Casper / Gabriel / Reuter | Kapitalismuskritik im Christentum | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 5, 434 Seiten

Reihe: Religion und Moderne

Casper / Gabriel / Reuter Kapitalismuskritik im Christentum

Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik

E-Book, Deutsch, Band 5, 434 Seiten

Reihe: Religion und Moderne

ISBN: 978-3-593-43477-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Geht man der Frage nach, wo die geistigen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft liegen, stößt man auf die Kapitalismuskritik, die in den 1920er- und 1930er-Jahren gerade auch seitens der christlichen Konfessionen geübt wurde. In diesem Buch werden die Positionen wichtiger Protagonisten und Vordenker dieser Denkrichtung analysiert: Paul Tillich, Georg Wünsch, Karl Barth, Oswald von Nell-Breuning und Joseph Höffner. Daneben zeigt der Band exemplarisch, inwieweit die protestantische Sozialethik und die katholische Soziallehre Einfluss auf die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik genommen haben.
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Inhalt

Vorwort 9

I. Kapitalismuskritik und Entwicklungen in den 1920er und 1930er Jahren
Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos-Kreises 13
Erdmann Sturm

Wirtschaftsethik als Kapitalismuskritik - Georg Wünschs Modell einer nicht-formalistischen Wertethik und die "autonome Teleologie der Wirtschaft" 37
Matthias Wolfes

Religiöser Sozialismus als dialektische Theologie: Karl Barth 79
Sabine Plonz,

Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Zwischenkriegszeit 111
Jonas Hagedorn

Oswald von Nell-Breuning, S.J.:
Die Aktienreform und Moral (1930) - ein kapitalismuskritischer Zwischenruf eines juristischen Außenseiters? 142
Matthias Casper

II. Kapitalismuskritik und Naturrecht nach 1945
1. Kapitalismuskritik

Die Bedeutung religiöser Traditionen für die Wohlfahrtsstaatsentwicklung in Deutschland: Die Subsidiaritätssemantik in der Weimarer Republik und in der frühen Bundesrepublik 173
Karl Gabriel
Die Kapitalismuskritik bei Joseph Höffners und Oswald von Nell-Breuning 192
Friedhelm Hengsbach SJ

Vom reichen Christen und dem armen Lazarus - Auseinandersetzungen über Sozialismus und Marxismus in der evangelischen Sozialethik nach 1945 237
Benedikt Brunner

2. Die Besinnung auf das Naturrecht nach 1945 als dritter Weg?
Ein eigenständiger Beitrag? Wirtschafts- und Sozialethik in der juristischen Naturrechtsliteratur nach 1945 277
Lena Foljanty

Die "Ordnung der Wirtschaft" in den frühen Landesverfassungen: Weimarer Reminiszenz oder neuscholastisches Naturrecht 300
Fabian Wittreck

3. Die Debatte um die Mitbestimmung als pars pro toto
Die Mitbestimmungsinitiative des Bochumer Katholikentags 1949 für eine Wirtschaftsordnung aus christlicher Überzeugung 337
Werner Krämer

Die Mitbestimmungsdiskussion im DGB und der Bochumer Katholikentag 1949 365
Karl Lauschke

III. Rückblick, Zusammenfassung und Ausblick

Biblische Perspektiven zur Wirtschaftsethik 387
Rainer Albertz


Was bleibt von der christlichen Kapitalismuskritik? Eine zusammenfassende Spurenlese 404
Matthias Casper

