E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Cassola Ins Holz gehen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-311-70510-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-311-70510-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Hinter Montecerboli waren die Reisenden nur noch zu fünft: ein junger und ein älterer Mann, zwei Frauen und ein Kind.
Der Schaffner rieb sich die Hände:
»Heute Abend sind wir wirklich unter uns«, sagte er zufrieden.
Der Mann im hinteren Teil lächelte, dann blickte er zum Fenster hinaus, obwohl man in der Dunkelheit nichts sah.
Er musste um die siebenunddreißig, achtunddreißig Jahre alt sein. Der Pelzkragen seiner Jacke war abgewetzt, der Hut leicht aus der Stirn geschoben. Sein Gesicht war hager, die Nase gerade und die Lippen fest; seine Hände knochig und stark.
Zu Beginn der Steigung geriet der Bus ins Stocken. Der Gang rastete ein, und er setzte seinen Aufstieg schnaubend fort. Er solle beim Laden halten, sagte der Mann.
»Halt’ beim Laden«, gab der Schaffner die Anweisung an den Fahrer weiter.
Eine betagte Frau wartete in der Tür auf den Bus. Sie hielt mit geschärftem Blick nach dem Reisenden Ausschau, erspähte ihren Neffen allerdings erst, als er direkt vor ihr stand.
»Oh, Guglielmo«, sagte sie, »wie geht’s? Ich habe dich im Dunkeln nicht erkannt.«
»Wie geht es Euch, Lina?«, gab der Mann zurück. Er nannte sie beim Vornamen, aber duzte sie nicht, obwohl sie seine Tante war.
»Gut, und Caterina? Komm rein, es ist kalt.«
Die einzige Beleuchtung im Raum bestand aus einer Glühbirne an einem Draht. Die Einrichtung war nicht minder spärlich: Eine an die Wand gerückte Bank, zwei an die Bank geschobene Tische, vier oder fünf Hocker – mehr hatte der Laden der Kundschaft nicht zu bieten. Hinter dem Tresen stapelte sich die Ware. Es gab hier alles, wenn auch von allem nur wenig: Lebensmittel, Rauchwaren, Garn, Hefte, Füllfedern, Ansichtskarten. Auch abgestandene Kekse wurden in einem Einmachglas feilgeboten. Die Zweige gegen die Fliegen blieben von Sommer zu Sommer an den Wänden hängen, unter dem Heiligen Herzen Jesu brannte stets ein Teelicht.
»Willst du kurz ins Haus kommen?«, fragte die Tante.
»Nein«, antwortete Guglielmo. »Ich esse eine Suppe und gehe wieder.«
Ohne den Hut abzunehmen, nahm er am freien Tisch Platz – der andere war von zwei Kartenspielern besetzt – und starrte ins Leere.
»Kalt draußen?«, fragte einer der Spieler.
Guglielmo kam wieder zu sich:
»Und wie«, antwortete er.
»Es dauert nicht lange«, sagte die Tante, als sie wiederkam.
Guglielmo nickte.
»Warst du lange weg von zu Hause?«, fragte sie.
»Nein … erst seit Montag«, gab der Mann zurück.
»Wo kommst du her?«
Der Mann zeigte in Richtung Tür:
»Aus Massa«, sagte er dann. »Ich habe mir einen Holzschlag beschafft«, fügte er hinzu, um ihrer Frage zuvorzukommen.
»Warum so weit weg?«, hakte sie nach.
Guglielmo lächelte:
»Es passte«, sagte er.
»Und du wirst ihn selber schlagen?«, fragte die Tante weiter.
»Versteht sich«, antwortete der Mann. »Mit der üblichen Mannschaft.«
Die Neugierde der Frau schien gestillt. Sie wechselte das Thema und sagte, sie hätte Caterina schon monatelang nicht mehr gesehen.
»Ich bin alt und laufe nur ungern. Und sie, ich kann mir vorstellen, dass sie mit den Mädchen alle Hände voll zu tun hat …«
Der Mann pflichtete ihr nickend bei.
»Ein Engel, diese Frau«, stellte sie fest.
»So ist es«, stimmte er ihr zu.
»Siehst du, Guglielmo, wenigstens hattest du Glück im Unglück mit einer Schwester, die sich um die Mädchen kümmert …«
»Ja«, antwortete er. »Ja, mein Glück. Ich wüsste nicht, wie ich sonst … Ich hätte mir eine neue Frau suchen müssen.«
Die Tante verschwand hinter dem Vorhang hinten im Raum, um ein paar Minuten später mit einer Schüssel klarer Brühe wiederzukommen, in der einzelne Reiskörner schwammen. Dann brachte sie ein halbes Brot und einen Viertelliter Wein an den Tisch. Der Mann nahm das Brot und riss es in kleine Stücke, kippte ein paar Tropfen Wein in die Schüssel, stieß den Löffel hinein, verrührte Brühe, Wein und Brot und machte sich ans Essen.
Die Tante sah ihm eine Weile zu; da er nicht von seiner Suppe aufblickte, setzte sie sich wieder hinter den Tresen.
Guglielmo verschlang auch das Brot und den Käse, trank ein weiteres Glas Wein und fragte, wie viel er ihr schuldete.
»Eins vierzig«, antwortete die Tante.
Er zog seine Uhr aus der Westentasche:
»Viertel nach acht«, sagte er. »Sie werden bestimmt schon im Bett sein«, fügte er wie zu sich selbst hinzu.
»Grüß Caterina«, sagte die Tante, »und küss die Mädchen von mir. Und du, pass auf dich auf.«
»Macht euch keine Sorgen«, antwortete Guglielmo.
