E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Christie Die großen Vier
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-455-17056-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fall für Poirot
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-455-17056-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihre beliebten Helden Hercule Poirot und Miss Marple sind - auch durch die Verfilmungen - einem Millionenpublikum bekannt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Agatha Christie starb 1976 im Alter von 85 Jahren.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
1 Der unerwartete Gast
2 Der Mann aus dem Irrenhaus
3 Wir erfahren mehr über Li Chang Yen
4 Die Bedeutung einer Hammelkeule
5 Ein Forscher verschwindet
6 Die Frau auf der Treppe
7 Die Radium-Diebe
8 Im Haus des Feindes
9 Das Geheimnis des Gelben Jasmins
10 Wir ermitteln in Croftlands
11 Ein Schachproblem
12 Der Köder in der Falle
13 Die Maus tappt hinein
14 Die Wasserstoffblondine
15 Die schreckliche Katastrophe
16 Der sterbende Chinese
17 Nummer Vier macht einen Stich
18 Im Felsenlabyrinth
Über Agatha Christie
Impressum
Skipper-Books
1 Der unerwartete Gast
Ich bin durchaus schon Leuten begegnet, die eine Kanalüberquerung genießen; Menschen, die bis zum Einlaufen gelassen auf ihren Deckstühlen sitzen und ruhig abwarten können, bis der Dampfer festgemacht hat, ehe sie dann ohne viel Aufhebens ihre Sachen einsammeln und an Land gehen. Mir persönlich gelingt das nie. Vom ersten Augenblick an, da ich an Bord bin, habe ich das Gefühl, die Zeit sei zu knapp, als dass ich mich auf irgendetwas einlassen könnte. Ich schiebe mein Gepäck von einer Ecke in die andere, und wenn ich mich zu den Mahlzeiten in den Salon begebe, schlinge ich mein Essen mit dem unbehaglichen Gefühl hinunter, dass der Dampfer unerwartet Land erreichen könnte, während ich noch unter Deck bin. Vielleicht ist dies das Vermächtnis der kurzen Fronturlaube während des Krieges, als man darauf erpicht war, sich einen Platz in der Nähe der Gangway zu sichern und zu den Ersten zu gehören, die von Bord gingen, damit man möglichst wenige kostbare Minuten seiner dürftigen vier, fünf Tage Urlaub vergeudete.
Während ich an jenem Julimorgen an der Reling stand und die sich langsam nähernden weißen Klippen von Dover betrachtete, staunte ich über die Passagiere, die es schafften, ruhig auf ihren Stühlen sitzen zu bleiben, ohne auch nur einmal aufzuschauen, um den ersten Anblick ihres Heimatlandes zu erhaschen. Doch vielleicht war ihr Fall ja auch anders gelagert als meiner. Ohne Zweifel waren viele von ihnen nur übers Wochenende in Paris gewesen, während ich mich während der letzten anderthalb Jahre auf einer Hazienda in Argentinien aufgehalten hatte. Ich hatte es dort zu etwas gebracht, und meine Frau und ich schätzten die zwanglose Lebensart des südamerikanischen Kontinents. Dennoch spürte ich einen Kloß im Hals, während ich die vertraute Küste immer näher kommen sah.
Zwei Tage zuvor war ich in Frankreich gelandet, hatte einige notwendige Geschäfte getätigt und befand mich nun auf dem Weg nach London. Dort würde ich ein paar Monate verbringen: genügend Zeit, um alte Freunde zu besuchen – und einen alten Freund im Besonderen. Einen kleinen Mann mit eiförmigem Kopf und grünen Augen – Hercule Poirot! Ich wollte ihn regelrecht überrumpeln. Mein letzter Brief aus Argentinien hatte nicht den geringsten Hinweis auf meine geplante Reise enthalten. Tatsächlich hatte ich mich infolge gewisser geschäftlicher Komplikationen sehr kurzfristig dazu entschlossen, und mir seine Freude und Verwunderung bei meinem unerwarteten Anblick auszumalen hatte mir nicht wenige vergnügliche Momente beschert.