Autorinnen und Autoren 432


Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos-Kreises

Erdmann Sturm
Paul Tillich und der Kairos-Kreis

Die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin hatte für das Wintersemester 1922/23 zu einer "politischen Arbeitsgemeinschaft" eingeladen. Nicht unterschiedliche Redner beliebiger politischer Richtungen sollten hier referieren, sondern es sollte "eine geschlossene Gruppe mit einheitlicher Grundrichtung sich darstellen und eine Grundanschauung allseitig durchführen". Gemeint war der Kreis der Blätter für Religiösen Sozialismus, der bald den Namen "Kairos-Kreis" erhielt. So sind die Referenten des politischen Seminars identisch mit dem Berliner Kairos-Kreis. Schon das Thema des Seminars - es lautete "Erneuerung des Sozialismus" - ließ erkennen, um was es diesem Kreis ging: um einen neuen Sozialismus, der den nach ihrer Auffassung auf das rein Ökonomische verengten, zur Orthodoxie erstarrten, bürokratischen Sozialismus überwinden sollte.
Die Leitung des Seminars hatte der Privatdozent an der Berliner theologischen Fakultät Paul Tillich (1886-1965), der unbestritten der führende Theoretiker des Kairos-Kreises wie überhaupt des religiösen Sozialismus in Deutschland war. Er war die zentrale Integrationsfigur des Kreises, ein Meister der Vermittlung zwischen den unterschiedlichsten Standpunkten. Das Thema seines Referats ("Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte") zeigt an, in welchem geistigen Rahmen der neue Sozialismus konzipiert werden sollte. Als weitere Referenten wurden genannt: Carl Mennicke (über "Sozialismus in der religiösen Bewegung der Gegenwart"), Eduard Heimann (über "Der Rang der Wirtschaft"), Alexander Rüstow (über "Marxismus und Gemeinschaft" sowie über "Gestalterkenntnis als philosophische Grundlegung des Sozialismus"), Adolf Löwe (über "Soziologie der deutschen Geschichte" sowie über "Soziologie der Kunst") und Arnold Wolfers (über "Macht und Gemeinschaft in der Weltpolitik"). Den Abschluss bildeten Tillich und Mennicke mit dem Thema "Der Sozialismus als Wirklichkeit und als Aufgabe".
Damit sind schon die wenigen Mitglieder des Berliner Kairos-Kreises genannt. Anfangs hatten auch der Berliner Pfarrer Günther Dehn und der Privatdozent für Neues Testament Karl-Ludwig Schmidt dazu gehört. Ein einheitliches Programm, dem jeder von ihnen hätte zustimmen können, hatte der Kreis nicht. Im Unterschied zu anderen religiös-sozialistischen Gruppen war er ein kleiner, elitärer Zirkel von Intellektuellen ohne Verbindung zur Kirche oder zum organisierten Sozialismus. Er wollte keine "Bewegung" sein oder anstoßen, sondern harte theoretische Arbeit leisten. Ihr Austausch- und Publikationsorgan waren die von Carl Mennicke herausgegebenen Blätter für Religiösen Sozialismus, eine aus wenigen Seiten bestehende Zeitschrift. Sie hatte nur eine geringe Verbreitung und hat von 1920 bis 1927 existiert. Als im Jahre 1925 Heimann als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Universität Hamburg und Tillich an die Universität Marburg berufen wurde, konnte der Kreis nicht mehr regelmäßig in Berlin zusammenkommen. Aber man traf sich immer wieder auf Tagungen und Konferenzen, so bei der Heppenheimer Konferenz 1928, wo Henrik de Man und Eduard Heimann zum Thema "Die Begründung des Sozialismus" sprachen. Tillich und Heimann waren auch die Herausgeber einer neuen Zeitschrift, der Neuen Blätter für den Sozialismus. Zeitschrift für politische und geistige Gestaltung, die - anders als Blätter für Religiösen Sozialismus - eine sozialdemokratische Zeitschrift sein wollte, aber eine geistige und politische Erneuerung des doktrinär erstarrten Sozialismus anstrebte. Sie hatte vor allem die "Mittelschichten" im Blick, die wie das Proletariat zu den Verlierern im System des Kapitalismus gehörten, dem Sozialismus aber distanziert, wenn nicht gar feindlich gegenüberstanden. Die Zeitschrift begann 1930 zu erscheinen. Tillich und Heimann verfassten für das erste Heft je einen programmatischen Aufsatz. Das letzte Heft erschien im Juni 1933. Zu diesem Zeitpunkt besaß die Zeitschrift eine Auflage von 10.000 Exemplaren, hatte also eine beachtliche Verbreitung.