Er wünschte den Spielern Gute Nacht und trat hinaus. Es war nicht mehr so dunkel wie noch eine Stunde zuvor, obwohl der Mond hinter einer Nebelbank verborgen war. Guglielmo blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und lief zügig los.
Ein paar Hundert Meter lang war die Straße flach, dann ging es abwärts. Die Felder waren vorbei, und der Weg verlief durch Gehölz. Guglielmo warf den Stummel fort und beschleunigte seinen Schritt. Er dachte an das am Vortag abgeschlossene Geschäft, ging jedes einzelne Detail noch einmal durch. Beim Überschlagen der Zahlen gelangte er stets zum selben Ergebnis: Er würde nicht weniger als siebentausend Lire Gewinn machen. Gewiss, es war ein Wagnis gewesen, zuzugreifen, ohne die saisonalen Preise zu kennen … In Gedanken an das Geschäftliche achtete er nicht auf den Weg. Die kleine Brücke, die er überquerte, nahm er kaum wahr und setzte mit demselben raschen Gang zum Anstieg an. Nach und nach wurde er langsamer, schweifte in Gedanken ab. Als er an einer baufälligen Hütte vorbeiging, musste er an den alten Mann denken, der sie einst bewohnt hatte, und an seine Geschichten über Hexen, Magier, Teufel und Zauberei … Guglielmo war noch immer nicht ganz abgeneigt, solchen Geschichten Glauben zu schenken.
Im Vorbeigehen blickte er betrübt durch das Gittertor des kleinen Friedhofs, bekreuzigte sich und sprach ein Totengebet für seine arme Frau. Es war genau drei Monate her, dass sie ihn verlassen hatte. Er bemühte sich, den Schritt zu beschleunigen und zu seinen vorherigen Gedanken zurückzukehren. Schließlich erreichte er San Dalmazio. Er ging zum Laden direkt beim Dorfeingang, der ebenfalls von einer Verwandten geführt wurde. Während er darauf wartete, bedient zu werden, nahm er seinen Hut ab und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß trocken.
»Du schwitzt, bei dieser Kälte?«, fragte die Frau.
»Scheint so«, antwortete Guglielmo, dem nicht danach war, sich groß zu erklären.
Stille und Dunkelheit lagen über dem Dorf. Um diese Zeit schliefen die Frauen und Kinder schon. Guglielmo bog in die dürftig gepflasterte Gasse ein, die ins Dorf hoch und zu ihm nach Hause führte.
Darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, ging er in die Küche, doch seine Schwester wachte trotzdem auf und erschien wenig später in der Tür, um zu fragen, ob er auch nichts brauche. Guglielmo verneinte, er hätte schon gegessen.
»Wir haben heute Abend nicht mit dir gerechnet«, sagte sie, wie um sich zu entschuldigen, dass sie nicht wach geblieben war.
»Es ging schneller als erwartet«, antwortete Guglielmo.
»Den Mädchen geht es gut«, sagte Caterina, da ihr Bruder nicht danach fragte. »Hast du’s geschafft?«, fragte sie dann.
»Ja. Am Montag geht’s los.«
»Brauchst du auch wirklich nichts?«, hakte die Schwester noch einmal nach. »Ich habe schnell den Herd angemacht und etwas aufgesetzt.«
»Nein. Geh wieder ins Bett, bevor dir kalt wird.«
Als er allein war, trank Guglielmo noch ein Glas Wein. Er setzte sich an den Tisch, zündete sich eine Zigarette an und zog ein zerknittertes Notizbuch und einen Stift hervor. In einer Spalte listete er alle Ausgaben des Tages auf; bevor er die Summe ausrechnete, überlegte er lange, ob er auch nichts vergessen hatte. Er pflegte jede noch so kleine Ausgabe zu notieren, am Ende des Monats kam es selten vor, dass die Buchhaltung nicht auf die Lira genau stimmte. Er drückte die Zigarette mit dem Fuß aus, stellte die Korbflasche zurück auf die Anrichte, das Glas in den Ausguss und ging ins Zimmer.
Der Mond schien hell auf einen Streifen des Bodens. Guglielmo knipste den Schalter an. Schwaches Licht erfüllte das Zimmer. Es war klein, mit Terrakottafliesen und einer Holzbalkendecke. Das Ehebett, der Schrank und die Kommode nahmen fast den gesamten Raum ein. Guglielmo zog seine Jacke aus, trat an die Kommode und legte seine Uhr auf die Marmorplatte. Sein Blick fiel auf die Fotografie seiner Frau, doch er wandte ihn schnell wieder ab.
Am nächsten Morgen war er um halb sechs schon auf den Beinen. Er streifte sich die Hose über das Nachthemd und ging in die Küche, goss Wasser in das Waschbecken über dem Ausguss und begann sich mit Kernseife zu waschen. Als er sich abtrocknete, trat seine Schwester im Unterrock in die Küche.
Während Caterina den Kaffee aufwärmte, schrieb Guglielmo die Liste der Einkäufe, die er am Morgen zu erledigen hatte, in sein Notizbuch. Vor dem Gehen sagte er, dass er zum Mittagessen hoffentlich zurück sein würde, dass sie gleichwohl nicht auf ihn warten sollten.
Statt ins Dorf hinunterzugehen, nahm er eine Abkürzung über einen kleinen Weg, der links abging; von dort aus folgte er dem Pfad durch die Felder. Er wollte den Waldvorarbeiter Fiore aufsuchen, der eine Stunde von San Dalmazio entfernt bei der Brücke über den Cecina wohnte. Da sie sich im Grunde genommen schon geeinigt hatten, hätte Guglielmo...