E-Book, Deutsch, Band 1, 318 Seiten
Reihe: Stark & Bremer
Chaplet Caruso singt nicht mehr
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95530-671-7
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der erste Fall für Stark & Bremer
E-Book, Deutsch, Band 1, 318 Seiten
Reihe: Stark & Bremer
            ISBN: 978-3-95530-671-7 
            Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 0 - No protection
Anne Chaplet ist ein Pseudonym von Cora Stephan. Unter diesem Pseudonym veröffentlich die Autorin Kriminalromane.
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Am nächsten Morgen quälte sich ein milchiges Licht durch die schon lange nicht mehr geputzten Fenster in Bremers Haus, der am Abend zuvor eine Flasche Rotwein auf die glückliche Fügung geleert hatte, daß das Wasser gerade rechtzeitig wieder gesunken war. Paul hatte die Augen geöffnet und gleich wieder zugemacht. Er wußte auch so, wie spät es war. Gegen sechs Uhr kam der Tankwagen von der Molkerei, um die Milch vom Hof der Nachbarn abzuholen. Der Fahrer ließ alle wissen, daß er eine leistungsstarke Autostereoanlage besaß, und scherzte meistens fast ebenso laut mit Marianne, Pauls schöner Nachbarin, die sich durch keine EG-Norm von ihren Milchkühen abbringen ließ. Jetzt konnte Paul noch eine knappe halbe Stunde weiterdösen, bis pünktlich um halb sieben Erwin mit seinem Morgenritual einsetzte. Das begann mit einem bellenden, röchelnd verebbenden Husten, gefolgt von schleimförderndem Räuspern und Ausspucken, gefolgt von heftigem Rütteln am ewig klemmenden Schacht des Zigarettenautomaten an der Straße. Man konnte sich auf seine Nachbarn verlassen. Danach dauerte es noch etwa dreißig Minuten, bis der Bäckerwagen laut hupend um die Ecke bog.
Auch Paul hatte seine Morgenrituale. Die erste Kanne Darjeeling nahm er im Bett zu sich, zusammen mit der Zeitung von gestern. Danach mußten Nachbars Katzen gefüttert werden, die ihn ungeduldig draußen vor der Haustür erwarteten. Die Katzenbelagerung begann meistens schon vor Tau und Tag, wie er feststellen konnte, wenn er in den frühen Morgenstunden vom Schlafzimmer im ersten Stock aufs Klo im Erdgeschoß mußte. Während er sich später in der Küche den Tee kochte, begann draußen das Geplärre. Und spätestens wenn er sich oben angezogen hatte und wieder die Treppe herunterkam, war auf dem Fußabtreter vor der Haustür die Hölle los.
Heute waren die Zwillinge, zwei schwarze, besonders gefräßige Brüder, die ersten. Sie warfen sich ihm entgegen, sobald er aufgeschlossen, die Klinke herabgedrückt und die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte. Auch der Graugetigerte und die Schwarzweiße strichen ihm um die Beine, während er in der Küche die erste Dose des Tages öffnete – obwohl keines der Tiere ins Haus durfte. Wenigstens, sagte Bremer sich und fixierte den Grauen strafend, guckten sie schuldbewußt dabei. Voller Gier scharten sich schließlich alle um die beiden Näpfe, die er ihnen gefüllt vor die Tür stellte, und versuchten, ihre dicken Köpfe möglichst gleichzeitig hineinzustecken. Die kleine schwarze Kätzin kriegte nur deshalb etwas ab, weil sie sich die Brocken mit der Pfote aus dem Freßgeschirr angelte und daneben, auf dem Boden, verspeiste. »Könnt ihr nicht mal manierlich essen?« brummelte Paul. »Immer muß man hinter euch aufwischen!«
Nachbars Katzen mußten zu Hause nicht hungern. Aber nur bei Bremer gab es etwas, wofür kein Bauer auch nur eine müde Mark ausgeben würde: Dosenfutter eben. Das war das elementare Katzenbedürfnis. Weshalb Bremer in Windeseile zum beliebtesten Dosenöffner des Dorfes aufgestiegen war. Im Gegenzug ließen sich die Tiere gnädig zum Schmusen herab. »Ihr alten Erpresser«, sagte Paul, der dem Grauen über die Nase strich und der Schwarzweißen, die gerade erst handzahm wurde, die andere Hand hinhielt. Zwei Blaumeisen hüpften laut schimpfend von Birke zu Birnbaum. Paul genoß beruhigt das Gefühl, daß die Welt wieder in Ordnung war.
