Chirbes | Spanien-Trilogie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 816 Seiten

Chirbes Spanien-Trilogie

Der lange Marsch | Der Fall von Madrid | Alte Freunde
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95614-525-4
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der lange Marsch | Der Fall von Madrid | Alte Freunde

E-Book, Deutsch, 816 Seiten

ISBN: 978-3-95614-525-4
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit seiner Spanien-Trilogie spannte Rafael Chirbes (1940-2015) einen großen Bogen von der Herrschaft der Faschisten und der Politisierung der Jugend in den 1960er Jahren ('Der lange Marsch') über den spannungsgeladenen Tag im November 1975, als Franco starb ('Der Fall von Madrid'), bis zum Aufbruch in die Demokratie und zur ernüchternden Bilanz der früheren Revolutionäre in den 1990ern ('Alte Freunde').
In feinen Momentaufnahmen aus dem Leben ganz gewöhnlicher Leute – ob Schuhputzer, Großindustrielle, Bauern oder Hausangestellte, Kollaborateure oder linke Studenten im Widerstand – verwebt Chirbes deren Hoffnungen und Enttäuschungen zu einer Geschichte des Landes von unten, einer Geschichte, die von den Menschen her erzählt wird.
Ein großes literarisches Panorama der spanischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert von ungebrochener Relevanz: Wer verstehen möchte, welche Schäden der Faschismus in Gesellschaften anrichtet, sollte Chirbes' Bücher lesen.

