E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Carstens Das Lager am Kieler Rundweg
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7693-8536-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eisenbahnwaggons als Wohnstätte für Kieler Sinti
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-7693-8536-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bis 1964 waren in Kiel die Sinti in einem ehemaligen Zwangslager an der Alten Preetzer Straße 117-119 untergebracht, dort wo u.a. heute die Coventry-Halle steht. Die Wohnverhältnisse waren mehr als unzumutbar. Die Bewohnerinnen und Bewohner lebten am Rande der Stadt und somit auch am Rande der Gesellschaft. Der Plan, das Lager zu verlegen, entstand nicht etwa aus humanitären Gründen, um den Sinti zu einer menschenwürdigen Wohnung zu verhelfen, sondern das Lager sollte aus dem Stadtbild verschwinden. Schließlich einigte man sich darauf, als Wohnunterkünfte ausgemusterte Eisenbahnwagenkästen aufzustellen, um ihnen "die Illusion zu vermitteln, sie wären weiterhin mobil". Ob das gelingen konnte, ist Thema dieses Buches.
Dr. Uwe Carstens, M.A., Jahrgang 1948, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Ethnologie; langjähriger Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Referent der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft sowie Mitherausgeber der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe und Herausgeber des Tönnies-Forums; außerdem Lehrbeauftragter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
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Das Lager Preetzer Straße 119
Die Alte Landstraße von Gaarden, Stadtteil Gaarden-Ost, nach Preetz wurde erstmals im „Kieler Adreßbuch 1875“, S. 76 aufgeführt. Nach der Eingemeindung Elmschenhagens 1939 in die Stadt Kiel vereinigte man die Preetzer Chausseen Gaarden-Ost mit Elmschenhagen (siehe Kieler Adreßbuch 1940, Teil II, S. 1). Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte dann 1945 die Umbenennung in „Preetzer Straße“ (Oberbürgermeister Kiel 31.08.1945, Straßenbenennungsakte XI/9). Fügen wir noch die Nummer 119 hinzu, haben wir den Ausgangsort unserer Arbeit erreicht. Bezeichnenderweise wurde das erste Lager der Kieler „Sinti und Roma“, das seit 1936 an der Preetzer Straße 119 im Stadtteil Gaarden lag, „Obdachlosenlager“ oder „Asozialenlager“ und nicht wie im amtlichen Gebrauch üblich „Zigeunerlager“ genannt. In einem Vermerk des Dezernenten des Ordnungsamtes der Stadt Kiel aus den fünfziger Jahren heißt es etwas konfus: „Zurzeit wohnen im Asyl Preetzer Straße 119: 30 Deutsche Familien, dazu 4 Familien bei den Eltern. 77 Erwachsene und 40 Kinder. 30 Zigeunerfamilien. 61 Erwachsene und 87 Kinder. Zurzeit 23 behelfsmäßige Unterkünfte bestehend aus Wohnwagen, alten Postbussen und Holzbauten (bewohnt von Zigeunern und Deutschen). Feste Wohnräume z. Zt. 35“.5 Auf einer Gedenkkundgebung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen scheute sich der Kieler Oberbürgermeister (OB) Bantzer nicht, über die Situation der Sinti in seiner „eigenen“ Stadt zu sprechen.6 Eingang zum „Obdachlosen- oder Asozialenlager“ Preetzer Straße 119 Bantzer sagte u. a.: „Wenn ich für die Städte in der Bundesrepublik eines aussprechen darf, dann ist es die an uns selbst gerichtete Aufforderung, sensibel zu sein für die Lebensgewohnheiten und die besonderen Bedürfnisse, die Menschen mit eigenem Lebensstil und eigener Kultur in unserer Mitte berechtigterweise haben. Wir alle sollten uns darin einig sein, daß es bei den Angeboten der verantwortlichen Institutionen und den Wünschen der Betroffenen nicht um eine Assimilierung, eine bedingungslose Anpassung der Zigeuner an die Lebensweise der sogenannten Normalbevölkerung gehen kann. Dadurch würden kulturelle und ethnische Eigenarten verschwinden, eine Zumutung für den Einzelnen, ein unersetzlicher Verlust für unsere Gesellschaft […] in allem muß der Wert des traditionellen Lebensgefühls respektiert und anerkannt werden. Die harten Fakten unserer Industriegesellschaft machen es den Zigeunern schwer, wenn nicht teilweise unmöglich, ihren überlieferten Lebensgewohnheiten treu zu bleiben. Nicht wenige Konflikte, und wer wüßte das besser als ich, gibt es auch in dem Kontakt mit kommunalen Behörden.“ 7 Oberbürgermeister der Stadt Kiel Günther Bantzer (1921-2019)8 In der Schrift „Überlegungen zu geplanten Projekten des Vereins der Sinti“ (in Kiel) vom Oktober 1980 wird es noch deutlicher: „Bis 1964 haben die Sinti an der „Alten Preetzer Straße“ gewohnt, dort, wo heute die Coventry-Halle steht.9 Die Wohnverhältnisse waren mehr als unzumutbar. Sie lebten am Rande der Stadt, gehörten nicht zur Gesellschaft. Daß sie auch nicht mit einbezogen werden sollten, zeigt z. B. daß das Lager nicht an die städtische Müllabfuhr angeschlossen war […] der Plan, das Lager zu verlegen, entstand nicht aus humanitären Gründen, um etwa den Sinti zu einer menschenwürdigen Wohnung zu verhelfen. Es sollte lediglich den Mitbewohnern und Besuchern der Landeshauptstadt der Anblick des Lagers erspart bleiben.