Das gestern noch so totenstarre Dorf hatte sich aus seiner Verpuppung befreit und schüttelte die Schmetterlingsflügel. »Hast schon gehört?« rief ihm Marianne zu, die, wie jeden Morgen, die Gass’ fegte. Bis zu ihr hatte das Hochwasser es nicht gebracht, sie beseitigte nur die dicken Fladen, die ihre Kühe hinterlassen hatten auf dem Weg vom Stall auf die Wiese.
»Bast hat es mir gestern erzählt.« Paul stand ans Gartentörchen gelehnt und sah Wilhelm zu, dem Ortsvorsteher, der mit der Kehrmaschine die Dorfstraße heraufkam.
»Verdammte Rumänen!« sagte Marianne mit Überzeugung. Seit es um Klein-Roda herum einmal eine wilde Verfolgungsjagd gegeben hatte, lebte Marianne in der beruhigenden Gewißheit, daß die Schuldfrage ein für allemal geklärt war. Eine rumänische Bande hatte damals die Gegend unsicher gemacht, sie war auf das Knacken von Geldsafes und Tresoren spezialisiert. Nach einem Überfall auf das Postamt von Engelen hatten sich die Banditen erst im Wald versteckt und dann versucht, mit rauchenden Reifen zu fliehen. Seither gab es bei der Polizei eine »Arbeitsgruppe Moldau«.
»Ach, Marianne, komm«, winkte Paul ab. »Die halten sich doch nicht mit Brandstiften und Pferdeschlitzen auf!«
»Weiß man’s?« Marianne schob resolut einen Kuhfladen auf die Schippe.
»Das Asylantenpack! Alle abschieben!« Vom Zigarettenautomaten her hörte Paul die heisere Stimme vom alten Alfred, genannt »das Ekel Alfred«. Der Mann schlug seine Frau, wenn er gesoffen hatte, wie jeder im Dorf sah und hörte. Er war ein Querulant, ein Störenfried: Den Bauern Knöß hatte er angezeigt, weil der nachts und illegal Gülle in der naturgeschützten Flußaue abgeladen habe. (»Das würde Bauer Knöß natürlich niemals tun«, hatte Paul gespöttelt, als sich alle über Alfred aufgeregt hatten.) Und die Kinder von Karlheinz und Lieselotte Becker, Kevin und Carmen, hatte er in einem Brief an den Bürgermeister beschuldigt, am Hochwasser schuld zu sein, weil sie Steine in eins der drei Flüßchen geworfen hätten. Kevin und Carmen mochten an vielem schuld sein, daran aber gewiß nicht.
Eigentlich mochte ihn niemand. Und dennoch, stellte Paul mit einem Anflug von Neid fest, gehörte er zum Dorf. Unauflöslich. Bei Alfred waren es nicht die Rumänen, sondern die Asylanten, die an allem schuld waren. Insbesondere die koreanische Familie, die jenseits der Flußaue in einem alten, heruntergekommenen Dreiseitenhof lebte, dessen eine Seite unlängst in Flammen aufgegangen war. In diesem Fall waren die Täter bald und eindeutig identifiziert: Die älteren der sechs Kinder hatten in der Scheune gekokelt. Was lag näher, als die Kinder auch anderer Taten zu verdächtigen?
Erwin war bei der schätzungsweise vierten Zigarette heute morgen angekommen, das Husten und Röcheln klang merklich gedämpfter. Auch er stand am Zaun, einem »Rancher-Zaun«, wie er Paul mal erklärt hatte, den er in liebevoller Eigenarbeit um sein schmales Fachwerkhäuschen und das peinlichst gepflegte Rasengrundstück gezogen hatte, beides gegenüber Bremers Haus, auf der anderen Seite der Dorfstraße gelegen.
