E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Christie Fata Morgana
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-455-17058-0
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fall für Miss Marple
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-455-17058-0
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihre beliebten Helden Hercule Poirot und Miss Marple sind - auch durch die Verfilmungen - einem Millionenpublikum bekannt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Agatha Christie starb 1976 im Alter von 85 Jahren.
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Cover
Titelseite
Für Mathew Prichard [...]
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Epilog
Über Agatha Christie
Impressum
Skipper-Books
1
Mrs Van Rydock trat einen Schritt vom Spiegel zurück und seufzte.
»Tja, so müsste es gehen«, murmelte sie. »Was meinst du, Jane?«
Miss Marple fasste die Lanvanelli-Kreation kritisch ins Auge.
»Ich finde, es ist ein wunderschönes Kleid«, sagte sie.
»Gegen das Kleid ist nichts einzuwenden«, sagte Mrs Van Rydock und seufzte erneut.
»Zieh es mir aus, Stephanie«, sagte sie.
Die ältliche Zofe mit den grauen Haaren und dem kleinen, verkniffenen Mund streifte Mrs Van Rydock das Kleid vorsichtig über die hoch gestreckten Arme.
Mrs Van Rydock stand in ihrem pfirsichfarbenen Satinunterkleid vor dem Spiegel. Ihr Körper steckte in einem perfekt sitzenden Korsett. Ihre noch immer ansehnlichen Beine waren von feinsten Nylonstrümpfen umhüllt. Ihr ständig durch Massagen aufgefrischtes, unter einer Kosmetikschicht verborgenes Gesicht wirkte selbst aus geringem Abstand noch fast mädchenhaft. Ihr Haar war nicht eigentlich grau, sondern schimmerte hortensienblau und war tadellos frisiert.
Wenn man Mrs Van Rydock so sah, konnte man sich kaum vorstellen, wie sie wohl im Naturzustand aussah. Alles, was für Geld zu haben war, wurde für ihre Schönheit getan – unterstützt durch Diät, Massagen und regelmäßige gymnastische Übungen.
Ruth Van Rydock sah ihre Freundin spitzbübisch an. »Was meinst du, Jane, würden viele vermuten, dass wir praktisch gleich alt sind, du und ich?«
Miss Marple antwortete loyal. »Aber wo denkst du hin«, sagte sie beruhigend. »Ich allerdings sehe leider auf die Minute so alt aus, wie ich bin!«
Miss Marple war weißhaarig, hatte ein weiches, rosiges, von Fältchen durchzogenes Gesicht und unschuldige porzellanblaue Augen. Sie sah aus wie eine ganz reizende alte Dame. Mrs Van Rydock hätte niemand eine reizende alte Dame genannt.
»Tja, das tust du wohl, Jane«, sagte Mrs Van Rydock. Dann grinste sie plötzlich. »Aber ich auch. Nur nicht auf dieselbe Art. ›Bewundernswert, wie gut sich die alte Schachtel hält‹, sagen sie von mir. Aber sie wissen, dass ich eine alte Schachtel bin! Und bei Gott, ich fühl mich auch so!«
Sie ließ sich in einen satinbezogenen Polstersessel fallen.
»Es ist gut, Stephanie«, sagte sie. »Du kannst gehen.«
Mit dem Kleid auf dem Arm verließ Stephanie das Zimmer.
»Die gute alte Stephanie«, sagte Ruth Van Rydock. »Seit über dreißig Jahren ist sie jetzt bei mir. Sie ist die einzige Frau, die weiß, wie ich wirklich aussehe! Jane, ich möchte mit dir reden.«
Miss Marple beugte sich leicht vor und sah Ruth gespannt an. Irgendwie wirkte sie in dem luxuriösen Schlafzimmer der teuren Hotelsuite fehl am Platz. Sie war in ziemlich tristes Schwarz gekleidet, hatte eine große Einkaufstasche bei sich und war von Kopf bis Fuß eine Dame.