Dass der Kreis der Blätter für Religiösen Sozialismus bald "Kairos-Kreis" genannt wurde, geht darauf zurück, dass der damals modische Begriff "Kairos" - im Gegensatz zum negativen Begriff der "Krise" - das Zeit- und Geschichtsbewusstsein des Kreises kennzeichnete. Es war Mennicke, der den neutestamentlichen Begriff "Kairos" (das heißt der Fülle der Zeit) in die Debatte eingeführt hatte. Es sei die Grundtendenz des Sozialismus, so schrieb Mennicke, "alle Gebiete des Lebens, auch Wirtschaft und Politik, ganz ernst zu nehmen. […] Das ist der Sinn unserer scharf antibürgerlichen Haltung". Den Sozialismus nannte er "die zeitgeschichtlich bedingte Form des Kampfes gegen den Mammonismus" (S. 31). Auch Jesus habe den Mammon als "die irdische Inkarnation des Teufels empfunden". Der Mammon bzw. seine heutige Form, der Kapitalismus, sei deshalb der Teufel, "weil er bewusst und ausdrücklich gleichgültig und damit feindlich gegen das eigentliche Leben oder […] die Gemeinschaft ist" (S. 31). In einem programmatischen Aufsatz hat Tillich im Jahre 1922 den Kairos-Begriff aufgenommen und ihn zu einer zentralen geschichtsphilosophischen Kategorie geformt. Im Hintergrund des Begriffs, so schrieb Tillich 1926 in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes Kairos, steht "eine Deutung der Geschichte und dieses unseres geschichtlichen Augenblicks vom Übergeschichtlichen, Ewigen her. […] Unsere Auffassung ist historisch-dynamisch. Sie unterscheidet sich aber von der Lebensphilosophie und ihren Arten und Unarten dadurch, dass sie das Leben nicht aus sich und seinem bloßen Erscheinen zu verstehen sucht, sondern aus dem die Wirklichkeit tragenden und erschütternden Grund. Das gibt die Möglichkeit, den Relativismus zu durchbrechen und als Erkennender richtend und gestaltend dem Leben gegenüberzutreten."
"Die Ethik der christlichen Liebe erhebt Anklage …" (1919)
Die ersten kapitalismuskritischen Äußerungen Paul Tillichs finden sich in der zusammen mit seinem Freunde, dem Berliner Jugendpastor Carl Richard Wegener, verfassten und 1919 publizierten Broschüre Der Sozialismus als Kirchenfrage. Beide Theologen hatten im Mai 1919 bei der USPD in Zehlendorf einen Vortrag über das Thema "Christentum und Sozialismus" gehalten und sich dafür eine Rüge der Kirchenleitung eingehandelt. Sie wandten sich daraufhin mit der genannten Schrift an die Kirche und die Öffentlichkeit.
Sie setzen ein mit der These, dass das Christentum einerseits prinzipiell überkulturell und unabhängig von jeder politischen und wirtschaftlichen Ausprägung ist, andererseits konkret werden muss und nur dadurch konkret wird, dass es in bestimmten kulturellen Ausprägungen Ausdruck gewinnt. So sei es auch eins geworden mit den großen Formen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, so in der Spätantike mit der Sklavenwirtschaft, im Mittelalter mit der Naturalwirtschaft und Lehnsverfassung. Der Calvinismus sei in engste Verbindung getreten mit dem Kolonialkapitalismus und der Demokratie, die lutherische Kirche mit Agrarwirtschaft und absolutistisch-patriarchalischem Obrigkeitsstaat und in der Gegenwart die "moderne Kirche" mit Hochkapitalismus, Nationalismus und Militärstaat. Tillich rezipiert hier Ernst Troeltschs in den Soziallehren von 1912 vorgenommene Einteilung der Kirchen- und Sozialgeschichte samt ihrer Charakteristik. Beschränkt