In Barmen kein Erbarmen
 Der Schmerz in seinen Fingern hatte sich mittlerweile in jede Nervenfaser seines Körpers eingebrannt. Seine Linke hing kalkweiß herunter, gestreift von schwarz geronnenem Blut. Die rechte Hand zitterte. Wenigstens haben sie links und nicht rechts angefangen, dachte Victor Frank und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, damit er schneller arbeiten konnte. Loch für Loch stanzte er in den Pappstreifen, der das Programm enthielt, das die Bandwebmaschine antrieb. Die „Banditin“, wie er sie nannte, war seine Favoritin, hier im oberen Saal des Wuppertaler Museums für Frühindustrialisierung. Mit ihr fertigte er nach Feierabend oder auch mal am Wochenende Bänder in den Farben und mit dem Logo der beliebtesten Fußballvereine an – die Fans waren ganz scharf darauf und bestellten wie die Irren. Jedes Wort auf dem gewebten Band und jedes Muster in jeder Farbe konnte man mit der Stanzmaschine programmieren, vor der er jetzt stand, obwohl er sich kaum aufrecht halten konnte. Kürzlich hatte er grün-weiße Bänder für den SC Salingia Barmen 08 programmiert und sich zweimal verschrieben dabei. War „Salingia“ vielleicht ein Name für einen Fußballverein? Egal: Diesmal durfte er sich bei dem, was er stanzte, nicht verschreiben.
 Diesmal ging es um sein Leben. Victor Frank hob den Kopf und blickte auf die Wand hinter der Hollerithstanze. Nein, es ging schon lange nicht mehr um sein Leben. Nur noch um das Leben danach. Um seine Rache.
  „Jetzt lassen wir die Puppen tanzen!“ Slavek hatte Roko zugenickt, der breit grinsend den Hebel herunterzog. Mit einem unwilligen Knurren setzte sich die „Puppenkönigin“ in Bewegung, eine Flechtmaschine aus dem 19. Jahrhundert, mit der Victor zuletzt blau-weiße Schnürsenkel für die Fans von Schalke 04 angefertigt hatte. Exklusiv. Ja, bei ihm war alles exklusiv. Auch sein Tod. Exklusiv und exquisit, vor allem was die Schmerzen betraf.
 Die Flechtmaschine veranstaltete ein lustiges Marionettentheater, wenn man sie in Gang gesetzt hatte. Dann tanzten die „Puppen“ – Spulen mit Garn verschiedener Farben – auf den Spindeln, die in rasender Geschwindigkeit kreisten und dabei vor-, zurück-, zur Seite sausten. Die Spindeln saßen auf einem sternförmigen Rad und wurden von vier mechanischen Armen je nach Programm hierhin und dorthin bewegt, sodass sich die Fäden, die sie trugen, zu einem dichten Geflecht verbinden konnten.
 „Und wie sie tanzen!“ Roko strahlte Victor an, fasste seine linke Hand und zog ihn näher heran.
 Die Puppenkönigin war eine geniale Erfindung, eine Erleichterung und ein Segen für die Bandflechter und Schnurmacher – das Flechten von Kordeln, Schnüren und Riemen war schließlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Kinderarbeit gewesen. An Folter hatte ihr Erfinder sicher nicht gedacht, als er sie erschuf. Schon eher an höhere Produktivität. Und an den Profit dabei.
 „Da will man doch glatt mittanzen, oder?“ Slavek. Er schien die Sache zu genießen.
  Victor hatte sich nicht lange gewehrt. Er wusste, dass er gegen die beiden keine Chance hatte. Ein paar Lidschläge lang hoffte er, dass die Maschine automatisch stoppte, wenn etwas Festeres als Garn zwischen die zuckenden Metallspindeln geriet. Doch die Königin ließ sich durch splitternde Knochen und zerfetztes Fleisch nicht beeindrucken. Und Roko wusste, wohin man eine Hand lenken musste, wenn man dem Menschen, zu dem sie gehörte, größte Schmerzen bereiten wollte.
 Meine Puppenkönigin, dachte Victor und schob den nächsten Hollerithstreifen unter die Stanzmaschine. Was kannst du zubeißen!
 Er hatte geschrien. Klar hatte er geschrien. Und als er nicht mehr schreien konnte, hatte er gesungen wie Caruso.
 Er hatte Roko und Slavek gesagt, wo er das Geld gebunkert hatte, und sie waren los, um es zu holen, weil sie der Meinung waren, dass es ihnen zustand. Und wenn sie es aus dem Versteck holten, würden sie auch alles andere finden. Die silbernen Scheiben mit den Daten. Wetten, Auszahlungen, Kontaktleute. Das hätte sie für Jahre ins Gefängnis gebracht.
 Wieso nur hatte er das Geld bei den Unterlagen versteckt?
 Aber er hatte ihnen etwas anbieten müssen. Damit sie eine Weile Ruhe gaben. Damit er Zeit gewann.
 Denn sie würden zurückkommen. Würden wissen wollen, ob es Kopien gab. Für wen er das alles gesammelt hatte. An wen er sie verraten wollte. Und dann würden sie dafür sorgen, dass er niemals mehr reden konnte.
