E-Book, Deutsch, 282 Seiten
Carrère Ein russischer Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95757-426-8
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 282 Seiten
ISBN: 978-3-95757-426-8
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Emmanuel Carrère, geboren 1957, lebt als Schriftsteller, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor in Paris. 2010 war Carrère, dessen Dokumentarfilm »Rétour à Kotelnitch« 2003 auf dem Filmfest Venedig gefeiert wurde, Jurymitglied bei den Filmfestspielen in Cannes.
Für »Limonow« wurde er 2011 mit dem Prix Renaudot und dem Prix de la langue française ausgezeichnet.
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Während des Filmschnitts feierte ich meinen dreiundvierzigsten Geburtstag. An diesem Tag, dem 9. Dezember 2000, sagte meine Mutter zu mir: Weißt du, es ist ein seltsames Gefühl für mich, aber jetzt bist du so alt wie mein Vater – und meinte: so alt wie ihr Vater zum Zeitpunkt seines Todes. Ich reagierte nicht sofort darauf. Doch dann sah ich meine Aufzeichnungen durch, die ich seit einiger Zeit über meinen Großvater machte. Er wurde am 3. Oktober 1898 in Tiflis, dem heutigen Tbilissi, geboren, doch niemand weiß und wird je wissen, wann er gestorben ist; jedenfalls verschwand er am 10. September 1944 in Bordeaux, kurz vor seinem sechsundvierzigsten Geburtstag. Ich war der Überzeugung, dieser kleine Rechenfehler meiner Mutter verschaffte mir einen Aufschub: Bis zum Herbst 2003 hatte ich noch fast drei Jahre Zeit, um dieses Gespenst zu begraben, und dafür musste ich noch einmal Russisch lernen.
Kurz zusammengefasst: Mein Großvater mütterlicherseits, Georges Surabischwili, war ein georgischer Emigrant, der sich nach einem Studium in Deutschland Anfang der zwanziger Jahre in Frankreich niederließ. Dort führte er ein mühsames Leben, das durch seinen komplizierten Charakter noch erschwert wurde. Er war ein blitzgescheiter, aber düsterer und verbitterter Mann, verheiratet mit einer jungen russischen Adeligen, die ebenso arm war wie er, und übte verschiedene Berufe aus, ohne dass er jemals irgendwo Fuß fassen konnte. Während der letzten zwei Jahre der deutschen Besatzung arbeitete er in Bordeaux als Dolmetscher für die Deutschen. Im Zuge der Befreiung kamen Unbekannte zu ihm, verhafteten ihn und nahmen ihn mit. Meine Mutter war fünfzehn Jahre alt, mein Onkel acht. Sie sahen ihn nie wieder. Seine Leiche wurde nie gefunden. Er wurde nie für tot erklärt. Kein Grab trägt seinen Namen.
So, jetzt ist es raus. Wenn es einmal raus ist, ist es nicht weiter spektakulär. Eine Tragödie, ja, aber eine gewöhnliche Tragödie, über die ich im privaten Kreis problemlos sprechen kann. Die Schwierigkeit liegt darin, dass es nicht mein Geheimnis ist, sondern das meiner Mutter.
Als Erwachsene wurde sie, das mittellose junge Mädchen mit dem unaussprechlichen Namen, unter jenem ihres Mannes – Hélène Carrère d’Encausse – zur Forscherin und Bestsellerautorin über das zaristische, kommunistische und postkommunistische Russland. Sie wurde in die Académie française gewählt und steht dieser heute vor. Dieser außergewöhnliche Aufstieg in einer Gesellschaft, in der ihr Vater als Außenseiter lebte und verschwand, ist auf Schweigen und, wenn nicht auf Lügen, so doch auf Verdrängung gegründet.
Dieses Schweigen ist für sie buchstäblich überlebenswichtig. Es zu brechen bedeutet, sie zu töten, wenigstens ist sie davon überzeugt, doch ich bin meinerseits überzeugt, dass es für sie und mich unerlässlich ist, es dennoch zu tun. Vor ihrem Tod und bevor ich das Alter des Vermissten erreicht habe – sonst befürchte ich, wie er verschwinden zu müssen.
Mein Großvater wäre inzwischen über hundert Jahre alt, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er bereits wenige Stunden, Tage oder Wochen nach seinem Verschwinden getötet wurde. Aber jahre-und jahrzehntelang zwang sich meine Mutter – oder verbot sich, das ist das Gleiche –, sich das Unvorstellbare vorzustellen: dass er irgendwo lebt, dass er vielleicht irgendwo gefangen gehalten wird und eines Tages wiederkommt. Noch heute – ich weiß es, weil sie es mir gesagt hat – träumt sie manchmal, er kehre zurück.
Ich begriff, dass mich die Geschichte des Ungarn so aufwühlte, weil sie diesem Traum meiner Mutter Gestalt verlieh. Auch er war im Herbst 1944 verschwunden, auch er hatte sich auf die Seite der Deutschen geschlagen. Nur dass er sechsundfünfzig Jahre später wieder auftauchte. Er kehrte von einem Ort namens Kotelnitsch zurück, einem Ort, den ich aufgesucht habe und den ich glaube, noch einmal bereisen zu müssen. Denn Kotelnitsch ist für mich der Ort, an dem man sich aufhält, wenn man verschwunden ist.