sich Troeltsch am Ende seiner Untersuchung auf die "Einsicht in die problematische Arbeit" angesichts des "harten Stoff[s] der sozialen Wirklichkeit", so erheben Tillich und Wegener eine mehrfache Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung der Gegenwart. Das Christentum, so behaupten sie, habe zu allen Zeiten und in all seinen Ausprägungen in der Liebesethik Jesu die "grundlegende Norm für das Gemeinschaftsleben" (S. 14) gesehen. Es habe darum für bestimmte Formen der Gesellschaftsordnung "eine größere Affinität als für andere". "Die Ethik der Liebe trägt in jede Gesellschafts- und Wirtschaftsform ein Ferment der Kritik, das umso erregender ist, je mehr sich jene auf Gewalt, Unterdrückung, Eigennutz gründen" (S. 14). Das Christentum muss darum "im gegenwärtigen Moment in Opposition treten gegen die kapitalistische und militaristische Gesellschaftsordnung, in der wir stehen und deren letzte Konsequenzen im Weltkrieg offenbar geworden sind" (S. 14).
Der Kapitalismus verbindet sich für Tillich und seinen Mitautor mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung, die grundsätzlich auf Egoismus aufgebaut ist und die sie als Klassengesellschaft bezeichnen. Ihre Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gipfelt in einer vierfachen Anklage:
"5. Die Ethik der christlichen Liebe erhebt Anklage gegen eine Gesellschaftsordnung, die bewusst und grundsätzlich auf dem wirtschaftlichen und politischen Egoismus aufgebaut ist, und fordert eine neue Ordnung, in welcher das Bewusstsein der Gemeinschaft das Fundament des gesellschaftlichen Aufbaues ist (Idee des Sozialismus).
6. Sie erhebt darum Anklage gegen den grundsätzlichen Egoismus der Privat- und Profitwirtschaft, die ihrem Wesen nach ein Kampf aller gegen alle ist, und fordert eine Wirtschaft der Solidarität aller und der Freude nicht am Gewinn, sondern am Werk selber.
7. Sie erhebt Anklage gegen den grundsätzlichen Egoismus einer Gliederung der Gesellschaft nach Klassen, durch welche der Klassenkampf notwendig verewigt wird; gegen das auf Geld und Erbschaft gegründete Privileg der Bildung, das den sittlich zerstörenden Gegensatz von ›Gebildet‹ und ›Ungebildet‹ geschaffen hat; sie fordert eine Gesellschaft, in der die Stände nicht zu Klassen werden, und die gleiche Bildungsmöglichkeit der Befähigten jedes Standes.
8. Sie erhebt Anklage gegen den grundsätzlichen Egoismus der nationalen Machtpolitik und die Rechtfertigung der Lüge und Unterdrückung durch die nationale Idee und fordert die Beugung aller Staaten unter eine überstaatliche Rechtsordnung" (S. 14f.).
Auf die Ethik der christlichen Liebe beruft sich Tillich aber nicht nur in seiner Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung, sondern auch in der Verteidigung gegen die Vorwürfe, die sowohl der Kapitalismus als auch die Kirche gegen den Sozialismus erheben. So wurde dem Sozialismus entgegengehalten, die von ihm betriebene Ausschaltung des Egoismus als Triebkraft der Wirtschaft lähme die Produktion. Der Sozialismus kann darauf im Sinne der christlichen Ethik erwidern, so die beiden Autoren, "dass nicht der Mensch um der Produktion, sondern die Produktion um des Menschen willen da ist, und dass nicht die Produktion von möglichst vielen Luxusgütern für einzelne, sondern von notwendigen Lebensgütern für alle sittliches Ziel der Wirtschaft ist" (S. 15). Dem von der Kirche erhobenen Vorwurf gegen den Sozialismus, sein Diesseitigkeitsideal widerspreche dem christlichen Glauben an ein Jenseits, hält Tillich entgegen, es sei der Ethik der Liebe wesentlich, "auch das Diesseits von sich aus gestalten zu wollen", ebenso könne der Sozialismus "eine Betrachtungsweise anerkennen, die alles Bedingte, Zeitliche unter den Gesichtspunkt eines Unbedingten, Ewigen