Wie ich wusste, würde er kaum allzu weit von seinem Wohnsitz anzutreffen sein. Die Zeiten, als seine Fälle ihn von einem Ende Englands zum anderen geführt hatten, waren vorbei. Inzwischen war er zu Ruhm gekommen, und ein einzelner Fall vermochte nicht mehr seine ganze Zeit zu beanspruchen. Mit den Jahren legte er zunehmend mehr Wert darauf, als »beratender Ermittler« angesehen zu werden, als anerkannter Spezialist auf seinem Gebiet, genau wie irgendein Facharzt von der Harley Street. Für die landläufige Vorstellung vom menschlichen Spürhund, der sich abenteuerlich kostümierte, um Verbrecher zu beschatten, und bei jeder Fußspur innehielt, um sie zu vermessen, hatte er von jeher nur Spott übriggehabt.
»Nein, mein Freund Hastings«, pflegte er zu sagen, »das überlassen wir gern Giraud und Konsorten. Hercule Poirot hat seine eigenen Methoden. Ordnung und Methode – und ›die kleinen grauen Zellen‹. Während wir behaglich in unserem Sessel sitzen, sehen wir die Dinge, die jene anderen übersehen, und vermeiden die übereilten Schlussfolgerungen, zu denen der ehrenwerte Japp neigt.«
Nein, es bestand kaum Gefahr, dass sich Poirot allzu weit entfernt hatte. In London angekommen, hinterlegte ich mein Gepäck in einem Hotel und fuhr geradewegs zu der altbekannten Adresse. Augenblicklich wurden schmerzlich-süße Erinnerungen in mir wach. Ich nahm mir kaum die Zeit, meine alte Zimmerwirtin zu begrüßen, ehe ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufeilte und an Poirots Tür klopfte.
»Immer herein!«, rief von drinnen eine vertraute Stimme.
Ich trat ein. Poirot stand vor mir. Bei meinem Anblick ließ er den kleinen Koffer, den er mit beiden Händen hielt, los, sodass er mit einem Knall auf dem Boden aufschlug.
», Hastings!«, rief er aus. », Hastings!«
Er stürzte mir entgegen und drückte mich herzlich an seine Brust. Es folgte eine recht wirre und unzusammenhängende Unterhaltung. Ausrufe, neugierige Fragen, unvollständige Antworten, von meiner Frau auszurichtende Grüße, Erklärungen bezüglich des Zwecks meiner Reise mischten sich zu einem bunten Durcheinander.
»Meine alten Räumlichkeiten sind vermutlich belegt?«, fragte ich schließlich, als sich die erste Aufregung gelegt hatte. »Ich würde mich liebend gern wieder bei Ihnen einquartieren.«
Poirots Miene änderte sich schlagartig.
» Welch eine ! Blicken Sie um sich, mein Freund!«
Zum ersten Mal nahm ich meine Umgebung bewusst wahr. An der Wand thronte eine Truhe von wahrhaft prähistorischen Ausmaßen. Davor standen, streng nach absteigender Größe geordnet, mehrere Koffer in Reih und Glied. Der Schluss drängte sich mir geradezu auf.
»Sie reisen ab?«
»Ja.«
»Wohin?«
»Nach Südamerika.«
»«
»Was für ein witziger Zufall, nicht wahr? Mein Reiseziel ist Rio, und es verging kein Tag, an dem ich mir nicht sagte: Ich werde in meinen Briefen nichts verraten! Ach, die Überraschung des guten Hastings, wenn er mich erblickt!«
»Aber wann brechen Sie auf?«
Poirot sah auf seine Uhr.
»In einer Stunde.«
»Hatten Sie nicht immer gesagt, nichts würde Sie je dazu bewegen, eine lange Seereise zu unternehmen?«
Poirot schloss die Augen und erschauderte.
»Sprechen Sie nicht davon, mein Freund. Mein Arzt versichert mir, dass man davon nicht stirbt – und es ist nur dieses eine Mal; Ihnen ist doch klar, dass ich diese Reise kein zweites Mal unternehmen werde!«
Er drückte mich in einen Sessel.
