E-Book, Deutsch, Band 2, 496 Seiten
Reihe: Tao
Chu Die Tode des Tao
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-403647-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 496 Seiten
Reihe: Tao
ISBN: 978-3-10-403647-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wesley Chu (*1976) wurde in Taiwan geboren und ist in Chicago aufgewachsen. Nach seinem Informatikstudium arbeitete er unter anderem als Bankangestellter, Schauspieler und Kung-Fu-Lehrer. Für seinen Debütroman ?Die Leben des Tao? erhielt er den Young Adult Library Services Association Alex Award und den John W. Campbell Award als »Best New Writer«.
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Kapitel 1 Vergeltungsmaßnahmen
Der Pfad eines Gefäßes ist von Toten gesäumt. Und erst recht die Reise eines Quasing, denn nur ein stetiger Zyklus von Leben und Tod wird uns letztlich nach Hause führen.
Huchel, Rat der Genjix – Östliche Hemisphäre,
Quasing von König Salomo
Das schwarze Auto schlich durch finstere, unbeleuchtete Straßen in den Außenbezirken von Washington D.C. Jill Tan schaute durch die abgedunkelten Scheiben auf die düsteren, schneebestäubten Umrisse einer wie ausgewaschen wirkenden Welt. Das Treffen mit Andrews am Abend war schon wieder ein Reinfall gewesen. In letzter Zeit hatten sich viel zu viele Abende zu Enttäuschungen entwickelt. Und mit jedem Mal wurde ihr klarer, dass die Prophus bereits mit einem Bein im Grab standen.
Dass sie sich mit dem gerade erst gewählten Senator von Idaho zusammensetzen mussten, dem Vorsitzenden des nicht sonderlich angesehenen Trinity-Ausschusses, sagte einiges über die prekäre Lage der Prophus in den Vereinigten Staaten aus. Wäre ihr Einfluss auf die amerikanische Politik größer, wären sie nicht gezwungen, mit solchen Flachpfeifen an der Peripherie des Machtapparats zu verhandeln. Jill wusste nur zu gut, dass sie in Schwierigkeiten steckten, wenn jemand wie Andrews ihr Bedingungen stellen konnte.
»Seine Stimme ist den Sitz im Gremium einfach nicht wert, Baji. Ich werde Wilks oder die Prophus nicht von diesem Frischling in Geiselhaft nehmen lassen.«
»Ich werde dafür nicht Haus und Hof verkaufen. Damit schafft man nur einen negativen Präzedenzfall.«
»Die grabe ich schon noch irgendwo aus«, murmelte Jill, während sie im Geiste die Fraktionsmitglieder durchging. Sie war nicht annähernd so zuversichtlich, wie sie sich gab – was Baji natürlich wusste. Es war Jill einfach in Fleisch und Blut übergegangen, die Fassade zu wahren. In der Politik überlebte man nicht lange, wenn man Schwäche zeigte.
Sie schaute wieder nach draußen. Das war typisch Andrews, ein Treffen an so einem Ort anzuberaumen. Er wollte nicht mit ihr gesehen werden, hatte er gesagt. Das würde seinem Ruf schaden. Für wen hielt er sich eigentlich? Das Treffen hatte drei Stunden gedauert, und dabei hatte er sie nur hingehalten und unverschämte Forderungen gestellt, auf die sie – wie er sehr wohl wusste – nicht eingehen konnte. Die Verhandlungen mit ihm kosteten Zeit und Mühe, und Jill verlor langsam die Geduld.
Sie schaute auf die Uhr; es war 21.14 Uhr. Im Büro wartete ein Berg Arbeit auf sie. Sie konnte von Glück reden, wenn sie um drei ins Bett kam. Nun ja, ihr Privatleben war ohnehin nicht der Rede wert.
»Baji, ich weiß, was das Dr. med. vor dem Namen eines Kerls bedeutet. Der Mann ist langweilig, egozentrisch und vermutlich ein Soziopath. Und er hat Pranken wie ein Yeti. Hast du keine anderen Kriterien für die Partnerwahl, als dass sie Ärzte sind?«
»Das sind die schlechtesten Kriterien, die mir je zu Ohren gekommen sind.«
Jill brummte missbilligend und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Ihr persönliches Alien mochte die Weisheit und Bildung aus Jahrtausenden besitzen, aber als Kupplerin gehörte Baji eindeutig ins 11. Jahrhundert. Jills durchschnittliche Trefferquote in Liebesangelegenheiten war in letzter Zeit regelrecht verheerend gewesen. Allein schon der Gedanke, sich mit jemandem zu treffen, fühlte sich mittlerweile falsch an.
»Roen, du Dreckskerl«, fluchte sie in sich hinein.
Im Rückspiegel tauchte plötzlich ein blendendes Licht auf, und etwas rammte ihren Wagen von hinten. Von der Seite preschte ein weiteres Fahrzeug heran und prallte gegen den vorderen Kotflügel, so dass ihr Fahrzeug herumgeschleudert wurde.