stellt" (S. 15f.). Auch dem Einwand, der Sozialismus wolle den Menschen durch Änderung der Zustände ändern, widerspricht Tillich: Es sei Pflicht der Liebe, "die äußeren Hindernisse, insonderheit die stumpfmachende Arbeitssklaverei, zu beseitigen, die es Unzähligen in allen Ständen schwer, ja psychologisch fast unmöglich macht, geistigem Leben überhaupt und damit auch der Religion offen zu sein" (S. 16). Hinter diesem Argument steckt die Idee der Einheit aller Formen der Kultur, einschließlich der Wirtschaft und Gesellschaft. Die wirtschaftliche Einheit, so behauptet Tillich, "war allzeit in der Geschichte mit geistiger Einheit verbunden, der Einheitspunkt aber des Geistes ist die Religion". Wo die wirtschaftliche Einheit sich auflöste - und dies war für Tillich im "Hochkapitalismus" der Fall -, da "wurde auch das Geistesleben widerspruchsvoll, und die Religion verlor ihre einigende Kraft" (S. 16):
"In einer solchen Periode der Auflösung", so Tillich, "standen wir; ein neues Zeitalter der Einheit hebt an; der Sozialismus wird seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlage bilden. Das Christentum aber steht vor der Aufgabe, dieser Entwicklung seine sittlichen und religiösen Kräfte zuzuführen und dadurch eine neue große Synthese von Religion und Gesellschaftskultur anzubahnen" (S. 16).
Tillich ist also im Jahre 1919 davon überzeugt, dass mit der Novemberrevolution von 1918 die Periode des Kapitalismus überwunden ist und nun "ein neues Zeitalter der Einheit" begonnen hat. Die Konsequenz ist die Vereinigung von Christentum und Sozialismus.
Der Unendlichkeitscharakter des Kapitals
Das inspirierende Vorbild dieser Kultursynthese ist für ihn, wie er in seiner im Sommersemester 1919 an der Berliner theologischen Fakultät gehaltenen Vorlesung ausführt, die "mittelalterliche Einheitskultur", die er der "modernen Auflösungskultur" entgegenstellt. Aus den "Auflösungserscheinungen der Gegenwart" soll "die Idee einer neuen religiös geleiteten Einheitskultur" (S. 77) geboren werden. Tillich greift dabei auf die deutsche Romantik, insbesondere auf Novalis' Schrift Die Christenheit oder Europa, und auf den französischen Frühsozialismus, hier vor allem auf Saint-Simons Idee einer "sozialen Religion" zurück. Ausdrücklich bekennt er sich zu dieser deutsch-französischen, "romantisch-frühsozialistischen Geschichtsphilosophie" (S. 81). Die mittelalterliche Einheitskultur habe bis zum 15. Jahrhundert geherrscht. Dann beginnt - mit der Renaissance und Reformation (!) - die "moderne Auflösungskultur" (S. 72), die bis in die Gegenwart dauert, aber nun durch eine "neue religiös geleitete Einheitskultur" (S. 81) abgelöst werde. "Was ich will", so schreibt Tillich im September 1919 an seine Freunde in der Wingolfs-Verbindung, "ist eine neue aus dem Geist der christlichen Liebe und des Sozialismus geborene Gesellschaftsordnung, in der Kapitalismus und Nationalismus grundsätzlich überwunden sind".
In der genannten Berliner Vorlesung vom Sommersemester 1919, die er für Hörer und Hörerinnen aller Fakultäten gehalten hat, widmet er sich ausführlich dem Thema Wirtschaftspolitik. Wie schon Max Weber und Ernst Troeltsch bringt er den Geist des Kapitalismus in Zusammenhang mit dem Calvinismus. So seien zum Beispiel das "Arbeitsgebot" und das "Luxusverbot" kapitalbildend gewesen. Aber erst mit dem Auftreten des Individualismus, der Gleichheitsidee und der "Individual-Hedonistik" finde der Übergang der calvinistischen Ethik ins "bürgerlich-kapitalistische Fahrwasser" bzw. in die "moderne Wirtschaftstheorie" (S. 240) statt.