Zu behaupten, ich hätte als Kind Russisch gesprochen, wäre übertrieben, aber ich habe diese Sprache gehört, ich habe darin gebadet, und mir ist eine Aussprache geblieben, die meine Gesprächspartner einhellig als hervorragend bezeichnen. Beim ersten Satz glaubt man, ich spräche fließend Russisch. Dieser erste Satz lautet meist: Ja otschen plocho gowarju po russki, ich spreche sehr schlecht Russisch, und da ich ihn sehr gut ausspreche, hält man ihn für Koketterie. Ab dem zweiten ist man dann gezwungen, mir recht zu geben. Ich lernte Russisch im Gymnasium und war ein miserabler Schüler, und zwanzig Jahre lang wollte ich nichts mehr davon wissen. Russisch und Russland – das war das Terrain meiner Mutter, ich zog vor, es lieber nicht zu betreten. Aber seit einigen Jahren bin ich überzeugt: Wenn ich Russisch lernen oder wiedererlernen würde, hätte ich den Schlüssel zu einer entscheidenden Veränderung in der Hand. Ich könnte die Scham loswerden, die meine Stimme erstickt, und ich könnte endlich in der ersten Person sprechen. »Eine Sprache fließend sprechen« heißt auf Russisch swobodno, »frei sprechen«, und genau das male ich mir aus: Könnte ich Russisch sprechen, wäre ich befreit.
Vor fünf Jahren hatte ich schon einmal einen Versuch unternommen. Ich hatte eine Erzählung über ein Kind begonnen, dessen Vater ein Verbrecher ist; ich brauchte ein ganzes Jahr, um sie letztlich schreiben zu können, und ohne genau zu wissen, was mich dazu trieb, verbrachte ich den größten Teil dieser schwierigen Zeit damit, Russisch zu lernen. Ich versuchte oder wagte nicht wirklich, diese Sprache zu sprechen, aber ich las auf Russisch. Recht schnell war ich in der Lage, leichtere Texte zu verstehen. Zunächst Erzählungen von Tschechow wie Krankenzimmer Nr. 6, dann Ein Held unserer Zeit von Lermontow, das ich mit in die Berge des Karakorum im Norden von Pakistan genommen hatte. Ich war mit meinem Freund Hervé zum Wandern dorthin gereist. Wir übernachteten in kleinen Trekker-Herbergen ohne Strom, abends las ich im Schein einer Kerze, und das passte perfekt zu dieser Erzählung von einer Reise in den Kaukasus zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ich erinnere mich besonders an einen Satz, meiner Meinung nach ein Meisterwerk erzählerischer Ökonomie: Die Berge, sagt der Erzähler, sind so hoch dort, dass man die Augen noch so weit heben kann, nie wird man Vögel am Himmel erblicken.
Doch die Ausgabe, die ich mit mir herumschleppte, enthielt nicht nur den berühmten Roman, sondern auch eine Auswahl an Versen, und beim Durchblättern hielt ich plötzlich bei folgenden inne:
Spi mladenez, moy prekrasny,
bajuschki baju …
Schlaf, mein Kind, ich will dich loben,
bajuschki baju …
Ich erkannte sie sofort wieder. Und auch die Melodie kam mir augenblicklich wieder in den Sinn, denn es handelt sich nicht um ein Gedicht, sondern um ein Wiegenlied. Ein Kosakenlied, das alle russischen Kinder kennen und das mir jemand vorgesungen hat, als ich klein war. Meine Mutter? Meine Njanja? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur, dass mir noch heute zum Heulen zumute ist, wenn ich es höre – nein, nicht wenn ich es höre, denn es singt mir ja keiner mehr vor, sondern wenn ich es mir selbst leise vorsumme. Und ich weiß, das hier ist der Versuch, eine Form für die Empfindung zu suchen, die mich überwältigt, wenn ich dieses Wiegenlied singe, das heißt, wenn diese Kindheit in mir wiederauflebt, von der ich nichts mehr weiß.
Ich wollte es auswendig lernen. Ich sagte es mir Tag für Tag auf, ich setzte während meiner Wanderung im Himalaya meine Schritte im Rhythmus dieser Verse und schaffte es dennoch nicht, sie mir zu merken. Obwohl das Lied nicht sehr lang ist: sechs Strophen, davon jede sechs Verse, das heißt sechsunddreißig Verse, deren Sinn ich verstehe und die, gestützt durch die Melodie, für jedes durchschnittliche Gedächtnis zu bewältigen sein müssten. Meines funktioniert ausgezeichnet, doch es zeigte sich, dass es auf Russisch nicht dasselbe leisten konnte. Etwas oder jemand in mir sperrte sich gegen dieses Geschenk.
Und nun, fünf Jahre später, krame ich aus einem anderen Bücherschrank in einer anderen Wohnung mit einer anderen Frau noch einmal den Tschechow, den Lermontow und die Grammatikübungen heraus, die ich seit der Fertigstellung meines Buchs Schneetreiben nicht mehr angerührt habe. Die Grammatikübungen hatte ich damals von der ersten bis zur letzten mit Bleistift bearbeitet; um das Buch noch einmal benutzen zu können, muss ich meine Antworten also ausradieren. Ich tue das im Bett, Seite für Seite, manchmal zerknittern sie dabei und die kleinen Gumminudeln fallen in die Laken. Sophie schaut mir amüsiert dabei zu. Von ihr gesehen fühle ich mich lebendig.
Nach meiner Rückkehr aus Ungarn zog Sophie zu mir in die Rue Blanche. Sie hätte zwar lieber gemeinsam eine neue Wohnung gesucht, aber ich machte geltend, dass meine sehr schön und sehr groß war, nicht weit von meinen Söhnen entfernt, mit keiner Vergangenheit belastet und nicht von Gespenstern bewohnt, denn seit der Trennung von der Mutter meiner Söhne lebe ich dort allein, sodass schnell aus dem »bei mir« ein »bei uns« wurde. Sophie liebt es, »bei uns« zu sagen oder »zu Hause«. Im Adressbuch ihres Mobiltelefons hat sie den Eintrag »Emmanuel« durch »zu Hause« ersetzt. Nach dreizehn...




