bezugsfertig war. Neidisch beobachtete sein Mieter, der beruflich wie privat im luftleeren Raum schwebte, den aufgeregt herumlaufenden Mann und wünschte sich das Gleiche, doch ein Wochenende mit seiner Dienstagsfrau war und blieb für ihn ein unerreichbarer Traum. Um sich abzulenken, brach er zu einem Spaziergang auf und strebte auf ein Einkaufszentrum zu. Früher war er lieber ins Grüne gegangen, heute aber fühlte er sich in diesem riesigen Kasten, in dem die Luft von gigantischen Maschinen gewärmt und gefiltert wurde, sicherer. Auf einer künstlichen Piazza setzte er sich unter einen Sonnenschirm, der niemals weder einen Sonnenstrahl noch einen Regentropfen abbekommen würde, und bestellte eine große Tasse Getreidekaffee, in den er Süßstoff schüttete, was ihm sofort in Erinnerung brachte, dass sein Körper vor der Zeit gealtert war und er nicht mehr als dynamischer, vitaler Vierzigjähriger durchging. Die Ärzte hatten ihn zwar beruhigt, dass er ein ganz normales Leben führen könne, die Psychologin dagegen war kritischer gewesen und hatte ihm nicht gerade Mut gemacht. Dabei hätte er wenigstens dieses Mal eine kleine Aufmunterung gebrauchen können, selbst wenn sie nicht ganz ernst gemeint war. Um nicht weiter in trübe Gedanken zu verfallen, betrat er ein Wäschegeschäft, um sich Unterhosen zu kaufen. Er wusste nach wie vor nicht, ob die Dienstagsfrau ihn lieber in Boxershorts oder Slips sah, und hatte sie nie zu fragen gewagt. Mal trug er das eine, mal das andere und achtete genau auf ihre Reaktion, ohne eindeutige Hinweise erhalten zu haben. Er ging an den Sonderangeboten vorbei und beschloss, dass sie blau-weiß gestreifte Boxershorts verdient hatte. Sie wollte stets vollständig bekleidet empfangen werden, sogar mit Jackett, erst dann zogen sie sich aus, ohne sich dabei anzusehen. Bonamente schummelte immer ein bisschen, weil er sie ansehen, umarmen und küssen wollte. Er hätte alles dafür gegeben, ihr beim Ausziehen helfen zu dürfen. Als der Professor kurz vor dem Mittagessen eintraf, saß er im Salon und las Zeitung. Bassi begrüßte ihn mit seiner üblichen Freundlichkeit. „Was macht die Gesundheit, Bonamente? Sie sehen blendend aus.“ Er selbst wirkte älter als beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, von den immer noch lebendigen und strahlenden Augen einmal abgesehen. „Und Sie, Federico, werden immer jünger“, erwiderte er ganz ernst. Der Professor nickte ihm lächelnd zu, war dankbar für die charmante Lüge. Während des Mittagessens redete Federico ununterbrochen, wie ein Getriebener. Aber es machte Spaß, ihm zuzuhören, und Bonamente hing an seinen Lippen, während Signor Alfredo still und geschäftig zwischen Küche und Tisch hin und her lief. Den Nachmittag verbrachte der Schauspieler auf seinem Zimmer, erst gegen Abend verließ er es wieder und bestellte sich ein Taxi. Als er dem Fahrer die Adresse nannte, drehte der sich um und grinste ihm verschwörerisch zu. „Es gibt ja nichts mehr außer dem Eden“, meinte er und bezog sich damit auf das letzte Pornokino der Stadt. „Mittlerweile schaut man sich Pornos zu Hause an, wo man gleich zur Sache kommen kann“, fügte er hinzu. Im Kino lief ein Krankenhausporno, ein Genre, in dem Bonamente wenig Erfahrung hatte und mit dem er sich näher beschäftigen musste, wenn er die Rolle wirklich übernehmen wollte, die Martucci ihm angeboten hatte. Niedergeschlagen verließ er am Ende das Kino. Nicht allein deshalb, weil es sich um eine slowenische Produktion und ein Remake gehandelt hatte, sondern weil es nicht einen einzigen Darsteller seines Alters gegeben hatte. Die Älteste war die Oberschwester mit höchstens fünfunddreißig gewesen. Zu Hause wartete Alfredo auf ihn. Er hatte ihm das Abendessen warm gestellt und wollte sichergehen, dass er seine Medikamente