»Alles in Ordnung?«, fragte Shunn, ihr Fahrer, obwohl ihm selbst das Blut über die Stirn lief. Chevoen, ihr Leibwächter, hatte sich schon aus dem Auto befreit. Jill hörte Schüsse, die in die Seitenverkleidung einschlugen.
»Kümmern Sie sich nicht um mich – machen Sie, dass sie rauskommen«, fuhr sie ihn an und zog ihre Ruger. »Benachrichtigen Sie das Oberkommando. Verteidigungsring bilden. Wir ziehen uns zurück, folgen Sie mir.« Sie stieg aus und ging hinter der Autotür in Deckung. Um sie herum prasselten Schüsse, während sich schemenhafte Umrisse aus der Dunkelheit schälten. Jill beugte sich über den Kofferraum und nahm die dunklen Gestalten ins Visier. Nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt schlugen Kugeln in die Karosserie ein.
Sie lehnte sich mit dem Rücken ans Auto und warf gerade noch rechtzeitig einen Blick nach oben, um zu sehen, wie eine dunkle Gestalt in Deckung ging.
»Prophus!«, ertönte eine Stimme. »Wir wollen verhandeln.«
»Sie haben uns gerade überfallen, Baji. Weshalb sollten sie jetzt plötzlich verhandeln wollen?«
»Was gibt’s denn zu besprechen?«, brüllte sie.
Einer der Genjix trat vor, ein Telefon in der erhobenen Hand. Jill ließ ihn nicht aus den Augen. Als er auf fünf Meter heran war, warf er ihr das Telefon zu. Sie fing es auf und ging ran.
»Hallo, Jill«, sagte eine aalglatte Stimme am anderen Ende der Leitung.
Sie runzelte die Stirn. »Simon.«
»Du hast auf meine Anrufe im Büro nie reagiert, deshalb musste ich zu drastischeren Maßnahmen greifen. Wie war dein Treffen mit Andrews? Unergiebig? Natürlich. Wir haben ihn schon seit zwei Monaten in der Tasche. Ihr Prophus seid im Moment wirklich nicht die Schnellsten.«
Jill biss sich auf die Lippe. »Wie schön für euch. Wir wissen beide, dass Andrews nur für eine Amtszeit im Senat sitzen wird. Ich hoffe, ihr habt nicht zu viel für ihn bezahlt. Gibt es sonst noch was, oder bist du nur hier, um mir eure Überlegenheit unter die Nase zu reiben?«
»Wie sieht dein Fluchtplan aus, Baji?«
Simon schwafelte einfach weiter. »Das ist nur etwas für Menschen. Die Unsterblichen verlangen von ihren Gefäßen schon etwas mehr Selbstdisziplin. Ich möchte dir vorschlagen, mit mir zusammenarbeiten. Überparteilich sozusagen.«
Das kaufte Jill ihm nicht ab. Beim letzten Mal, als Simon im Kongress das Wort »überparteilich« in den Mund genommen hatte, waren die Genjix gerade drauf und dran gewesen, die nächste Immobilienkrise auszulösen. Ein Move, der sie um einige Milliarden reicher gemacht hatte.
»Eigentlich würde Hogan gern mit deinem Boss verhandeln«, sagte Simon. »Ob der ehrenwerte Senator Wilks wohl zwei Stunden für ihn erübrigen könnte?«
Jill stieß empört die Luft aus. »Das ganze Theater, weil ihr ein Treffen wollt?«
»Ruf mich nächstes Mal einfach zurück, ja?«
»Lass mich raten. Geht es um den Südkorea-Zerstörer-Vertrag? Die Ostmeer-Mineralien-Sanktion? Oder den japanischen IEC-Standard-Zoll?«
»Unter anderem. Sagen wir, es ist ein großes Paket.«
»Was bietet ihr?«
»Ich schicke deiner Assistentin heute Nacht die Spezifika. Du wirst sie Wilks im bestmöglichen Licht präsentieren, und dann bekommen wir beide ein Lob, weil wir über die Kluft zwischen den Lagern hinweg zusammengearbeitet haben. Wie hört sich das an?«
»Weshalb sollte ich dir helfen wollen?«, fragte Jill.
»Weil meine Männer euch sonst alle umbringen.«
»Dann habe ich wohl keine andere Wahl. Ich werde aber Zeit brauchen, dein Angebot zu prüfen.«
»Du bist nicht in der Position, Bedingungen zu stellen, aber nimm dir ruhig Zeit und denk drüber nach«, sagte er. »Nächste Woche erwarte ich eine Antwort. Übrigens, Baji, Biall schuldet dir noch was für den Unabhängigkeitskrieg. Heute kriegst du eine Teilzahlung.« Dann legte er auf.
»Was ist während des Krieges geschehen?«
»Würde ich an seiner Stelle auch tun.«
Jill warf dem Genjix-Agenten das Telefon wieder zu. »Ihr habt euer Treffen bekommen. Und jetzt, husch, husch, zurück ins...