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ES WAR VIER UHR MORGENS an einem Tag im Februar. Trotz der geschlossenen Fensterläden war der Wildbach hinter dem Haus zu hören. Mehrere Tage hintereinander hatte es geschneit, dann war die Sonne durchgebrochen, danach hatte es geregnet, und jetzt führte der Bach viel Schmelzwasser und riss unter großem Getöse verdorrte Äste und Steine mit sich. Im Haus war eine besondere Aufregung zu spüren. Die Frauen kamen in die Küche und verließen sie mit dampfenden Töpfen, und im Kamin loderte ein mächtiges Feuer, das die Szene rötlich einfärbte, das Licht der Deckenlampe und auch der Lampe über dem Tisch übertönte, auf den, schweigsam und bewegungslos, ein gut dreißigjähriger Mann die Ellbogen stützte. Um die Schultern hatte er eine gestreifte Decke gelegt. Er saß auf der langen Holzbank, die zwei der vier Wände des Raumes säumte und einen Winkel bildete, in den sich der Tisch einfügte. Zu seiner Rechten rauchte ein anderer Mann eine Zigarette. Er war doppelt so alt, beider Gesichter aber waren – abgesehen von den Unterschieden, die das Alter mit sich brachte – fast identisch: so nebeneinander gesehen, hätten die beiden als Modell dienen können für einen der im Barock so beliebten moralisierenden Stiche, auf denen mit den Lebensaltern das Vergehen der Zeit am Körper der Menschen symbolisch dargestellt wurde. Wo sich die Züge des Sohnes noch der Linie des Kiefers und der Backenknochen anschlossen, verbreiterten sich die des Vaters, wurden in ihrer Zeichnung verschwommen und dadurch eher formlos; auch die Nase des Vaters sah aus, als hätte die des Sohnes gewissermaßen an Halt verloren und wäre zusammensinkend in die Breite gegangen. Die rosig gesunde Farbe der Wangen des Jüngeren war auf dem Gesicht des Alten ins Purpurne übergegangen und wies, vor allem seitlich der stumpfen Nase, Flecken von geplatzten Äderchen auf. Die blauen Augen waren jedoch von gleicher Lebendigkeit, obwohl die des Vaters eingesunken und, umgeben vom Saum dünner Wimpern, in die Feuchtigkeit des Tränensekrets getaucht waren, vielleicht aber gerade deshalb mit größerer Intensität zu glänzen schienen. Beide Körper strahlten eine unmäßige, fast rohe Kraft aus. Die machte sich in der Stimme des Jüngeren Luft, als in der Tür, die den Rest des Hauses mit der Küche verband, ein barfüßiges Kind in einem grün-weiß gestreiften Schlafanzug erschien. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich hier nicht sehen will, Lolo. Du gehst jetzt sofort ins Bett und bleibst da, bis es Zeit ist, zur Schule zu gehen«, sagte der Mann. Der Junge kam nicht dazu, ein Wort zu sagen, obwohl er den Mund schon geöffnet hatte. Er machte kehrt und tauchte in die Dunkelheit des Ganges ein. Sein Erscheinen hatte das Bild vom Vergehen der Zeit abgerundet. Denn das Gesicht war das der beiden Männer, vor vielen Jahren gesehen. Die drei Lebensalter. »Und Sie sollten sich auch hinlegen, Vater«, fuhr der junge Mann, nun in einem anderen Ton, fort. Der Alte machte keinerlei Anstalten zu antworten. Er führte die Zigarette an die Lippen, nahm einen tiefen Zug, stieß eine Rauchwolke aus und griff dann mit der rechten Hand das Kaffeeglas und trank einen Schluck. Der Kaffee im Glas dampfte. Die Gegenstände erschienen verzerrt im Wechselspiel von Licht und Schatten, das vom Kaminfeuer ausging, und dann und wann, wenn die Flammen an den feuchten Scheiten leckten, war ein Pfeifen zu hören und, ebenfalls nah, das Tosen des Wildbachs. Es war noch stockfinster. Wahrscheinlich brannten in keinem anderen Haus in Fiz die Lichter. Und vermutlich liefen in dieser Nacht nicht einmal die herrenlosen Tiere über die vom winterlichen Sturm gepeitschten Straßen und das Grenzgebiet zwischen dem Wald und den abseits liegenden Häusern, die nichts als eine Schattenmasse unter dem mondlosen Himmel waren. Manuel Amado hatte sich die gestreifte Decke kurz zuvor übergeworfen, als er durch die Hintertür hinaus zum Pferch gegangen war, um zu pinkeln. Draußen hatte er bemerkt, wie kalt es war und dass ein feiner Schneeregen einsetzte, der kaum zu spüren war, ihn jedoch in die warme Küche zurücktrieb. Ein neuer Optimismus beflügelte ihn. Der Unterschied zwischen Außen- und Innentemperatur hatte ihm ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Er fühlte sich als Herr und Besitzer dieses angenehmen, vom Küchenfeuer geschaffenen Klimas und alles dessen, was es einhüllte: die riesigen Töpfe, in denen das Wasser kochte, die weißen Laken auf dem Bett im Obergeschoss, von wo man Schritte hörte; seine Frau lag dort und sollte mit Hilfe der Hebamme und seiner ledigen Schwester Eloísa, die bei ihnen wohnte, erneut gebären. Vom Pferch zurückkommend, hatte er seinen Vater betrachtet, der einst das solide Steinhaus gebaut hatte, und er, der Sohn, führte dieses Werk fort, das eines Tages ihm gehören würde; er fühlte sich als Herr über die Granitmauern, das Schieferdach, die