»Kommen Sie, ich werde Ihnen erzählen, wie es dazu gekommen ist. Wissen Sie, wer der reichste Mann der Welt ist? Sogar reicher als Rockefeller? Abe Ryland.«
»Der amerikanische Seifenkönig?«
»Exakt. Einer seiner Sekretäre hat sich an mich gewandt. Mit einer großen Firma in Rio scheint es nicht mit rechten Dingen zuzugehen, wie man so schön sagt. Er wünschte, dass ich die Angelegenheit vor Ort untersuche. Ich lehnte ab. Ich erklärte, er möge mir die Fakten vorlegen, dann würde ich meine fachliche Einschätzung dazu abgeben. Dazu erklärte er sich jedoch für nicht befugt. Die Fakten würde man mir erst nach meiner Ankunft in Übersee mitteilen. Normalerweise wäre die Angelegenheit damit für mich erledigt gewesen. Hercule Poirot Vorschriften machen zu wollen ist eine glatte Unverfrorenheit. Doch man hat mir ein derart astronomisches Honorar angeboten, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben von schnödem Geld verlocken ließ. Es handelt sich um eine Unsumme – ein Vermögen! Und noch ein Zweites lockte mich – , mein Freund. Während der vergangenen anderthalb Jahre bin ich ein sehr einsamer alter Mann gewesen. Ich dachte bei mir: Warum eigentlich nicht? Allmählich bin ich dieses endlose Lösen von albernen Problemen satt. Lorbeeren habe ich zur Genüge gesammelt. Warum nehme ich also nicht einfach dieses Geld und lasse mich irgendwo in der Nähe meines alten Freundes nieder?«
Dieser Beweis von Poirots Wertschätzung ließ mich nicht unberührt.
»Also nahm ich das Angebot an«, fuhr er fort, »und in einer Stunde muss ich aufbrechen, wenn ich den Zug nach Southampton noch erreichen will. Ironie des Lebens, nicht wahr? Aber ich muss gestehen, Hastings, wäre der angebotene Betrag nicht so exorbitant gewesen, hätte ich vielleicht gezögert, denn erst kürzlich habe ich aus eigenem Antrieb eine kleine Privatermittlung begonnen. Sagen Sie mir, was versteht man gemeinhin unter den ›Großen Vier‹?«
»Zunächst bezieht sich der Begriff wohl auf die Pariser Friedenskonferenz, dann gibt es die berühmten ›Großen Vier‹ der Filmwelt, außerdem wird der Ausdruck in vielerlei anderer Hinsicht verwendet.«
»Ich verstehe«, sagte Poirot nachdenklich. »Ich bin auf diesen Begriff, müssen Sie wissen, in einem Zusammenhang gestoßen, in dem keine dieser Erklärungen einen Sinn ergeben würde. Er scheint sich auf eine internationale Verbrecherorganisation oder etwas in der Art zu beziehen; nur …«
»Nur was?«, fragte ich, als er stockte.
»Nur habe ich den leisen Verdacht, dass es sich dabei um etwas wirklich Großes handelt. Nur so eine Ahnung von mir, nichts weiter. Ah, aber ich muss fertig packen. Die Zeit drängt.«
»Fahren Sie nicht«, sagte ich. »Verschieben Sie Ihre Abreise und nehmen Sie dasselbe Schiff wie ich!«
Poirot richtete sich auf und bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Ah, Sie verstehen offenbar nicht! Ich habe mein Wort gegeben – das Wort Hercule Poirots. Einzig, wenn es um Leben und Tod ginge, könnte ich es brechen.«
»Und ein solcher Fall liegt kaum vor«, murmelte ich reumütig. »Es sei denn, im letzten Augenblick ›öffnet sich die Tür, und der unerwartete Gast tritt ein‹.«
Kaum hatte ich den alten Spruch mit einem halben Lachen zum Besten gegeben, als in der darauffolgenden Stille aus dem Hinterzimmer ein Geräusch ertönte, das uns zusammenfahren ließ.
»Was war denn das?«, rief ich aus.