E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten
Reihe: Stark & Bremer
Chaplet Nichts als die Wahrheit
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95530-672-4
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der dritte Fall für Stark & Bremer
E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten
Reihe: Stark & Bremer
ISBN: 978-3-95530-672-4
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Anne Chaplet ist ein Pseudonym von Cora Stephan. Unter diesem Pseudonym veröffentlich die Autorin Kriminalromane.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2
Rhön, Weiherhof, einen Monat später
»Politiker lügen immer!«
Die schärfsten Kritiker der Elche, ersatzweise ihre Ehefrauen... Anne Burau lächelte gefaßt zur Schmalseite des Nebentischs hinüber, wo Monika Seidlitz saß und auf den alten Hubert einredete. Die Frau des Ortsvorstehers hielt ihre schmalen Schultern im hellblauen Pullover so, daß niemandem entgehen konnte, wen sie meinte – niemandem außer dem schwerhörigen alten Mann, der milde lächelte und mit dem Kopf wackelte. Das tat er immer, wenn er gar nichts verstand.
Sicher hoffte die Seidlitz darauf, daß Anne ihr empört widersprach. Keine Chance, dachte Anne, drehte ihr den Rücken zu und versuchte alles auszublenden, außer den melancholischen Klängen, in die das Trio Woronetz russische Volkslieder verwandelte. Der rotwangige Bassist mit dem blonden Stoppelhaar lächelte zu ihr hinüber und flocht ein paar jazzige Arabesken unter die traurige Weise. Anne neigte den Kopf und lächelte zurück. Als sich die Stimme der Geige im Schlußakkord jubelnd über das Akkordeon und den Zupfbaß erhob, heulte der Terrier von Meiers leidenschaftlich mit. Guter Hund.
Es roch nach Holzfeuer und gegrilltem Lammfleisch. Plötzlich rückte das Stimmengewirr um sie herum in die Ferne, als ob jemand am Lautstärkeregler gedreht hätte. Und dann fühlte sie sich schweben: Über ihren Nachbarn, über dem Weiherhof, über dem Abschiedsfest, das man ihr gab, so, als ob sie nach Australien auswanderte und nicht bloß nach Berlin ginge. Von hier oben sah ihr bisheriges Leben, sahen die Menschen, die es bevölkerten, wie Miniaturen aus – hübsch, farbenfroh, friedlich, harmlos. So unwirklich wie Paul Bremers leuchtend weiße Haare und die roten Wangen des Bassisten. So bilderbuchgemäß wie die geblümte Kittelschürze, die heranschwebte, innehielt, zurückschwebte und haltmachte. Dann senkte sich das Gesicht der Metzgersfrau aus Ebersgrund vor Annes Gesichtsfeld und füllte es aus, so groß und so nah, daß sie die Sommersprossen darin hätte zählen können.
»Gell, du freust dich?« fragte Herta. Das hatte sie in der letzten halben Stunde schon dreimal gefragt, nicht gezählt die Male, in denen Anne nicht zugehört hatte. Eine Antwort erwartete sie auch diesmal nicht, denn es gab nur eine – glaubte Herta.
Anne setzte sich auf. Im Moment empfand sie gar nichts – weder Freude noch ihr Gegenteil. Sie blinzelte in den Himmel, der blaßblau über der Krone der alten Kastanie stand, öffnete die Jacke und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Sie hatte nicht gemerkt, daß der Wind die Wolkendecke zerstreut hatte. Sie hatte den Kuckuck nicht wahrgenommen, der schon seit einer Weile zu rufen schien. Wie lange schon? Und wie oft? Früher hatte davon das Leben abgehangen. Früher verriet der Kuckuck seinen Zuhörern, wie viele Jahre ihnen noch blieben oder wie bald man dem Märchenprinzen begegnete. Als Kind und später als junges Mädchen war sie bei jedem Kuckucksschrei stehengeblieben und hatte gezählt und sich vorsichtshalber schon mal eine Ausrede zurechtgelegt für den Fall, daß er nur zwei- oder dreimal schlug, was fürs Leben zuwenig und für die Ankunft des Märchenprinzen zuviel gewesen wäre. Damals hatte sie aufs ewige Leben und auf die große Liebe gesetzt. Anne seufzte. Der Abschied von solchen Illusionen lag schon eine Weile zurück.