einnahm. Kurz darauf, pünktlich wie immer, klopfte er an Bonamentes Tür, um ihm seinen Tee zu bringen. Die Nacht verbrachte Signor Alfredo nicht in seinem eigenen Zimmer, sondern ging weiter zu Zimmer eins und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Federico stand am Fenster, als er das Zimmer betrat. Gekleidet in einen eleganten dunkelblauen Morgenmantel mit roten Borten, deklamierte er, ohne sich umzudrehen, mit tiefer, rauer Stimme das Gedicht von Pablo Neruda, mit dem er Alfredo jedes Mal seit vielen Jahren begrüßte, wenn er mitten in der Nacht zu ihm kam. Ich habe dich zur Königin ernannt. Größere gibt es, größer als du. Reinere gibt es, reiner als du. Schönere gibt es, schöner als du. Aber du bist die Königin. Alfredo ging auf ihn zu und zog ihm den Morgenmantel aus, küsste ihn auf den nackten Rücken, kniete nieder und begann mit der Zunge das Hinterteil des Professors zu liebkosen, griff gleichzeitig mit der linken Hand nach seinem Penis und streichelte ihn. Als er eine ganz zaghafte Erektion spürte, stand er auf und steckte ihm den Zeigefinger in den Hintern, suchte nach der Prostata. Verdammtes Alter, dachte er und fuhr fort, beides zu reizen, bis er ein wenig Sperma in der Hand spürte. Danach nahm er Federico zärtlich in den Arm. „Du bist mein König“, flüsterte er. Am Sonntag stand der Hausherr früh auf und backte Federicos Lieblingskuchen. Er war überglücklich und fest entschlossen, jeden Moment ihrer gemeinsamen Zeit auszukosten. Gerne hätte er sein ganzes restliches Leben mit ihm verbracht, bloß ließen das die Umstände und ihre unterschiedlichen Lebensverhältnisse nicht zu. Ihre Liebe war einfach zu verrückt, gänzlich unmöglich. Ganz anders erlebte Bonamente den Sonntagmorgen. Gleich beim Aufwachen fühlte er sich so verloren wie immer an diesem Tag. Was sollte er mit seiner Einsamkeit anfangen? Während Paare und Familien Ausflüge machten, Parks und Restaurants bevölkerten, konnte er es kaum erwarten, bis die langweiligen Stunden vorbei waren. Bis der Montag und endlich, endlich der Dienstag kam. Als er ins Frühstückszimmer kam, bemerkte er als Erstes den Kuchen. „Für dich nicht mehr als ein halbes Stück“, warnte ihn Signor Alfredo, „in dieser Köstlichkeit ist einiges an Zucker und Butter.“ Als er für einen Moment den Raum verließ, zwinkerte Bassi ihm zu und reichte ihm ein weiteres Stück. „Beeil dich, sonst schimpft er mit mir.“ In Windeseile verschlang Bonamente den Kuchen und überlegte gerade, was er heute unternehmen sollte, um den beiden nicht lästig zu fallen, als der Professor zu seiner Überraschung den Wunsch äußerte, in ein Restaurant zu gehen, wo er früher Stammgast gewesen war, und ihn ebenfalls dazu einlud. Seine Ausrede ließ er nicht gelten. „Ich erlaube mir, darauf zu bestehen. Es würde mich wirklich glücklich machen. Es ist zu lange her, dass ich mit Freunden auswärts gegessen habe. Jeden Sonntag nehme ich mit meinen Söhnen, meinen Schwiegertöchtern und den Enkeln das Mittagessen ein, die mich wie einen uralten Großvater behandeln. Dementsprechend benehme ich mich leider auch. Es ist eine echte Tragödie, wenn man zur Banalität gezwungen wird.“ „Vielleicht kannst du deine Verabredung ja verschieben“, schlug Signor Alfredo vor, der sehr wohl verstanden hatte, dass sein junger Freund abgelehnt hatte, um nicht aufdringlich zu wirken. Nachdem alles einvernehmlich geregelt war, fuhren sie gemeinsam zu einem Restaurant am Stadtrand, von wo aus man in die Ebene und auf die Sojafelder blickte, die den Anbau traditioneller Getreidesorten verdrängt hatten. Bei dem Fahrzeug, in dem sie saßen, handelte es sich um ein neues Elektroauto, das Alfredo Guastini gekauft hatte, als er von den Gefahren des Feinstaubs gehört hatte. Den Mercedes mit dem Dieselmotor hatte...