Im Liberalismus sieht Tillich eine "ungeheure Steigerung des Persönlichkeitsgefühls. […] Auf mich kommt alles an, auf mich allein. Ich kann alles aus mir machen, kann alles gewinnen, wenn ich alles wage." (S. 248) Ein solches Lebensgefühl stoße alle Bindungen von sich ab, alle politischen, am Ende auch alle religiösen. Der einzelne Mensch - Tillich nennt ihn "Renaissancemensch" - hat sein "gotisches Unendlichkeitsgefühl" nicht mehr in einem Jenseitigen, sondern im Diesseits. "Das Diesseits wird zum Betätigungsfeld der inneren Unendlichkeit. Der Liberalismus wirkt sich aus als Kapitalismus." (S. 251) Der Kapitalismus ist also die Verkehrung des Jenseits ins Diesseits.
Den "Unendlichkeitscharakter des Kapitals" (S. 251), insbesondere des Kreditwesens, die "Irrationalität höchster Potenz" (S. 252), die im Kapitalismus steckt, den Reiz, den die Spekulation ausübt, beschreibt Tillich in seiner Vorlesung so:
"Ins Grenzenlose geht alle Wirksamkeit des kapitalistischen Schaffens. An Stelle des Produktes, das gebraucht wird, tritt die Ware, die verkauft wird. Derselbe Gegenstand als Produkt der Bedürfnisbefriedigung ist endlich, als Ware unendlich. Im ersten Falle ist er genau bestimmt durch das vorhandene Bedürfnis, im zweiten Falle soll er Bedürfnis erwecken, eine principiell unbegrenzbare Aufgabe. Darum ist die Warenproduktion gleichfalls unendlich; sie hat erst an der Sättigung des Weltmarktes ihre Grenze. Das aber bedeutet in den Ursprungszeiten des Kapitalismus faktische Unendlichkeit. Daher das gigantische Ausdehnungsstreben der Industrie und des Handels. Immer mehr Produkte sollen geschaffen, immer neue Gebiete wirtschaftlich erobert werden. Das Geld löst sich los von seiner unmittelbaren Bedeutung als Tauschmittel und wird zum Kapital und damit zu einem unbegrenzte Möglichkeiten in sich bergenden Produktionsmittel. Das Finanzkapital befiehlt, und die zahllosen Arbeiter wandern in irgendeine Wüstenei, um eine Bahn zu bauen, die niemand der Bewohner des Landes will. Die Macht, die die Pharaonen hatten, um für ihren Genius die Pyramiden auftürmen zu lassen, haben ein paar Finanzleute in London und New York, um eine Bahn vom Kap […] nach Kairo oder einen Kanal durch Centralamerika bauen zu lassen. Unterstützt, ja eigentlich vollendet wird dieser Unendlichkeitscharakter des Kapitals durch das Kreditwesen, das in unbegrenztem Maße die Übertragung und Verschiebung von Kapitalien ermöglicht und beliebige Kräfte in den Dienst des Kapitals stellen kann. Mit der Unendlichkeit hat das Kreditwesen und der Kapitalismus auch die Eigenschaft der Unübersehbarkeit gemein. Niemand kann in die unendlichen Komplikationen der Marktverhältnisse mit Sicherheit hineinschauen. Jede Spekulation ist ein Sprung ins Dunkle. Aber gerade darin liegt ihr Reiz, ja man möchte sagen, ihre Mystik, ihre psychische Tiefe. Das Hineinbauen ins Unendliche, ins Dunkle, das ist es auch, was bei den tieferen Vertretern des lebendigen schöpferischen Kapitalismus das eigentlich Antreibende ist, ihr unendliches Werk, nicht ihre oft sehr begrenzten und bewusst eingeschränkten Konsumtionsmöglichkeiten. Es liegt etwas Titanenhaftes, den Renaissancepersönlichkeiten Analoges in dem ins Unendliche und Riesenhafte Schaffen dieses kapitalistischen Liberalismus. Er ist eine Irrationalität höchster Potenz, der sich aller rationalen Gestaltung entziehen will. Man sollte den Liberalismus nicht kritisieren, wenn man diese Stimmung nicht begriffen hat. Sie ist in ihrer Art auch ein Nach-den-Sternen-Greifen.
