E-Book, Deutsch, Band 1, 300 Seiten
Reihe: Ein Fall für Kate Monroe
Celentano / Ferguson Auf Zornes Flügeln
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-98668-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 300 Seiten
Reihe: Ein Fall für Kate Monroe
ISBN: 978-3-492-98668-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nina Celentano, geboren 1983 in Nürnberg, kam über ihren Großvater zum Schreiben, dessen Geschichten in seiner Enkelin bereits in Kindertagen die Liebe zum Erzählen weckten. Namentlich Spannungstitel in der Handschrift von Karin Slaughter, Tess Gerritsen und Charlotte Link fesseln sie seit jeher, weil sie der Einblick in menschliche Abgründe stark fasziniert.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Es ist schrecklich dunkel. Meine Beine fühlen sich so schwer an. Ich muss weiter. Immer weiter. Nicht stehen bleiben. Atme, Kate. Atme gleichmäßig. Es ist keiner da, der mir Mut macht. Die Stimme, die ich höre, sie ist nur in meinem Kopf. Es ist meine eigene. Ich will ihr folgen, doch es ist so anstrengend. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde ich brennendes Feuer direkt in meine Lunge saugen. Ich kann nicht mehr, ich muss stehen bleiben. Ich brauche Luft. Wo bin ich? Warum bin ich wieder hier? Warum bin ich nicht vorangekommen? Ich zittere. Es ist fast unmöglich, meine Hand, die den Schweiß von der Stirn wischen will, still zu halten. Sie zittert im Takt meiner Beine. Ruhig bleiben. Ich muss ruhig bleiben. Ich muss mich konzentrieren. Meine Sinne schärfen. Ich weiß, ich kann es noch schaffen. Nur nicht die Nerven verlieren.
Ich muss im Kreis gelaufen sein, denn ich stehe wieder in der gleichen Gasse. Aber das ist doch unmöglich! Ruhig, Kate. Ruhig. Der Geruch von Abwasser und Urin brennt so penetrant in meiner Nase, dass ich sie unwillkürlich mit dem Ärmel meines nassgeschwitzten Sweatshirts zuhalte. Der Wind zerrt an meiner Kleidung und lässt meinen Körper sofort erstarren. Mein Haar wirbelt wild vor meinem Gesicht herum, ich kann kaum noch etwas erkennen.
Die Straßenlaternen flackern, und nur hin und wieder erhellen sie schwach einen kleinen Teil des Weges. Da! Da ist es wieder. Diesmal ist es nicht die Stimme in meinem Kopf, die ich höre. Ein entsetzlicher Schrei lässt mich erstarren. Bitte nicht. Nicht schon wieder! Ich brülle gegen den Wind, der es mir unmöglich macht festzustellen, aus welcher Richtung die Schreie kommen. Schreie, die vom Tod erzählen. Aber ich muss es wissen. Panisch drehe ich mich um die eigene Achse. Ich darf nicht durchdrehen. Tränen strömen mir ungewollt über die Wangen. Panik kriecht in mir hoch, ich will sie abschütteln. Ich habe noch eine Chance. Ich drehe mich im Kreis, versuche zu analysieren, wohin der Ruf mich führt. Und ich gehe los. Ich laufe und laufe, aber es ist die falsche Richtung. Der Wind wird stärker. Er rauscht in meinen Ohren. Ich kann kaum sehen. Es hämmert gegen die Innenseite meiner Schläfe. Ich schmecke etwas Metallisches. Spüre, wie etwas an meiner Stirn herunterläuft. Ich fasse an meinen Kopf und halte mir die Hand dicht vor meine Augen. Ich blute.
Wieder dieses furchtbare, entsetzliche Kreischen. Schreie, die meinen Namen rufen, um Hilfe flehen. Dort hinten muss es sein. Sie scheinen aus dem Haus am Ende der Gasse zu kommen. Doch meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Ich höre Angst aus jedem neuen Schrei. Ich weiß, woher die Schreie kommen, aber ich kann nicht helfen, nichts tun. Ich weiß, wer es ist, der nach Hilfe schreit. Er ruft nach mir.