»Iß! Damit du was auf die Rippen kriegst!« Herta hielt ihr einen bis zum Rand gefüllten Teller vor die Nase. Anne blickte auf. Wie eine Mutter lächelte die Ältere zu ihr hinunter. »Oder willst du die einzige sein, die bei so einem schönen Fest leer ausgeht?«
Herta meinte es gut, wie immer. Anne grinste zurück. Mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr wie im Kino, als unbeteiligte Zuschauerin, sondern war mitten drin im Film, alles in Farbe, volle Lautstärke. Um sie herum klapperten Messer und Gabeln, redeten Männer und Frauen aufeinander ein, wurden große Krüge über den Tisch gereicht, tobten Kinder, drehten dienstbare Geister die Grill-spieße, heulte der Hund, jubelte die Geige, begleitet vom aufgeregten Geschnatter und Trompeten der Enten und Gänse, die, ein paar Schritte vom Hof entfernt, auf der Wiese am Löschteich grasten. Und das alles sollte sie verlassen? Anne kam sich plötzlich zugleich fahnenflüchtig und unentbehrlich vor. Was war, wenn Rena...? Und hatte sie ihr eigentlich schon gesagt...? Und würde ihre Tochter von allein daran denken...?
Sie schlug sich die Hand vor den Mund und guckte zu Rena hinüber, die mit erhobenen Händen auf den Tierarzt einredete. Otto Grün hielt den Kopf gesenkt und schüttelte ihn ab und an bedächtig. Anne konnte sich denken, worum es ging. Der Veterinär hatte schon vor drei Wochen gesagt, daß der alte Pjotr es nicht mehr lange machen würde. Es wäre besser, man erlöste ihn von seinen Qualen. »Aber er quält sich doch gar nicht!« hatte Rena damals mit Tränen in den Augen gesagt – sie war mit dem gescheckten Wallach aufgewachsen. »Weiß man’s?« hatte Otto erwidert.
Rena hat den Hof fest im Griff, redete Anne Burau sich ein, auch wenn sie erst achtzehn ist. Außerdem war sie nicht allein. Da war Krysztof. Und Ivanka. Und Otto Grün, für den Notfall. Anne wurde nicht mehr gebraucht. »Wir haben schließlich schon öfter auf dich verzichtet!« hatte Rena gestern wegwerfend gesagt – mit jener Herzlosigkeit, die bei Menschen ihres Alters als guter Ton galt.
Der kräftige Schlag auf die Schulter traf sie unerwartet. Sie schrie leise auf. »Na? Kannst’ schon jetzt nichts mehr vertragen, du Strich in der Landschaft?« dröhnte Martins Stimme zu ihr herunter. »In drei Monaten kriegst’ wahrscheinlich keine halbe Sau mehr gehoben! Und wennst’ nix ißt...« Seine Hände zeichneten eine übertrieben schlanke Silhouette in die Luft. Alle an ihrem Tisch lachten.
»Aktenstemmen als Ausgleichssport!« rief einer am Nebentisch.
»Hammelsprung! Damit verschaffen sich deutsche Abgeordnete Bewegung!«
Anne lächelte matt. Wie sich Politikerwitze doch gleichen. Unwillkürlich inspizierte sie ihre Hände. Wahrscheinlich hatte Martin recht. Schon bald würde ihnen niemand mehr ansehen, daß sie einer Bäuerin gehörten. In kürzester Frist würden sich ihre Beine wieder an höhere Absätze gewöhnt haben. Und mit der Zeit...
