E-Book, Deutsch, Band 145, 180 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Carofiglio / Koskull Drei Uhr morgens
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-99037-092-6
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 145, 180 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-092-6
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gianrico Carofglio, geboren 1961 in Bari, war viele Jahre Antimafia-Staatsanwalt in Bari, 2007 Berater des italienischen Parlaments im Bereich organisierte Kriminalität, 2008-2013 Senator. Autor zahlreicher preisgekrönter Krimis, die in 24 Sprachen übersetzt wurden. Auf Deutsch bei Folio: Carlotto/Carofiglio/De Cataldo: Kokain. Crime Stories (2013) und Trügerische Gewissheit (2016).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
6.
Mit dieser harmlosen Behandlung und dem Gefühl von Normalität, das mir Gastauts Diagnose zurückgegeben hatte, fand das Leben zu seinem gewohnten Gang zurück.
Die schleichende Depression, in die ich nach dem ersten Krankenhausaufenthalt abgerutscht war, war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Ich tat wieder das, was ich vorher getan hatte, einschließlich Fußball spielen und Limonade trinken. Ich mischte mich wieder unter meine Altersgenossen und wünschte mir zugleich, ganz anders zu sein als sie. Eine Schizophrenie, die letztlich allen Heranwachsenden eigen ist. Man tut alles, um genau so zu sein wie die anderen, und träumt davon, anders zu sein.
Ich fing auch wieder an zu lesen.
Langsam, fast unmerklich gingen die drei Jahre dahin: eine Art ewige Gegenwart, eine schwebende, eher von Tagträumen denn von denkwürdigen Ereignissen erfüllte Zeit.
Statt Erfahrungen zu machen, malte ich sie mir aus. In der magischen Zukunft meiner Träume schrieb ich Bücher, zeichnete Comics, produzierte Trickfilme mit Figuren, die ebenso berühmt, populär und beliebt wurden wie die von Disney oder Marvel.
Ich stellte mir ein ebenso nebulöses wie großartiges Leben voller Weltreisen, Abenteuer und romantischer Begegnungen mit schönen, attraktiven Mädchen vor.
Das Leben in der wirklichen Welt war weitaus langweiliger. Wie gern würde ich sagen können, eine Jugend voller unvergesslicher Erlebnisse gehabt zu haben, doch leider war dem nicht so.
Die aufregendsten Erinnerungen aus jener Zeit sind die Träume, die ich hatte, und die Momente, in denen ich ihnen nachhing: auf Spaziergängen; beim Musikhören auf dem Bett; auf der Treppe im Pausenhof während der Schulbesetzung in der elften Klasse.
Die indes waren rar gesät.
Ich hatte eine kurze Affäre mit meiner Altersgenossin Mara. Der Begriff Zusammensein war damals noch nicht geläufig und wäre für unsere rasche Begegnung und noch raschere Trennung ohnehin unzutreffend gewesen.
Wir lernten uns auf einer Party kennen, gingen mehrmals zusammen ins Kino, hielten ein paar Wochen lang Händchen und tauschten ein paar Küsse und ein paar sehr unbeholfene Zärtlichkeiten in irgendwelchen klammen Hauseingängen aus. Es waren meine allerersten Erfahrungen – das Wort ist tatsächlich ein paar Nummern zu groß –, und nur deshalb sind sie nicht in der Versenkung verschwunden. Die Sache war nach wenigen Monaten vorbei, ohne dass einer von uns beiden seine Jungfräulichkeit verloren hätte oder dies überhaupt je Thema gewesen wäre.
Abgesehen von dem linkischen, wiewohl realen Intermezzo mit Mara gab ich mich meiner Natur entsprechend vor allem imaginären Lieben hin. Von ferne verliebte ich mich in ein Mädchen, das aussah wie Sophie Marceau und mich nie bemerkte, weil es zu sehr damit beschäftigt war, sich mit Fünfundzwanzigjährigen zu treffen, die Cabrios und dicke Motorräder fuhren. Rückblickend betrachtet war das ein Glück: Hätte sie mich bemerkt und hätten wir gar miteinander gesprochen, dann hätte ich ihr die Gedichte gegeben, die ich für sie geschrieben hatte, und mich für immer der Lächerlichkeit preisgegeben.
Eine weitere Begebenheit, die ich erinnere – sie klingt wie ein frühmorgendlicher Albtraum, ist jedoch entsetzlich real –, war der Selbstmord eines gleichaltrigen Mitschülers, den ich nur vom Sehen kannte.
Eine Klassenkameradin erzählte mir auf dem Heimweg nach der Schule, was passiert war. Wir gingen gerade an einer Reinigung vorbei, aus der dieser unverwechselbare Geruch nach Dampf, Bügeleisen, Stärke und Lösungsmitteln drang. Seitdem muss ich bei diesem Geruch immer an den täppischen Jungen mit Akne auf Stirn und Nase denken, der, statt an jenem Morgen um kurz vor acht zur Schule zu gehen, übers Balkongeländer geklettert war und sich hatte fallen lassen. Sieben Stockwerke eines modernen Mietshauses machen einundzwanzig Meter, war das Erste, was mir durch den Kopf schoss; und ich fragte mich, ob man bei einem über zwanzig Meter langen Flug begreift, was man getan hat, und dass es anders hätte laufen können.
