Chee | Wie man einen autobiografischen Roman schreibt | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Chee Wie man einen autobiografischen Roman schreibt

Essays
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86300-296-1
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Essays

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-86300-296-1
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der amerikanische Autor Alexander Chee spürt in diesen autobiografischen Essays dem Wechselverhältnis von Leben, Literatur und Politik nach. Chronologisch angeordnet, zeigen sie Chee, wie er vom Schüler zum Lehrer, vom Leser zum Autor heranwächst und sich dabei den widersprüchlichen Anforderungen seiner verschiedenen Identitäten stellt: als Amerikaner mit koreanischen Wurzeln, als schwuler Mann, Künstler und politischer Aktivist. Intensiv beschäftigt sich Chee mit den prägenden Erfahrungen seines Lebens, dem Tod seines Vaters, der Aids-Krise und dem Trauma des Kindesmissbrauchs, aber auch mit seinen Leidenschaften für Tarot und Rosenzucht, seinem ersten Mal in Drag und der Entstehung seines Romans 'Edinburgh'. So erhellend wie elegant, fügen sich die Texte in diesem Band zu einer Art Autobiografie in Fragmenten und einer Liebeserklärung an das literarische Schreiben.

Alexander Chee ist Autor der Romane 'Edinburgh' und 'The Queen of the Night'. Seine Essays und Literaturkritiken erschienen unter anderem in The New Republic, The Los Angeles Times und Slate. 'Wie man einen autobiografischen Roman schreibt' ist seine erste Essaysammlung. Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth College und lebt in New York.
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DER FLUCH


Den Sommer meines fünfzehnten Geburtstags verbrachte ich als Austauschschüler in Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Chiapas, etwa dreihundert Meilen nördlich der Grenze zu Guatemala. Meine Gastfamilie hieß Gutiérrez, und ich habe sie nie gefragt, ob die Stadt ihren Namen von ihren Vorfahren hatte, aber falls doch, hängten sie es nicht an die große Glocke, so mächtig und wohlhabend sie waren. Der Vater, Fernando, war Hafenarbeiter gewesen, einer wie die, die jetzt für ihn schufteten, und die Mutter, Cela (ausgesprochen ), war Tanzlehrerin. Ich erlebte sie als Menschen, die das Leben lieben, und liebte sie vom ersten Augenblick an.

Ihr Sohn, Miguel Ángel, hatte das letzte Schuljahr bei mir und meiner Familie in Cape Elizabeth, Maine verbracht. Er hatte seinen Eltern viel von mir erzählt, und so empfingen sie mich wie ein Kind, das sie immer schon gekannt, aber nie kennengelernt hatten. Sie hatten ein schönes, modernes Haus mit viel glänzendem Holz, Glas und Stuck, umgeben von hohen, mit Stacheldraht gespickten Mauern und Bäumen mit weit ausladenden Kronen und sternförmig angeordneten Blättern, von denen ich später erfahren sollte, dass es Mangobäume waren.

Bei unserem ersten, so heiteren wie herzlichen Abendessen erklärte mir die Familie, dass sie während dieses Sommers kein Englisch mit mir sprechen wollte, ganz gleich, wie sehr mich das verwirren würde. Und dass ich so Spanisch lernen sollte. Ich lachte, als ich – auf Spanisch – mein Einverständnis erklärte, etwas eingeschüchtert vielleicht, aber wild entschlossen und schon jetzt eifrig darum bemüht, ihnen zu gefallen.

In jener Nacht, ich lag wach und fand lange keinen Schlaf, fielen von den Bäumen, die rings um das Haus und die ganze Straße entlang standen, die reifen Mangos herab. Das Geräusch, das sie beim Aufprall machten, schwankte je nach Reifegrad zwischen dem Ploppen eines Tennisballs und einem saftigen Klatschen, und vereinzelt war ein lautes Klirren zu hören, wenn sie eine Windschutzscheibe durchbrachen.

Wir müssen den Baum fällen, sagte meine Gastmutter am nächsten Morgen. Das sagte sie immer, wenn wieder eine Scheibe zu Bruch gegangen war, aber kein einziger Baum wurde je gefällt – als wären kaputte Windschutzscheiben der Preis, den man für die Mangos zahlen musste, die wir Tag für Tag in uns hineinschlangen. Stattdessen ließen sie den Gärtner die Früchte aufsammeln und ersetzten die Windschutzscheibe, wie man eine Tischdecke wechselt. Und das war eine meiner ersten Lektionen über das Leben der Superreichen.