Ein letzter schriller Ton zerreißt das Toben des Windes. Dann ist die Nacht totenstill.
Schweißgebadet erwachte Kate aus ihrem Albtraum. Es war derselbe, der sie ständig heimsuchte. Nur dass es sich dabei um keinen gewöhnlichen Traum handelte. Es war der Moment, in dem ein Teil von ihr gestorben war und der sie im Geist immer wieder aufs Neue sterben ließ. Wenn sie aus diesem Traum erwachte, fühlte sie nichts als Leere und den unstillbaren Wunsch, sie wäre an seiner Stelle gewesen. Warum hatte der Mörder nicht sie ausgewählt? Warum musste Tom sterben?
Die Anzeige des Weckers stand auf 4.30 Uhr. Zu früh zum Arbeiten und zu spät, um wieder ins Bett zu gehen. Die Angst davor, erneut in die Hölle ihrer Gedanken abzudriften, war viel zu groß.
Sie ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, und zog ihre Strickjacke enger um die Brust. Kate fröstelte. Die hohen Räume mit ihren Stuckdecken und imposanten Erkern waren schön anzusehen, aber sie kühlten viel zu schnell aus. Der Gedanke verursachte ein bitteres Lächeln. Offenbar war sie hier genau richtig. Denn genau so fühlte sie sich: kalt. Äußerlich stand sie in der Blüte ihres Lebens. Tom hatte ihr immer erzählt, dass man in ihren grünen Augen versinken konnte, ohne jedoch dahinter blicken zu können. Laut John war sie ein wahr gewordener Männertraum. Lange Beine, rote lange Locken und trotz ihrer sportlichen Statur mit genug weiblichen Rundungen gesegnet, um mehr zu wollen. Sie selbst konnte mit alldem nichts anfangen. Ihr war durchaus bewusst, dass sie auf Männer eine gewisse Wirkung hatte, aber das war ihr immer egal gewesen. Sie benutzte kein Make-up, und ihre Kleidung war meist funktionell. Sie fühlte sich nicht schön. Weder äußerlich noch innerlich. Wenn sie ihre Seele nach außen gekehrt hätte, wäre eine Greisin zum Vorschein gekommen, deren zweitgrößter Wunsch es war, endlich erlöst zu werden. Endlich zu sterben.
Damals sollte hier ihre gemeinsame Zukunft beginnen, Toms und ihre. Er war die Liebe ihres Lebens, ihr Seelenverwandter, ihr bester Freund und Fels in der Brandung. Jetzt war diese Wohnung eine seelenlose Hülle, in der sie lediglich existierte und jeden Tag betete, dass das Schicksal ihrem Leben einen neuen Sinn geben möge. Zu oft schon war sie unter Tränen eingeschlafen und unter Tränen wieder aufgewacht. Es würde sicher ein kalter trostloser Herbst in Washington, D.C. werden, der einem bis in die Glieder fuhr. Es war ihr egal. Für sie würde es ohne Tom nie wieder einen Frühling geben. Kate blickte über die Dächer der wolkenverhangenen Stadt und schloss das Fenster.
Mit dem Kaffee in der Hand ging sie in ihr Arbeitszimmer. Vorsichtig öffnete sie die schwere Tür. Dies war der einzige Ort, an dem sie sich nützlich fühlte. An dem ihre Gedanken nicht so schnell abschweiften. Hier konzentrierte sie sich auf das, was sie am besten konnte: Verbrecher dingfest zu machen und den Abschaum der Gesellschaft von den Straßen zu holen. Die Schweine zu finden, die sonst keiner aufspüren konnte. Sie hatte den Ruf, einer der besten zu sein. Es wurde ihr eine großartige Karriere prophezeit. Nur einmal war es ihr nicht gelungen, den einen zu kriegen, mit dem sie eine ganz persönliche Rechnung offen hatte. Diese Besessenheit hatte dazu geführt, dass sie ihren Job beim FBI hinschmiss. Der Fall war ihr entzogen worden, da sie nicht mehr in der Lage war, objektiv zu ermitteln. Kate war zu stark involviert und galt selbst als Opfer.
