E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Carson Leichenbitter
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14380-0
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-14380-0
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Coroner der Stadt Dublin untersucht Dr. Michael Wilson unerwartete oder merkwürdige Todesfälle. Als die Akte von Patrick Dowling auf seinem Schreibtisch landet, scheint eigentlich alles klar zu sein: Selbstmord durch Erhängen. Aber Wilson wird misstrauisch. Ist es wirklich Zufall, dass der Kollege, der sich vor ihm mit dem Tod des Ministersohns beschäftigte, ermordet wurde? Wilson beginnt, Fragen zu stellen – und gerät in Lebensgefahr. Denn manche Wahrheiten sollten lieber tief vergraben bleiben …
Paul Carson, 1950 in Belfast geboren, weiß, wovon er erzählt, wenn er kleine Bären in weiße Arztkittel steckt und sie mit Stethoskop und Pflaster ausgerüstet nach Patienten Ausschau halten lässt. Denn Paul Carson ist selber Arzt. Seit fast 15 Jahren hat er eine Praxis in Dublin, in der er weniger Bären, dafür umso mehr Kinder behandelt, die an Asthma und Allergien leiden.
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2
Patrick Dowling wurde am 30. November 2009 erhängt in einem Waldgebiet gefunden. Die polizeiliche Untersuchung zum Tod des Achtundzwanzigjährigen endete, sowie das Ergebnis der Obduktion bekanntgegeben wurde. Selbstmord. Die Polizei hatte ein paar Nachforschungen angestellt und mit engen Freunden und Verwandten gesprochen, allerdings ohne jedes Ziel vor Augen. Für sie war der Fall bereits erledigt. Dann landete aufgrund gewisser Umstände das Verfahren zur Feststellung der Todesursache auf meinem Schreibtisch, und nachdem ich die Akte einige Zeit studiert hatte, kam ich zu einem gänzlich anderen Schluss. Dowling war ermordet worden.
Meine Rolle als Coroner ist es, Vorfälle wie Patrick Dowlings Tod zu untersuchen. Ich stelle Nachforschungen bei ungewöhnlichen, ungeklärten, gewaltsamen oder unnatürlichen Todesfällen an. Ich frage nach dem Wer, Wann, Wo und Warum. Und dann entscheide ich, was passiert ist. Der Staat braucht eine Erklärung für ungewöhnliche Todesfälle, und die Familien müssen einen Schlussstrich ziehen können.
Nachdem ich also entschieden hatte, dass Dowling nicht von eigener Hand gestorben war, musste ich das Gericht anrufen und es beweisen.
Am Donnerstag, den 3. Juni 2010, um 13.45 Uhr, fing ich mit Jack Matthews an, dem Detective, der die Leiche entdeckt hatte. Wir saßen in meinem Büro – dem »Seufzerzimmer«, wie ich es nenne – im Coroner’s Court von Dublin. Seufzer, weil mein Personal hauptsächlich ebendiese aus meinem Büro hört, wenn ich über meinen Unterlagen brüte. Einen weiteren Namen habe ich für den Gerichtssaal selbst: »Geisterkammer.« Ich besitze eine lebhafte Fantasie.
»Als man Dowling fand, galt er noch nicht einmal seit vierundzwanzig Stunden als vermisst«, sagte ich, als würde ich die Akte gerade zum ersten Mal durchgehen. Ich sah über den Schreibtisch hinweg. Matthews nickte. »Warum die überstürzte Suche? Er war ein erwachsener Mann. Er hätte überall sein können. Mit einem Freund versumpft. In seinem Auto, um einen Kater auszuschlafen. Bei einem Mädchen. Es hätte eine Menge Erklärungen für sein Verschwinden geben können.«
»Dowling war drogensüchtig«, erklärte Matthews. »Und er war der Sohn von Minister Albert Dowling. Er war am Tag zuvor in eine Schlägerei mit einem polizeibekannten Kriminellen verstrickt gewesen. Wir machten uns Sorgen um sein Wohlergehen.«
Matthews war der für die Suche nach Dowling verantwortliche Polizeibeamte gewesen. Signale von Dowlings Handy hatten sein Team in ein abgelegenes Waldstück an der Grenze zwischen Dublin und Wicklow geführt.