Aber die naturalistische Grundlage kommt zur Auswirkung. Die unendlichen Kräfte, die in Bewegung gesetzt sind, werden Herren des Menschen, der sie beherrschen wollte, innerlich und äußerlich. Innerlich, insofern der Mensch nun in der Tat zu einem Rad im Produktionsprozeß wird, der Arbeiter als ein Stück Maschine und der Unternehmer als das centrale Rad. Beide aber sind eingespannt in das Triebwerk der kapitalistischen Wirtschaft, das sie zu Sklaven macht. Alle geistigen und seelischen Werte werden absorbiert, und das Unendlichkeitsgefühl, das einen solchen Schwung gab, erweist sich schließlich als leer und seelenlos. - Und äußerlich: Die ins Unendliche gehenden Kräfte geraten in Antinomie. Es beginnt der Kampf der Arbeiter gegen den Unternehmer, der Unternehmer gegeneinander, der Kapitalistengruppen eines Landes gegen die des anderen. Die Unendlichkeit des Kapitalismus erweist sich als Endlichkeit, sobald die Welt verteilt ist, und in furchtbaren Katastrophen treffen die Kräfte aufeinander, die entfesselt sind, und reißen alles in den Abgrund, was sie geschaffen haben, und treiben zu neuer Gestaltung nach rationalen Principien. Die Naturgesetze, in denen der Liberalismus die Wirtschaft verankern wollte, erwiesen sich als echte Naturgesetze mit ihrer schaffenden und vernichtenden Kraft." (S. 251f.)
Die Dämonie der bürgerlichen Gesellschaft
Den "Naturalismus" des Kapitalismus, seine schöpferische und zerstörerische Kraft, kann Tillich auch als das Dämonische deuten. In seiner geschichtsphilosophischen Studie über Das Dämonische von 1926 nennt er zwei Dämonien, die die Gegenwart bestimmen: die Dämonie der autonomen Wirtschaft, den Kapitalismus, und die Dämonie des souveränen Volkes, den Nationalismus. "Es kann kein Zweifel sein", so Tillich, "dass die kapitalistische Wirtschaftsform in höchstem Maße den tragenden, schöpferischen und umschaffenden Charakter hat, der zum Dämonischen gehört. Ebenso aber, dass diese ihre tragende Kraft verbunden ist mit einer zerstörenden von grauenhafter Gewalt. […] Die Tiefe des Dämonischen ist gerade die, dass das Sinnhafte und Sinnwidrige in ihm unauflöslich verbunden sind."
"Wir alle leben vom Kapitalismus", schreibt Tillich ebenfalls 1926 in einem Aufsatz, den er erneut unter der Überschrift "Kairos" publiziert, und er fährt fort: "[N]ur er kann die Massen ernähren, nur er kann die Erde umspannen und zusammenschließen; und doch zerstört er uns. Er zerstört die Massen, die er aller Gehalte und Lebensbeziehungen beraubt, atomisiert und unter den Gesetzen der autonomen Wirtschaft zusammenschmiedet. Er zerstört […] die Gemeinschaften, indem er das Interesse eines jeden dem jedes anderen entgegenstellt und durch die wechselnde Solidarität der Interessen den Kampf nur umfassender gestaltet, ohne wirklich Gemeinschaft zu stiften." (S. 39f.) Es sei die Dämonie des bürgerlichen Geistes, dass er ein System geschaffen habe, "das dazu zwingt, im unendlichen Dienst am Endlichen und im Kampf aller gegen alle Leib und Seele zu opfern". Der Name dieses Systems sei: "kapitalistische Wirtschaft". In ihr komme die "Dämonie des bürgerlichen Geistes" (S. 39) zu symbolischem Ausdruck.
Tillich begnügt sich aber nicht mehr mit einer Phänomenologie des Kapitalismus. Er will vorstoßen zu einem Prinzip hinter den konkreten Erscheinungsformen des Kapitalismus. In ähnlicher Weise hatte er zwischen dem Protestantismus als Wirklichkeit und dem protestantischen Prinzip unterschieden. Dieses Prinzip hinter dem Kapitalismus ist für ihn der Geist der bürgerlichen Gesellschaft, den er als den Geist der "in sich ruhenden Endlichkeit" (S. 37) beschreibt:
"Sie [die bürgerliche Gesellschaft; E.S.] hat die Dinge und die Gesellschaft leer gemacht, ihre Tiefe, ihre Substanz verloren, ihre innere Glut erkalten lassen. Sie hat die rationale, der exakten Erkenntnis und technischen Beherrschung zugewandte Seite der Dinge und der Gesellschaftsformen allein in der Hand behalten. Sie hat den Einzelnen losgelöst von den kosmischen und sozialen Einheiten, ihn seiner Verbindung mit der metaphysischen Tiefe des Wirklichen beraubt und ihn als leeres Atom zur Masse zusammengeballt. […] Sie hat das Göttliche an die Grenze der Welt gebannt […], sie hat Gott, den Erschütterer der Zeit und der Endlichkeit, zum Abschluss oder Ausdruck der in sich ruhenden Endlichkeit werden lassen." (S. 37)