Ja, sagte ich mir sofort. Einmal war ich im städtischen Schwimmbad wegen einer Wette vom Zehn-Meter-Brett gesprungen und hatte reichlich Zeit zum Nachdenken gehabt. Er bestimmt auch, und das erschien mir das Entsetzlichste an der ganzen Geschichte.
Ich suchte meine Erinnerung nach Indizien, Symptomen und Vorzeichen für das Geschehene ab. Das taten wir wohl alle, um uns einzureden, dass er anders gewesen war und uns so etwas nicht passieren konnte.
Doch ich fand weder Symptome noch Vorzeichen. Die Wahrheit ist, dass Enrico – so hieß er, auch wenn ich nicht glaube, seinen Namen je ausgesprochen zu haben – stinknormal wirkte, nicht anders als alle anderen. Es gab zahlreiche Spekulationen, doch niemand sollte je dahinterkommen, was ihn wirklich zu seiner Tat getrieben hatte.
Wenn er ein seelisches Gebrechen gehabt hatte – eine Vorbelastung –, dann war es so gut versteckt gewesen, dass niemand etwas davon mitbekommen hatte.
Enricos Tod war die erste Sinnkrise meines Lebens. Eine Ahnung von Chaos. Etwas so Absurdes und Riesiges, dass der Verstand, der es zu entschlüsseln versuchte, den Halt verlor.
Womöglich hatte es etwas damit zu tun, dass wir uns vor diesem Schwindel des Absurden in Sicherheit bringen und vor diesem Abgrund schützen wollten, dass wir nach zwei Tagen wie in stillem Einvernehmen aufhörten, von ihm zu sprechen.
Wir vergaßen ihn, als hätte es ihn nie gegeben.
Es ihn nie gegeben.
In der Grundschule gehörte ich zu dem kleinen Kreis der Klassenbesten. Ich war in allen Fächern gut, ganz besonders in Zeichnen und Mathematik. Die Lehrerin meinte, ich sei nun einmal der Sohn meines Mathematikervaters. Als Kind hörte ich das gern, doch mit der Zeit ging es mir zunehmend auf die Nerven, bis ich es irgendwann nicht mehr ausstehen konnte.
Als ich in die Mittelstufe kam, ließ ich mich aus irgendwelchen Gründen in eine bequeme Mittelmäßigkeit fallen. Ich lernte wenig und begnügte mich mit einem Befriedigend, und die Mitgliedschaft im Klassenprimus-Klub verblasste zu einer Kindheitserinnerung.
Eines Tages lief ich meiner Grundschullehrerin über den Weg. Wir hatten uns lange nicht gesehen, und sie fragte mich, wie es in der Schule laufe und ob ich immer noch so gut in Mathe sei. Ich antwortete, Mathe sei mir wurst, ich könne Zahlen und Formeln nicht ausstehen und wenn ich groß sei, würde ich mir einen Beruf suchen, der nichts mit dem ganzen Kram zu tun hätte. Ich sehe noch ihren verdatterten, betroffenen Blick. Sie war verletzt. Und ich erinnere mich noch haargenau an das kleinlaute, fast reumütige Schuldgefühl, das mich wegen des Gesagten und der Art, wie ich es gesagt hatte, ergriff; wegen der leisen Spur Schwäche und Verdrossenheit, die ich aus meinen Worten heraushörte.
Eben weil diese drei Jahre endlos waren und ich schon bald aufgehört hatte, über mich nachzudenken, erschien es mir fast absurd, als mein Vater eines Tages verkündete, er habe einen neuen Termin bei Professor Gastaut gemacht. Es war Mai, die Untersuchung war für Juni anberaumt, gleich nach dem Ende des Schuljahres.
„Wieso müssen wir ausgerechnet im Juni da hin?“, maulte ich.
Einen Moment lang schaute er mich verdutzt an. Er wusste mit dem Ton und vor allem mit dem Sinn meiner Frage nichts anzufangen, deren Verweis auf den Juni tatsächlich nicht zu verstehen war. Die Wahrheit war, dass ich mich mit den zwei harmlosen Tabletten am Tag – dasselbe Mittel morgens und abends – arrangiert hatte.
Ich lebte ganz normal, das Medikament machte mir keinerlei Beschwerden und zeigte keine Nebenwirkungen; es zu nehmen war wie Zähneputzen, eine tägliche, unbewusste Routine. Wozu also dieses Gleichgewicht in Gefahr bringen?
Ich hatte vergessen – verdrängt –, dass ich Epileptiker war; ich hatte vergessen – verdrängt –, dass ich dieses Stigma der Behinderung und Ächtung trug, das mich in den Monaten zwischen meinem Krankenhausaufenthalt und dem Besuch bei Gastaut begleitet hatte. Ich wollte nicht wieder mit dem Thema konfrontiert werden. Ich wollte keine Angst haben.
„Was soll das heißen?“, fragte er mit ratloser Miene und zündete sich eine Zigarette an. „Wann sollten wir denn deiner Meinung nach hinfahren?“
Die Antwort war kinderleicht und sonnenklar und machte mich deshalb umso unwilliger.
„Ich habe das Schuljahr kaum hinter mir, und schon muss ich zu diesem Doktor? Im Juni! Vielleicht würde ich gern ans Meer fahren und ausspannen, und stattdessen muss ich nach Marseille. Kann das nicht ein paar Monate warten, vielleicht bis zum Herbst oder Winter? So eine Scheiße!“
Mein Vater verzog gereizt das Gesicht. Der Umgang...