Ich drehte mich ein Stück auf meinem Stuhl herum und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischoberfläche. Matthews ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen. Ein breites, unbewegtes Gesicht.
Ich tat so, als würde ich seine Erklärung akzeptieren. »Also deswegen wurden Sie so schnell aktiv.« Ich nahm einen Bissen von meinem Sandwich. Es schmeckte lausig. Die Lektüre der Verpackungsangaben verriet mir überdies, dass die vielen Zusatzstoffe für Ausschlag und für Sodbrennen reichen würden. Ich schob das Sandwich beiseite und schlug eine neue Seite in dem Aktendossier auf. Wieder ließ ich es so aussehen, als wäre ich gerade erst auf die entsprechende Stelle gestoßen. In Wahrheit ging ich das Dossier bereits zum dritten Mal durch, und schon bei der allerersten Lektüre hatte sich eine Reihe von Widersprüchen aufgetan. Verdächtige Hämatome an der Leiche. Dowlings letzte Stunden ließen sich nicht mit den Ergebnissen aus der Toxikologie in Einklang bringen. Eine fast leere Whiskeyflasche im Wagen des Toten, auf der man nicht die Spur eines Fingerabdrucks gefunden hatte. Warum sollte ein Mann, der beschlossen hatte, sich umzubringen, sich noch die Zeit nehmen, eine Whiskeyflasche sauber zu wischen? Also hatte ich weiter über den Unterlagen gebrütet und sie unter forensischen Aspekten auseinandergenommen. Als ausgebildeter Pathologe weiß ich, wie man so etwas methodisch macht. Ich nahm mir die getippte Version des Obduktionsberichts vor und unterstrich ein paar Passagen, mit denen ich besonders unzufrieden war. Am Ende war ich davon überzeugt, dass irgendjemand die Unwahrheit sagte – sei es jemand aus Polizeikreisen, ein Zeuge oder die Familie. Dowling war ermordet worden, daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel.
Ich trug den toxikologischen Befund laut vor. »Spuren von Kokain, Heroin und Amphetaminen in seinem Blutkreislauf.« Ich runzelte so heftig die Stirn, dass es beinahe wehtat. »Ein ordentlicher Cocktail. Es wundert mich, dass er seine Schnürsenkel noch zubinden konnte, ganz zu schweigen davon, eine Schlinge zu knoten.«
Matthews antwortete mir nicht, sondern rutschte lediglich nervös auf seinem Stuhl hin und her, rieb sich die Nase und kratzte sich am Kinn. Er sah aus, als wünschte er sich tausend Meilen weit weg. Er war ein hochgewachsener Mann Anfang fünfzig mit schütterem Haar und einer Tendenz zum Verlottern. Seine Haut war blass von zu viel Schreibtischarbeit, und er hatte einen beträchtlichen Schmerbauch. Seine Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Sein Anzug war fast so verknittert wie sein Gesicht, über das nun ein Anflug von Unsicherheit huschte.
»Als man ihn entdeckte, lag ein umgekippter Barhocker unter ihm.« Ich hatte einen bewusst monotonen, gelangweilten Tonfall gewählt. »Auf der Sitzfläche prangte der schlammige Abdruck seiner Schuhe. Schlussfolgerung: Er hatte sich die Schlinge um den Hals gelegt, sich auf den Hocker gestellt und ihn dann unter sich weggetreten.« Ich warf Matthews wieder einen raschen Blick zu. »Nur wie zum Teufel hat er all das geschafft?«
Matthews zuckte mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck war düster, seine Augen stumpf. Ich überlegte kurz, ob ihn die Erinnerung an den leblos vor ihm hängenden achtundzwanzigjährigen Dowling noch immer verfolgte. Niemand, der unvermutet auf einen Toten stößt, vergisst diesen Anblick jemals. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Dr. Wilson«, antwortete er. »So haben wir ihn jedenfalls gefunden.«
Er ließ sich nicht in die Karten schauen. Sofern er log, war er tatsächlich ein guter Lügner. Andererseits wusste er vielleicht wirklich nichts. Oder er hielt das Material in Dowlings Akte für plausibel. Dann war er dumm. Oder irregeleitet. Wenn meine schlimmsten Befürchtungen zutrafen, war Matthews sich der Tatsache, dass die Akte voller Unstimmigkeiten steckte, sehr wohl bewusst und stellte sich absichtlich unwissend. Doch ich würde diesen Verdacht nicht äußern. Zunächst wollte ich sehen, ob ich ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Er glaubte, wegen einer Vorbesprechung für das Gerichtsverfahren zur Feststellung der Todesursache hier zu sein, nicht zu einem Kreuzverhör.