“ 10 Der AKKV Gaarden („Allgemeiner Kieler Kommunalverein – Bezirksgruppe Gaarden“, Vorsitzender K. Teske) drückte dies in den Kieler Nachrichten (KN) vom 13. April 1963 so aus: Das Problem der fehlenden Müllabfuhr für das Lager wurde von der Presse wenig hinterfragt. In den „Kieler Nachrichten“ heißt es u.a.: „Wer es sich erlauben würde, irgendwo im Stadtgebiet den Müll und Abfall vor seiner Haustür abzuladen, der wird durch die Behörden sehr schnell zur Ordnung gerufen.“ 11 Spätestens 1962/63 lag in der Luft, dass sich etwas ändern muss. Wobei z. B. die KN nicht zwangsläufig die Verlegung des Lagers als einzige Lösung sah: „Die beste Lösung wäre, um das Lager zur Preetzer Straße hin, nette hohe Anpflanzungen zu erstellen, weil jede Verlegung dieser Wohnstätte mit dem Einspruch der Nachbarn rechnen müßte, da jeder Stadtbezirk sich gegen die Aufnahme der betreffenden Personen wenden wird.“ 12 Die „abgebende Seite“ sah natürlich viele Gründe, das Lager „loszuwerden“. Das „Obdachlosenlager“ an der Preetzer-Straße 119 … und „etwas näher“ Der Plan, das Lager zu verlegen, entstand also weder aus humanitären Gründen, noch wollte man den „Sinti und Roma“ zu menschenwürdigen Wohnungen verhelfen. Preetzer Straße 119 – im Hintergrund der Kieler Rathausturm Die KN drückte es so aus: „Wir Kieler haben uns an den Anblick schon „gewöhnt“, aber jeder Fremde im Ferienland Schleswig-Holstein schüttelt den Kopf, wenn er an einer der belebtesten Ausfallstraßen der Landeshauptstadt das Zigeunerlager sieht.“13 Es sollte also seitens der Stadt zu einer Lösung kommen – 1962 war demnach nur eines klar: Das Lager muss verlegt werden. Die zuständigen Ämter waren also gefordert. Wer aber war zuständig und wie sollte das neue Lager beschaffen sein? Wir müssen noch einmal innehalten. Wurde tatsächlich erst in den 60er Jahren das Problem mit dem sogenannten „Zwangslager“ an der Preetzer Straße 119 diskutiert? Möglicherweise hat der Bericht des Stadtarztes Dr. Petersen über die Zustände in dem Lager viele der Verantwortlichen aufgerüttelt. Interessanterweise stammt der Bericht aus dem Jahre 1958. Alles braucht eben seine Zeit. Innenansichten des Lagers „Preetzer Straße 119“ Das Lager glich einer Müllhalde „Bericht über die Wohnverhältnisse im Lager Preetzer Chaussee 119 Das Lager liegt an der Preetzer Chaussee kurz vor dem Bahnübergang der Schönberger Bahn. Die Unterkünfte bestehen zum Teil aus Steinmauerwerk, zum Teil aus alten Wohnwagen, Anhängern und Buden. Die Steinbaracken haben grösstenteils keinen schutzbietenden Aussenputz, und auch an den Innenwänden liegt das feuchte, putzlose Mauerwerk vielfach frei. Nach aussen durch oft undichte Türen abgeschlossen, haben die Bewohner innen anstelle von Türfüllungen alte Wolldecken und Ähnliches vor den Türöffnungen. Jede Familie bewohnt einen ursprünglich unaufgeteilten Raum, der jedoch in den meisten Fällen durch behelfsmässige Wände unterteilt ist. Die Dächer, die offenbar nur aus einer Bretterlage mit Pappabdeckung bestehen, sind vielfach undicht und lassen Regen durch, wie die an den Wänden und Decken vorhandenen Wasserspuren erkennen lassen. Die zum Schlafen, Wohnen und zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und Brennmaterial dienenden Räume sind muffig und feucht, schlecht zu belüften und lassen wenig Sonnenlicht eintreten. Während die Steinbaracken noch teilweise als beschränkt schutzbietende Notunterkunft gelten können, sind die in grosser Zahl vorhandenen alten Omnibusse, Anhänger und sonstigen Buden, die in erster Linie von Zigeunern bewohnt werden, noch weniger winter- und witterungsfest. Im Bereich des ganzen Lagers in unmittelbarer Nähe der Behausungen finden sich unregelmässig verstreut grosse Müllhaufen, auf die jeder seinen Unrat wirft. Bei Regen bilden sich zwischen den Unterkünften und Unrathaufen ausgedehnte brakige Wasserlachen, die die Wege zur Wasserstelle und zu den Toiletten zum Teil unpassierbar machen. Wie oft eine Müllabfuhr erfolgt, entzieht sich unserer Kenntnis, nach der Grösse der Ablagerungen zu urteilen dürfte dies nur gelegentlich der Fall sein. Es bestehen zwar Toiletten mit Eimerleerung, offenbar erledigen jedoch viele Personen, insbesondere Kinder, ihre Notdurft ausserhalb der Toiletten. Das Lager wird bewohnt von Zigeunern und asozialen Familien. Wenn wir auch genaue Zahlen über die Belegung nicht vorliegen haben, so ist der unverhältnismässig hohe Anteil an Kindern, die überall im verwahrlosten Zustand umherspielen, auffallend. Ausserdem fällt die grosse Zahl gravider Frauen auf.14 Kleinkinder sind, wie die beigefügten Abbildungen zeigen, oft ungenügend angezogen, verwahrlost, zum Teil mit beulenartigen wahrscheinlich durch Krätze hervorgerufenen Hautveränderungen. Der Ernährungszustand ist demgegenüber offenbar ausreichend. Kinder und Erwachsene wohnen...