»Ich mache mir Sorgen, Jane. Um Carrie Louise.«
»Carrie Louise?« Miss Marple wiederholte den Namen nachdenklich. Sein Klang versetzte sie weit in die Vergangenheit zurück.
Das Pensionat in Florenz. Sie selbst, das rosig-weiße, im Schatten einer Kathedrale aufgewachsene englische Mädchen. Die beiden Martin-Schwestern, Amerikanerinnen, für die Engländerin aufregend wegen ihrer eigentümlichen Aussprache, ihrer geraden Art und ihrer Lebenslust. Ruth, hoch gewachsen, leicht zu begeistern, immer obenauf; Carrie Louise, klein, zierlich, verträumt.
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen, Jane?«
»Ach, das ist Ewigkeiten her. Mindestens fünfundzwanzig Jahre. Aber wir schreiben uns natürlich noch Weihnachtskarten.«
Freundschaft war schon etwas Merkwürdiges! Sie, die junge Jane Marple, und die beiden Amerikanerinnen. Ihre Wege hatten sich bald getrennt, und doch war die alte Zuneigung lebendig geblieben; gelegentliche Briefe, Grüße zu Weihnachten. Dass sie von den beiden Schwestern die in Amerika lebende Ruth öfter gesehen hatte, war eigenartig. Oder vielleicht auch nicht. Wie die meisten Amerikanerinnen ihrer Gesellschaftsschicht war Ruth Kosmopolitin. Sie war alle ein, zwei Jahre einmal nach Europa gekommen, war von London nach Paris geeilt und weiter an die Riviera, stets darauf bedacht, überall, wo sie war, wenigstens ein paar Minuten mit ihren alten Freundinnen zu verbringen. Es hatte viele solche Treffen gegeben. Im oder im , im , im . Ein erlesenes Mahl, lieb gewordene Erinnerungen, dann ein rascher, herzlicher Abschied. Ruth hatte nie Zeit gehabt, nach St. Mary Mead zu kommen, aber das hatte Miss Marple auch nie erwartet. Das Leben eines jeden Menschen hat sein Tempo. Bei Ruth war es ein , Miss Marple begnügte sich mit einem .
Sie hatte sich also mit der Amerikanerin Ruth recht häufig getroffen, während sie Carrie Louise, die in England lebte, seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seltsam, aber eigentlich ganz logisch, denn mit alten Freundinnen, die im selben Land leben, braucht man keine Treffen zu arrangieren. Man verlässt sich darauf, dass man sie früher oder später auch ohne Regie treffen wird. Nur, das geschieht nie, wenn man sich in verschiedenen Sphären bewegt. Die Wege von Jane Marple und Carrie Louise kreuzten sich nicht. So einfach war das.
»Warum machst du dir Sorgen um Carrie Louise, Ruth?«, fragte Miss Marple.
»Gerade das macht mir ja die meisten Sorgen! Ich weiß es einfach nicht.«
»Sie ist doch nicht krank?«
»Sie ist sehr zart – schon immer gewesen. Ich würde nicht sagen, dass es ihr schlechter ging als sonst, wenn man bedenkt, dass sie ja auch in die Jahre gekommen ist, genau wie wir.«
»Unglücklich?«
»Nein, nein.«
Nein, das kann nicht sein, dachte Miss Marple. Schwer vorstellbar, Carrie Louise könnte unglücklich sein – obwohl es auch in ihrem Leben Zeiten gegeben haben musste, in denen sie unglücklich gewesen war. Nur, es wollte sich kein klares Bild einstellen. Durcheinander – ja, fassungslos – ja, aber gramgebeugt – nein.