Ein knappes »Gude!« war der einzige Gruß, den er um diese frühe Morgenstunde, noch völlig nüchtern, fertigbrachte. »Ei, Erwin«, rief Marianne zu ihm hinüber, »hast schon gehört?« Erwin räusperte sich und spuckte. »Hör mir uff«, sagte er kopfschüttelnd, »hör mir bloß uff.«
Paul winkte der alten Martha zu, die auf ihrem auch schon sehr antiken Fahrrad vorbeiradelte, die schlohweiße Mähne im Wind. »Kerle! Daß ich das noch erleben muß!« rief sie kopfschüttelnd der Straßenversammlung zu und entschwand um die Ecke. »Soll sie froh sein«, kommentierte Gottfried, der seinen betagten Jagdhund Fritz zum Morgenspaziergang ausführte. »Sie wird bald achtzig.« Das hätte bei jedem anderen herzlos geklungen. Bei Gottfried nicht.
Paul merkte plötzlich, wie ihm die Kehle eng wurde. Der Friede täuschte. Nichts war in Ordnung. Das jährliche Hochwasser war man gewöhnt, das steckte man weg wie nix; das fiel alles unter Naturgewalten; Schicksal; Gottes unergründbarer Ratschluß. Aber die Pferdemörder und Brandstifter, die waren nicht gottgesandt: Sie waren die Urschurken des Landlebens. Sie legten ihre Hand nicht nur an die Fundamente bäuerlicher Existenz, sondern erschütterten auch den Seelenfrieden der ländlichen Gemeinde: durch den ständigen, den allgegenwärtigen Verdacht. Bremer spürte fast am eigenen Körper, wie sich Angst in die Selbstverständlichkeit einmischte, mit der jeder seiner Tätigkeit nachging.
Auch Marianne mußte etwas gespürt haben. Sie lehnte sich auf ihren Besen und sah ihn prüfend an. »Heute schon radeln gewesen?« Paul lächelte dankbar zurück. »Du meinst, das empfiehlt sich, oder?«
Marianne nickte. »Dringend, würde ich sagen.«
»Alte Klatschbase«, dachte er liebevoll, während er ins Haus ging, sich umziehen. Ihr hatte er unvorsichtigerweise im letzten Frühjahr anvertraut, was ihn täglich aufs Rennrad trieb. Seither wußte es jeder. »Er muß einfach fahrradfahren«, hatte er sie mit verschwörerischer Stimme zu Gottfried sagen hören. »Es ist, hat er gesagt, wie ein ... wie ein ...«
»Zwang«, hatte Paul für sich ergänzt, bei dessen Anblick sie schuldbewußt zusammengezuckt war. Und das war die reine Wahrheit: Er fuhr geradezu zwanghaft Fahrrad, seit er vor fünf Jahren hierhergezogen war, nach Klein-Roda, in das, was auch er ein gottverlassenes Kaff genannt hatte. Wegen der Kondition, gegen das Älterwerden, weil der Arzt es empfohlen hat? Das würde jeder hier verstehen. Aber aus »Selbstvergewisserung«? Marianne hatte ihn damals zweifelnd angeschaut. »Ich muß gucken, ob noch alles da ist«, war sein zweiter Versuch. Das leuchtete ihr seltsamerweise schon eher ein. Vielleicht, weil auch sie ihn, wie alle hier, für einen mehr oder weniger netten Spinner hielt.
In Wirklichkeit war mittlerweile er es, den jeder im Umkreis von zwanzig Kilometern vermißt hätte, wenn er einmal länger ausgeblieben wäre. Der drahtige Mann mit der grauen Bürstenfrisur, dem schnellen Rad und den muskulösen Beinen war eine den Hausfrauen, Treckerfahrern, Postboten und Warenauslieferern vertraute Erscheinung. Er grüßte alle. Ihn grüßten alle. »Der tägliche Beweis, daß es mich gibt«, hatte Bremer gesagt. Daraufhin hatte Marianne...