Ich zog mein Sakko aus und hängte es über die Lehne meines Schreibtischstuhls. Dann öffnete ich den obersten Knopf meines Hemds und lockerte die Krawatte. Ohne ein weiteres Wort nahm ich Schriftstücke und Fotos aus der Akte. Matthews verfolgte jede meiner Bewegungen.
Die Polizeifotos des Erhängten breitete ich vor mir auf dem Schreibtisch aus. Man hatte Dowling auf einer Lichtung etwa zehn Meter vom Waldrand entfernt gefunden. Die Bäume standen dort dicht beisammen, die ganze Szenerie wirkte düster und unheimlich. Der Fotograf hatte herabgefallene und zerbrochene Äste eingefangen, die ganze Verwüstung eines noch nicht allzu lange zurückliegenden Sturms. Alles war von Zweigen, totem Laub und Blättern übersät. Rinde schälte sich von den Stämmen dicker Kiefern. BLITZ. Dann die Bilder der Leiche: der Oberkörper, der Kopf auf einem schrecklich abgeknickten Hals. BLITZ. Ein anderer Blickwinkel. Ein lebloses und aufgedunsenes Gesicht. BLITZ. Detailaufnahme des Seils, das in Dowlings Hals schnitt. Dieses Foto hatte auch Dowlings Mund, Nase und Augen erfasst. Ich starrte die Aufnahme an, drehte sie hin und her, als könnte das brutale Bild mir irgendeine Einsicht in die Gedanken des Toten offenbaren. Selbstmord ist ein Akt der Verzweiflung. Die meisten Menschen kämpfen um ihr Leben – bis zum letzten Atemzug kämpfen sie, um zu überleben. Warst du an jenem Tag so zutiefst verzweifelt, Patrick? Oder ist dir etwas anderes zugestoßen? Warst du wirklich allein, wie alle glauben? Oder war jemand bei dir? Hast du dir selbst das Leben genommen? Oder hat dich jemand getötet?
Ich blätterte zu einem anderen Abschnitt der Akte. »Der Obduktionsbericht schließt mit der Annahme, dass Dowling Selbstmord begangen hat. Das ist auch der Standpunkt des Staats im gerichtlichen Verfahren zur Feststellung der Todesursache.«
Matthews nickte wieder.
Ich seufzte laut. Da sind der Staat und ich offenbar nicht derselben Meinung, dachte ich.
»Ich wundere mich dennoch, warum er seinem Leben meilenweit entfernt von zu Hause in diesem Waldstück ein Ende setzte. Die meisten Selbstmörder bleiben auf heimischem Terrain.«
Matthews beugte sich vor. Sein Atem ging schwer und mühsam, und er kniff die Augen zusammen, sodass ich nur noch schmale, misstrauische Schlitze sah. »Irgendetwas stört Sie doch, Dr. Wilson. Was ist es?«
Ich gab ihm keine Antwort. Mich störte eine ganze Menge. Aber ich wollte vorsichtig zu Werke gehen. Die ganze Sache konnte durchaus einige Zeit dauern. Aber ich hatte Zeit. Tote drängeln nicht bei der Untersuchung ihrer Todesursache. Ich legte die Fotos in drei Reihen. Die erste zeigte den Hintergrund und den Wald. Dann sieben Aufnahmen von der herabhängenden Leiche. Die letzte Reihe zeigte einen schmalen Weg, der an Dowlings Fundstelle vorüberführte. Draußen klingelte ein Telefon, hörte...