Sie atmete tief durch. Bei aller Wehmut über den Abschied – plötzlich schien es ihr nicht mehr unmöglich, das neue Leben zu genießen. Ein Leben ohne Gummistiefel und Stallgeruch und ohne das ewige Dilemma der Landfrau – nämlich, daß es sich eigentlich nicht lohnte, was Schönes anzuziehen, weil man sich sowieso gleich wieder einsaute. Ein Leben, in dem Kostüm und kurzer Rock, Strumpfhosen und Make-up und Parfüm, nicht zu vergessen die Aktentasche, so lebenswichtige Requisiten waren wie hier die Leggins, die Birkenstocksandalen und das Gummiband für die Haare.
»Und? Bist du noch hier oder schon dort?« Paul Bremer stand neben ihr, mit einer steilen Falte über der Nase. Sie rutschte auf der harten Bank ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen.
»Du weißt doch, Paul – ich bin immer an zwei Stellen gleichzeitig.« Sie versuchte es mit einem unbefangenen Lächeln. »Mindestens.« Er setzte sich nicht. Die alte Leichtigkeit zwischen ihnen schien verflogen.
Trotzig sagte sie sich, daß es ihr egal sein konnte, was Paul Bremer davon hielt, daß sie es noch einmal versuchen wollte mit der politischen Karriere. Und daß es ihr wurscht war, daß er ihre Entscheidung als Flucht auffaßte. Passenderweise drehte er ihr in diesem Moment den Rücken zu, um Marianne zu begrüßen, die ihm wie zufällig den Ellenbogen in die Seite gestoßen hatte und jetzt irgend etwas von ihm wollte. Wenigstens mußte Marianne jetzt nicht mehr eifersüchtig sein.
Anne drehte sich wieder zum Tisch hin und gabelte ohne großen Appetit ein Stück Fleisch vom Teller. »Warum?« hatte Paul sie damals gefragt, mit einer Enttäuschung in der Stimme, die ihr kindisch vorgekommen war. Wohl deshalb hatte sie heftiger reagiert, als nötig gewesen wäre.
»Weil ich nicht völlig verbauern will, verdammt!«
»So wie ich, meinst du? »
Sie hätte es wissen müssen, daß er sich stellvertretend für alle landflüchtigen Städter angegriffen fühlen würde. Sie hatte einzulenken versucht. »Ich will mir später nicht den Vorwurf machen müssen, Herausforderungen aus dem Weg gegangen zu sein.«
Sein Blick sprach Bände. »Herausforderungen, aha. Ich empfehle diesbezüglich auch Verlautbarung oder Beschlußfassung oder Zielführung. Und ›Ich würde meinen‹ oder ›Ich gehe davon aus‹.«
»Ach komm, Paul. So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Sie hatte ihn beschwichtigen wollen – es war ihr wichtig erschienen, daß er verstand. »Und außerdem ist Politik mein alter Beruf.«
»Aber du lebst seit acht Jahren hier. In der Rhön. Auf dem Weiherhof.« Er klang, als ob das gefälligst auch so zu bleiben hätte.
»Du verstehst nicht, Paul. Ich habe mir dieses Leben hier nicht ausgesucht...« Dieses Leben hier: als Biobäuerin in der tiefsten Rhön. Davon hatte sie in ihrem früheren Leben noch nicht einmal geträumt. Sie hatte sich als künftige Staatssekretärin gesehen, auf Landesebene – als Ministerin gar, wenn sie sich mal ganz vermessen fühlte. Politik – das war ihr Leben gewesen. Bis – die Erinnerung daran löste noch heute das altbekannte Ziehen in der Magengrube aus. Anne legte die Gabel zurück auf den Teller.
Von Paul hatte sie mehr Verständnis erwartet. »Wenn mein Mann mich nicht verraten und verkauft hätte, wäre ich nie auf dem Weiherhof gelandet. Das weißt du, Paul.« Und du weißt auch, wie ungeheuer weh...