Erst Jahre später, als ich von der bitteren Armut in Chiapas erfuhr – daher die mit Stacheldraht gespickten Mauern –, begann ich mich zu fragen, ob es wirklich Mangos waren, was ihre Windschutzscheiben zerstört hatte – ob den ganzen Sommer Mangosaison war.

···

Ich war einer von zwölf Schülern meiner Highschool, die den Sommer in Chiapas verbrachten, im Rahmen eines, wenn ich heute darüber nachdenke, eher seltsamen Austauschprogramms: Wir wohnten bei den mexikanischen Schülern, die ein Jahr lang bei uns gewohnt hatten, aber im Gegensatz zu ihnen mussten wir nicht zur Schule. Der Sommer an sich sollte unsere Schule sein. Wenn meine Gastfamilie mich nicht darauf eingeschworen hätte, kein Englisch zu sprechen, glaube ich kaum, dass ich viel gelernt hätte. Unser Lehrer war zur Aufsicht mitgekommen, aber Unterricht hatten wir auch bei ihm nicht. Was immer er ansonsten trieb, er begleitete uns immerhin auf die gelegentlichen Gruppenexkursionen, die uns meist zu gut besuchten Ruinen führten, und auf Einkaufsexpeditionen in Orte wie das nahe gelegene San Cristóbal de las Casas, eine stille, sonnendurchflutete Stadt, der man noch ihren früheren Glanz als ehemaliger Hauptstadt von Chiapas ansehen konnte. Für mich waren diese Ausflüge so etwas wie Fixpunkte, die sich von den ungezählten, ununterscheidbaren Tagen dazwischen abhoben, an denen ich nichts anderes tat, als durch das leere, weitläufige Haus zu geistern, während die Mitglieder der Familie Gutiérrez entweder in der Schule oder bei der Arbeit waren. Ich war fasziniert von den vielen Toupets meines Gastvaters, die in seinem Ankleidezimmer auf Plastikköpfen saßen, und dem Leben, auf das sie hindeuteten, einem mir völlig fremden, in dem es öffentliches und privates Haar gab.

Das war nur eine von vielen Beobachtungen, die ich in diesem Sommer machte, und wenn es wirkt, als hätte ich herumgeschnüffelt, dann stimmt das. Meine Inspirationsquelle waren die Bücher, die ich mitgebracht hatte, die -Romane Frank Herberts – die Geschichte eines kleinen Jungen ohne Freunde, der als neuer Messias gilt und von den Bene Gesserit ausgebildet wird, einem geheimnisvollen Orden von Frauen mit übernatürlichen Kräften, die sie unter anderem durch das obsessive Registrieren kleinster Details erwerben. Der Junge war mein Held und nach Encyclopedia Brown, Sherlock Holmes und Batman nur die jüngste Inkarnation eines Heldentypus, der vom Durchschnitts- zum Übermenschen wird, weil er Dinge wahrnimmt, die anderen verborgen bleiben. Um herauszufinden, ob auch ich solche Superkräfte entwickeln konnte, musste ich als Erstes meine Beobachtungsgabe schulen.

Und wenn ich nicht gerade in die Lektüre jener Romane versunken war, schrieb ich meine eigenen Geschichten, Geschichten, die bis heute niemand zu sehen bekommen hat, über Mutanten mit übersinnlichen Kräften, die vor einer Regierung fliehen, deren erstes Anliegen es naturgemäß ist, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Im Grunde -Fanfiction, lange bevor ich wusste, dass es so etwas gibt.

Mein größter Traum war es, genau so eine Geschichte selbst zu erleben, übersinnliche Kräfte zu besitzen, die mir entweder angeboren waren oder dank meiner eifrigen Bemühungen zuwachsen würden und obwohl ich das damals so nicht hätte sagen können, hätte die Erfüllung dieses Traumes bedeutet, dass die Kämpfe, die ich auszustehen hatte, nicht umsonst gewesen waren.