Es gab nur ein Ziel für sie: dieses Schwein aufzuspüren und zu bestrafen, und dann – so hoffte sie zumindest – würde sie endlich ihren Frieden finden. Sie würde ihm alles nehmen, so wie er ihr alles genommen hatte. Doch heute, hier, war sie noch nicht so weit. Ihre Suche fand ausschließlich in ihrem Kopf statt und auf der Wand, vor der sie stand.
Ihr Leben war ohne Sinn. Es gab nur sie und den Plan. Den Plan, den Mann zu jagen, der so viele Menschen auf dem Gewissen hatte. Er war fort, untergetaucht, doch Kate war sich sicher, dass er irgendwann einen Fehler machen würde. Diese Bestie würde niemals aufhören zu töten. Es war ihre Natur.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch zerriss die Stille, sodass Kate vor Schreck die Tasse auf den Steinboden fallen ließ. In diesem Moment ahnte sie noch nicht, dass der Anruf alles verändern sollte.
»Kate? Er … er ist verschwunden.«
Die Frau am anderen Ende der Leitung flüsterte, aber ihre Verzweiflung bohrte sich durch Kates Herz wie ein Dolch. Ein Gefühl, an das sie sich nur allzu gut erinnern konnte. Kate wusste sofort, mit wem sie sprach.
»Linda. Wer ist verschwunden?«
»Connor. Er ist gestern nicht nach Hause gekommen. Er wollte mich doch dieses Wochenende besuchen. Sein Handy ist aus, ich kann ihn nicht erreichen, und seine Kommilitonen wissen auch nicht, wo er steckt.«
»Aber warum rufst du mich an? Ich bin nicht mehr beim FBI, ich habe mit dem Fall nichts mehr zu tun.« Kate klang ablehnender, als sie es beabsichtigt hatte.
»Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Ich steh das nicht noch mal durch«, weinte Linda ins Telefon.
»Linda, bitte beruhig dich.«
Kate wurde selbst von einer Unruhe übermannt, die sie fast vergessen hatte. Sie konnte nicht ausmachen, was genau es war. War es ihre Angst vor der Vergangenheit, die sie in Versuchung führte, einfach aufzulegen und so zu tun, als hätte es diese letzten Minuten nicht gegeben? Auf der anderen Seite meldete sich jedoch ihr Ermittlerinstinkt, der sofort aufgeflammt war und ihr Herz zum Pochen brachte. Sie blickte sich im Zimmer um, betrachtete die unzähligen Fotos, Fallakten und Zeitungsausschnitte, die sie über die Wände verteilt hatte. Es stimmte, dass sie nicht länger beim FBI und auch nicht mehr mit dem Fall betraut war, aber sie hatte nie aufgehört, nach diesem Bastard zu suchen. Zumindest nicht an der Wand, vor der sie stand. Insgeheim wusste Kate, dass sie vor Ort hätte bleiben sollen, wenn sie Toms Mörder aufspüren wollte. Stattdessen war sie davongerannt. Trotzdem fühlte sie sich gut dabei. Kate brauchte diesen Abstand und die Zeit, um zu trauern.
»Hast du die Polizei informiert?«
»Du weißt doch, dass mir damals auch keiner geholfen hat. Ich brauche dich. Außer dir glaubt mir doch keiner. Connor ist in Schwierigkeiten, ich spüre das. Eine Mutter spürt so was. Bitte Kate, kannst du herkommen? Ich engagiere dich als private Ermittlerin. Ich habe noch etwas Geld aus Jacks Lebensversicherung übrig. Es gehört alles dir. Bitte hilf mir!«
Kate atmete tief durch. Der Hörer zitterte in ihrer Hand. Es fiel ihr schwer, ruhig und regelmäßig zu atmen. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn, rann herunter, und ihr Gehirn setzte aus. Es fühlte sich so an, als würde jemand ihren Brustkorb zerquetschen. Kate versuchte, sich zu beruhigen, doch die Erinnerungen holten sie mit voller Macht ein …
Vor zwei Jahren hatten sich Kates und Lindas...