strohgewärmten Stuben, die Teller aus Ton, den Nussbaumtisch, das in der Speisekammer verwahrte Trockenfleisch, das Schmalz vom letzten Schlachtfest, die Würste in den Einwecktöpfen, über die Kühe, die in dem Stall im unteren Teil des Hauses muhten, die Hühner, die er, als er hinausgegangen war, sich im Gehege hatte regen hören. Er empfand für das alles eine zufriedene Zärtlichkeit, und mit ihr, mit der Sicherheit, die sie ihm gab, kam die Gewissheit, dass bei der Entbindung alles gutgehen würde. Sein zweites Kind, das schon seit Monaten im Inneren der Mutter lebte und das er, Ohr und Hand an Rosas aufgeschwollenem Leib, gehört und gespürt hatte, und das jetzt gleich ans Licht kommen musste, dieses Kind würde ein neu hinzugefügtes Teil des Familienwerks sein, so wie er selbst ein Stück des Werks gewesen war, das sein Vater, die Arbeit der Großväter aufnehmend, fortgeführt hatte; und die Zukunft, wenn auch noch in fernem Dunst liegend, erschien ihm in neuen, hoffnungsvollen Farben. Er liebte dieses Kind, das zweite, das ihm gewährt wurde und das, auch schon vor der Geburt, seiner helfenden Kraft am meisten bedurfte. Auch er war der Zweitgeborene gewesen und hatte vielleicht deshalb zusätzliche Gründe, es zu lieben. Als Lolo – so nannte man im Haus den Jungen, der ab heute der Älteste sein sollte und der, wie er selbst, Manolo hieß – in der Küchentür erschienen war, hatte Manuel Amado das Antlitz seines Vaters und das seines Erstgeborenen mit einem Blick erfassen können, und er war zufrieden gewesen, so wie er auch beim Wasserlassen in der dunklen Nacht Zufriedenheit verspürt hatte. Vom Strahl seines Urins war eine Wärme emporgestiegen, von der Erde als Dampf zurückgegeben, und diese Wärme war Ausdruck des Lebens, das er in sich trug: Es war ihm, als ob die beiden Szenen aufeinander bezogen wären; er, der in der Dunkelheit urinierte, seine Kraft auf den Mist im Pferch fallen ließ, und oben seine Frau, ihr Bett umgeben von Gefäßen voll kochenden Wassers, vom Dunst des Räucherwerks und dem Aroma der Kräuter, die in dem Kohlebecken schmorten; sie hatte teil an seiner Kraft, dieser inneren Kraft, die das, was nun geboren werden sollte, gezeugt hatte, und der anderen Kraft, die jene Landschaft der Gewissheit erschaffen hatte, die sie umgab. Er fühlte sich stark, als er zu dem Alten sagte: »Vater, gehen Sie schlafen«, als gewähre er ihm das großzügige Geschenk des Ausruhens nicht nur für diese Nacht, sondern für alles, was kommen mochte. Ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, ließ er ihn wissen, dass nunmehr allein er, der Sohn, über die notwendige Kraft verfügte, den Reichtum des Hauses zu mehren. Er war sich seiner so sicher, dass er in eben dem Augenblick die Gewissheit zu haben glaubte, dass, was da kam, wieder ein Junge sein musste, und er wusste, welchen Namen er ihm zu geben hatte. Seine Frau und er hatten bei mehreren Gelegenheiten besprochen, welchen Namen sie nehmen sollten für den Fall, dass es ein Mädchen wäre – was seine Frau wünschte –, oder falls es, so wie er es wollte, wieder ein Junge würde, und sie waren sich noch nicht einig geworden. Jetzt, in diesem Augenblick, beschloss er den Namen und auch, dass es nicht mehr wichtig war, ob seine Frau ihn gut fand oder nicht, immerhin wusste er, dass sie, wenn er ihr unzweideutig seinen Willen kundtat, nichts dagegen einwenden würde. Er sollte Carmelo heißen, in Erinnerung an den Bruder, der ihm, dem Zweitgeborenen, vorangegangen war. Dessen Lebenskraft war in der fernen Steinödnis von Tafersit nutzlos vergeudet worden, ein Ort, den er, Manuel Amado, als er zum Militärdienst nach La Coruña beordert wurde, in kaum noch lesbarer Schrift auf einer alten Karte von Marokko entdeckt hatte, die in der Offiziersmesse der Kaserne hing. Tafersit. Dieser winzige schwarze Punkt auf der Landkarte hatte Carmelos Blut getrunken, das nicht einmal dazu getaugt haben dürfte, irgendein Kraut wachsen zu lassen: Carmelo hatte ihnen die Trockenheit jenes wüstenhaften Orts beschrieben, die unfruchtbaren Dünen, die Steine, die Sonne,...


Rafael Chirbes, geboren 1949 in Tabernes de Valldigna, arbeitete nach dem Studium als Literatur- und Filmkritiker für verschiedene Zeitschriften. Schon bald wurde er einer der international bekanntesten spanischen Autoren. Seine preisgekrönten Romane wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt lebte Chirbes zurückgezogen in Beniarbeig bei Alicante, wo er im August 2015 starb.

Rafael Chirbes, geboren 1949 in Tabernes de Valldigna, arbeitete nach dem Studium als Literatur- und Filmkritiker für verschiedene Zeitschriften. Schon bald wurde er einer der international bekanntesten spanischen Autoren. Seine preisgekrönten Romane wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt lebte Chirbes zurückgezogen in Beniarbeig bei Alicante, wo er im August 2015 starb.



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