 Wie lange würden sie brauchen? Wie lange hatte er noch Zeit hier oben in der ersten Etage des Museums, wo er saß wie die Maus in der Falle? Die Tür abgeschlossen, die Fenster nicht zu öffnen. Sicherheitsvorschrift.
 Ob ihn jemand sehen würde? Unwahrscheinlich, niemand ging um diese Uhrzeit über den kalt ausgeleuchteten Hof des Museums. Das Handy hatten sie ihm natürlich abgenommen.
 Er war allein, allein mit der Puppenkönigin, an der sein Blut klebte.
 Was würden sie mit ihm machen, wenn sie zurückkamen?
  Was kam nach der Puppenkönigin? Die Stanze? Die Walzenkarde? Die Flachshechel? Im Maschinenpark des Museums eignete sich fast alles dazu, einem Menschen Schmerzen zu bereiten: die Dampfmaschinen und Hämmer, die Webstühle und Spinnräder ...
 Victor fragte sich, wie lange sich die Sache hinziehen würde. Wie lange er durchhielt, bis er um das Messer bettelte, das Roko normalerweise benutzte, wenn er tötete. Und er würde auch ihn töten. Trotz Jelika.
  Jelika. Blonde Königin in einem Puppenpalast. Vor drei Monaten war er dort ausgezogen, aus der perfekt renovierten Gründerzeitvilla, von oben am Hang hinunter ins Tal, in ein heruntergekommenes Fabrikgebäude direkt an der Wupper. Das glatte Gegenprogramm. Er hatte sich im dritten Stock einer ehemaligen Bandweberhalle eingerichtet, aus der der jetzige Eigentümer ein Büro- und Atelierzentrum für die neue Kreativwirtschaft hatte machen wollen, bis ihm aufgefallen war, dass die partout nicht nach Wuppertal ziehen wollte. Victor gefielen die gekalkten Klinkerwände und die großen Fenster. Und die Lage. Manchmal hatte er sich abends unten an die Wupper gesetzt, wenn es schon dunkel war, sodass man den ganzen Dreck nicht bemerkte, den liebenswerte Menschen in den Fluss warfen. Am schönsten aber war der Blick aus dem Küchenfenster. Man sah direkt auf die Schwebebahn und in die Gondeln hinein, wenn sie im Zehnminutentakt vorbeisurrten.
 Er vermisste weder Jelika noch den Palast am Hang, den er nicht gemocht und nicht bezahlt hatte.
 Bezahlt hatte Slavek.
 Immer schon.
 „Eine kroatische Hochzeit ist lustig!“ Vor allem, wenn der Bruder der Braut Slavek heißt und reich ist. Sehr reich. Reicher, als ein unbestechlicher kleiner Finanzbeamter wie Victor Frank je werden konnte.
 Und deshalb hatte Slavek natürlich auch die Hochzeit bezahlt, „... muss schon was richtig Großes werden für meine Jelika, schönster Tag im Leben, oder?“, und das Haus der Großeltern von Friedrich Engels gemietet. Eigentlich war Slavek noch nicht alt genug, um damals in Jugoslawien, im Paradies der Arbeiterklasse, eine ordentliche Marxismus-Leninismus-Schulung genossen zu haben, aber Friedrich Engels als großer Sohn der Stadt Wuppertal – das sagte ihm offenbar was. „War Freund von Karl Marx, oder?“ Klar.
 „Wir werden Mordsspaß haben, Vic. Wirst sehen.“ Victor hatte sich in der Umarmung seines Schwagers wie im Schraubstock gefühlt. Wie in den Klauen eines zutraulichen Braunbären. Slavek war nicht nur reicher als er, sondern auch größer und breiter und bärtiger und lauter. „Alles für meinen Schwager.“ Victor glaubte für einen Moment Slaveks Bärentatzen auf seinem Rücken zu spüren. „Alles für den besten Verrückten der Welt. Der sein Museum mehr liebt als meine Jelika.“ Tatz tatz. „Aber das wird jetzt anders, oder?“ Patsch patsch. „Meine Jelika wird dir keine Zeit mehr lassen für deine Maschinen, ja?“ Klar.
  Jelika. Jelika wie Angelika. Angelique. Engel.
 Als er sie kennenlernte, hatte es ebenfalls eine Feier im Engelshaus neben dem Museum gegeben, irgendeine Familienfeier für jemanden aus dem Slavek-Clan, ein runder Geburtstag, eine Verlobung, irgendwas war schließlich immer, und Slavek feierte gern. Victor hatte nichts davon mitbekommen, erst, als eine muntere Runde ausgezogen war und draußen zu tanzen begonnen hatte. Auch deshalb war das Engelshaus für Feiern so beliebt, es lag direkt gegenüber dem großen Platz, der herrlich leer war – bis auf den weißen Koloss, ein Kunstwerk, das damals als Engelsdenkmal gedacht war und das den meisten heute peinlich war. In dem weißen Klotz erkannte man in Ketten gelegte muskulöse Männerarme und Fäuste, die sich zum Himmel reckten. Niemand mochte diesen monumentalen Schinken. Selbst Friedrich Engels hätte ihn nicht gemocht. Der Titan aus Barmen, in dessen großväterlichem Haus heutzutage jeder feiern konnte, der das nötige Geld dazu hatte. Auch Betrüger und Verbrecher.
 Damals vor zwei Jahren, als...