Es ist nun die große prophetische Tat von Karl Marx, die Dämonie der bürgerlichen Gesellschaft symbolkräftig beschrieben und einen leidenschaftlichen Kampf gegen sie entfesselt zu haben. Dabei gehe es nicht um den Kampf von Arbeitern gegen Unternehmer, sondern um einen Kampf gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Das Prinzip macht den Kampf notwendig. Dieser Gedanke gibt Tillich die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass der religiöse Sozialismus "gegenwärtig am deutlichsten" vom "religiösen Sinn" des antikapitalistischen Kampfes spreche. Der religiöse Sozialismus suche, über alle Parteipolitik hinaus "zum Prinzip vorzudringen und auf diese Weise den sozialistischen Kampf einzubeziehen in das Bewusstsein um den Kairos" (S. 40). Der antikapitalistische Kampf ist also der eine Teil des sozialistischen Kampfes, der andere, ja der wichtigste Teil ist die Teilnahme am Schicksal der Zeit. Der Kairos fordert die Teilnahme, die "verantwortliche Entscheidung" (S. 40).
Auf diese Weise bringt Tillich nun einen zweiten machtvollen prophetischen Geist des 19. Jahrhunderts ins Spiel: Friedrich Nietzsche. Ging es Marx im Kampf gegen den Geist der bürgerlichen Gesellschaft um die Gerechtigkeit, so Nietzsche um "das schöpferische Leben" - in beiden Fällen auch gegen den selbst gemachten Gott der bürgerlichen Gesellschaft. "Nietzsche eröffnete den Kampf gegen die Dämonie der bürgerlichen Konvention, gegen die Lüge, die die Urkräfte des Lebens, den Willen zur Macht in allen seinen Formen, den Eros in seiner schöpferischen Gewalt verleugnete, um die Wirklichkeit der rationalen Form zu unterwerfen." (S. 40) Aus der "Anschauung des ursprünglichen Lebens" habe Nietzsche die "Kraft zu einer Verkündigung der urschöpferischen Mächte" gewonnen. Die Lebensphilosophie, die Jugendbewegung, die Dichtung Stefan Georges haben diesen befreienden Kampf Nietzsches zu ihrer Sache gemacht. Wollte der Sozialismus "die von hier kommenden Kräfte" verschmähen, würde er bezeugen, "wie tief er noch dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft verfallen ist" (S. 41). Aber auch umgekehrt gilt: Eine "Verkündigung des schöpferischen Lebens", die sich dem Dämon des Kapitalismus hingeben würde, würde zeigen, wie tief sie dem Geist verfallen ist, den sie doch bekämpft. So sind beide Bewegungen, die von Marx und die von Nietzsche ausgehenden, aufeinander angewiesen, beide im Kampf gegen den Geist der bürgerlichen Gesellschaft, sie "gehören zusammen, und beide wachsen zusammen […] in der Sehnsucht nach einer neuen, geweihten Wirklichkeit" (S. 41). Tillichs "verantwortliche Entscheidung" ist somit die Entscheidung des Sozialismus, "die sich vereinigen [kann] mit einer Entscheidung für die von Nietzsche herkommenden Bewegungen" (S. 40). Den politischen Teil dieser Bewegungen nennt Tillich hier noch nicht, doch der Sache nach ist die Behauptung, dass die beiden Bewegungen zusammengehören und zusammenwachsen, eine Vorwegnahme des in der "sozialistischen Entscheidung" von 1932/33 Geforderten.
Mit Romantik, Rausch und Utopie, so Tillich, ist dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft nicht beizukommen. Dazu ist seine "dämonische Kraft viel zu groß" (S. 41). Dies bedeute aber, "dass wir uns auf allen Gebieten der konkreten, realen Lage zuzuwenden haben" (S. 41). Die Haltung, die Tillich jetzt fordert, ist die Haltung des "gläubigen Realismus" (S. 41).


Prof. Dr. Matthias Casper, Prof. Dr. Karl Gabriel und Prof. Dr. Hans-Richard Reuter forschen am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster.


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