Das Einzige, was in diesem Sommer für so etwas wie einen geregelten Tagesablauf sorgte, war die Stunde, die ich mit der Köchin Panchita vor dem Küchenfernseher verbrachte. Während ich mein Mittagessen verdrückte – gebratene Tortillas, bestrichen mit einer frischen, leichten Tomatensoße und mit weißem Käse bestreut –, schauten wir gemeinsam , eine Telenovela über eine Familie wohlhabender Hexen in Oaxaca und die zahlreichen Konflikte, in die sie sich verstricken. Mir gefiel der Look dieser Seifenoper, all diese Männer und Frauen, die oder entsprungen schienen und sich ständig anschrien, um dann Zaubersprüche zu murmeln und blutige Rache zu schwören, und das alles garniert mit kitschigen Videoeffekten, die ihr unwirkliches Aussehen noch unwirklicher machten. Anfangs bekam ich von den Dialogen kaum etwas mit, da ich an der Highschool erst zwei Jahre Spanisch gehabt hatte. Aber nach etwa einem Monat wurde mir beim Zuschauen plötzlich bewusst, dass ich alles verstand, was die Hexen sagten. Dann folgte Werbung, und wieder verstand ich alles. Dann die Nachrichten, und ich verstand alles. Es war, als hätte mich die Serie verhext.

Von einem Tag auf den anderen konnte ich fließend Spanisch. Ich sagte irgendwas in diesem Sinne zu Panchita, und sie hörte mir lächelnd zu, lachte und gratulierte mir. Tatsächlich, sie könne selbst kaum besser Spanisch als ich, meinte sie scherzhaft, und zur Belohnung bekam ich an diesem Tag eine Tortilla extra.

···

Mein Gastbruder Miguel Ángel schnaubte fast täglich über die Ungerechtigkeit unseres Austauschprogramms, wenn er wie immer spät von der Sommerschule heimkam und mich sah, wie ich sonnengebräunt dalag und las. Er war ein hoch aufgeschossener, schlaksiger Siebzehnjähriger, ein zuckersüßes Teenageridol mit leichten Schönheitsfehlern, die ihn nur noch liebenswerter machten. Er hatte große, herzzerreißend schiefe Schneidezähne, engere, dünnere Jeans als alle anderen und eine Leif-Garrett-Mähne. Irgendwann nach Rückkehr aus der Schule begann Miguel immer, sich für den allabendlichen Discobesuch herauszuputzen, er duschte und stellte dann sorgfältig sein Outfit zusammen. Ich fand diese Vorbereitungen fremd und faszinierend zugleich – ihm beim Auflegen von Parfüm zuzusehen, hatte etwas beinahe Mystisches.

Und ich durfte ihm bei allem zusehen.

Manchmal wurde ich so sehr zur Kamera, dass ich zusammenfuhr, wenn man mich ansprach. Ich war ein bisschen verknallt in ihn und seine Freunde, junge Männer, ausnahmslos Schönheiten, die mit ihren sechzehn oder siebzehn Jahren etwa ein oder zwei Jahre älter waren als ich und über die ich alles wissen wollte, als würde mir dieses Wissen, wie in den -Romanen, Macht über die Objekte meiner Begierde verschaffen. Alles folgte einer geheimen Logik, die, wie mir schien, unter dem sanften Rhythmus von Tag und Nacht verborgen lag, und diesen Code wollte ich knacken.

Miguel und ich trafen seine Freunde an einem Aussichtspunkt über der städtischen Müllhalde, wir parkten am Hang und tranken aus dem Kofferraum Brandy mit Coca-Cola, ein klebrig-süßes Mischgetränk, wie gemacht für heiße Sommernächte, bevor alle weiterzogen in die Discos. Wenn ich mit diesen jungen Männern getrunken hatte, war ich immer etwas schläfrig vom Alkohol und besonders empfänglich für die sinnliche Atmosphäre, das fast körperlich greifbare Vorgefühl von etwas, das ganz gewiss bald kommen musste.

Die Jungs warteten alle auf ihre Mädchen, die länger brauchten, bis sie ausgehfertig waren, und wir tranken, während sie sich ankleideten und schminkten. Ich konzentrierte mich auf den Moment ihrer Ankunft, darauf, was in diesem Moment mit der Jungsgruppe am...


Alexander Chee ist Autor der Romane "Edinburgh" und "The Queen of the Night". Seine Essays und Literaturkritiken erschienen unter anderem in The New Republic, The Los Angeles Times und Slate. "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" ist seine erste Essaysammlung. Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth
College und lebt in New York.



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