Mrs Van Rydocks Antwort kam wie eine Bestätigung ihrer Gedanken. »Carrie Louise«, sagte sie, »hat immer außerhalb dieser Welt gelebt. Sie kennt sie überhaupt nicht. Vielleicht ist es das, was mir so Sorgen macht.«
»Ihre Lebensumstände«, setzte Miss Marple an, doch dann hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Nein, es liegt an ihr selbst«, sagte Ruth Van Rydock. »Carrie Louise war immer diejenige von uns, die Ideale hatte. Sicher, in unserer Jugend war es Mode, Ideale zu haben – wir alle hatten welche, das gehörte sich einfach für junge Mädchen. Du wolltest die Aussätzigen pflegen, Jane, und ich wollte Nonne werden. Aus derlei Unsinn wächst man heraus. Die Ehe, so könnte man vielleicht sagen, treibt einem das aus. Wobei ich im Großen und Ganzen mit der Ehe nicht schlecht gefahren bin.«
Das war leicht untertrieben, fand Miss Marple. Ruth war dreimal verheiratet gewesen, jedes Mal mit einem schwerreichen Mann, und die Scheidungen hatten ihr Bankkonto anschwellen lassen, was ihr keineswegs die Laune verdorben hatte.
»Sicher«, sagte Mrs Van Rydock, »ich war immer hart im Nehmen. Mich wirft so schnell nichts um. Ich habe nicht zu viel vom Leben erwartet, schon gar nicht von den Männern, und das hat sich ausgezahlt. Außerdem ging es immer ohne böses Blut ab – Tommy und ich sind heute noch gute Freunde, und Julius holt sich oft geschäftlichen Rat bei mir.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich glaube, das ist der Grund, weshalb ich mir Sorgen um Carrie Louise mache – sie hat immer dazu geneigt, zu heiraten, weißt du.«
»Spinner?«
»Männer mit Idealen. Carrie Louise fand Ideale immer unwiderstehlich. Siebzehn war sie und bildhübsch, siebzehn erst, und hörte mit Augen so groß wie Untertassen zu, wie der alte Gulbrandsen von seinen Plänen für die Menschheit schwärmt. Er war über fünfzig, und sie hat ihn geheiratet, einen Witwer mit erwachsenen Kindern, nur wegen seiner philanthropischen Ideen. Sie hat dagesessen und ihm wie gebannt zugehört. Genau wie Desdemona und Othello. Nur dass zum Glück kein Jago da war, der alles kaputtgemacht hätte – und Gulbrandsen war natürlich auch kein Mohr. Er war Schwede oder Norweger oder so was.«
Miss Marple nickte nachdenklich. Gulbrandsen war weltbekannt. Ein Mann, der mit genialem Geschäftssinn und unbedingter Redlichkeit ein so gigantisches Vermögen angehäuft hatte, dass Philanthropie die einzige Möglichkeit war, es wieder loszuwerden. Der Name hatte noch immer einen guten Klang. Der Gulbrandsen-Trust, die Gulbrandsen-Forschungsstipendien, die Gulbrandsen-Armenhäuser und vor allem das riesige College für Arbeitersöhne.
»Sie hat ihn nicht wegen seines Geldes geheiratet, weißt du«, sagte Ruth. »Für mich wäre das der einzige Grund gewesen, wenn ich ihn überhaupt geheiratet hätte. Aber bei Carrie Louise war es anders. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn er nicht gestorben wäre, als sie zweiunddreißig war. Zweiunddreißig ist ein ideales Alter für eine Witwe. Sie hat Erfahrung, kann sich aber noch anpassen.«
Ihre altjüngferliche Zuhörerin nickte sanft. Im Geist ging sie die Witwen durch, die sie in St. Mary Mead kannte oder gekannt hatte.
»Das beste Gefühl hatte ich eigentlich, als Carrie Louise Johnnie Restarick geheiratet hat. Natürlich hat sie wegen ihres Geldes geheiratet – zumindest hätte er sie nicht geheiratet, wenn sie keins gehabt hätte. Johnnie war ein egoistischer, vergnügungssüchtiger, fauler Luftikus, aber bei so einem ist man viel besser...