E-Book, Deutsch, Band 4, 448 Seiten
Reihe: »Land of Stories«-Serie
Colfer Land of Stories: Das magische Land 4 – Ein Königreich in Gefahr
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-0331-1
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Abenteuerserie ab 10 Jahren voller Magie und Märchen
E-Book, Deutsch, Band 4, 448 Seiten
Reihe: »Land of Stories«-Serie
ISBN: 978-3-7336-0331-1
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chris Colfer ist Schauspieler und Autor. Bekannt wurde er durch die Serie »Glee«, für die er unter anderem mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde. Alle »Land of Stories«-Bände sind auf der »New York Times«-Bestsellerliste erschienen und begeistern ebenso wie seine Kinderbuchserie »Tale of Magic« weltweit unzählige Fans. Mit »Roswell Johnson« startet Chris Colfer nun ein neues Abenteuer der Extraklasse.
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Prolog Der andere Sohn
Im gemütlichen Studierzimmer seines Hauses saß Hans Christian Andersen eifrig kritzelnd am Schreibtisch.
, las er laut den ersten Satz seiner jüngsten Geschichte, und das leise Kratzen seiner Schreibfeder hielt inne.
»Moment – wieso schläft das Vögelchen überhaupt?«, fragte er sich selbst. »Würde es nicht normalerweise bei Sonnenaufgang zusammen mit den übrigen Vögeln aufwachen? Andernfalls könnte es faul und liederlich wirken. Und ich möchte doch, dass die Leser es mögen.«
Hans knüllte das Pergament zusammen und warf es auf den Haufen früherer Entwürfe am Boden. Er griff nach einem anderen Federkiel, in der Hoffnung, dass eine längere und dunklere Feder seine Erzählung neu beleben werde.
Erneut unterbrach er sich. »Nein, denn wenn es ein Nest baut, werden die Leser sich fragen, ob es bald Eier legen will, und dann glauben sie, die Geschichte handele von einer ledigen Mutter. Die Kirche wird mir vorwerfen, ich wollte auf etwas Unzüchtiges anspielen … .«
Er zerknüllte auch dieses Blatt und schnippte es auf den Haufen.
Hans presste sich beide Hände auf die Augen und stöhnte. »Nein, nein, nein! Was denke ich mir bloß? So kann das Märchen nicht beginnen. Sobald ich schreibe, dass der Baum über die Kirchtürme hinausragt, kommt gewiss irgendein Schwachkopf auf die Idee, ich würde den Baum mit Gott gleichsetzen, und dann gibt es nur aufs Neue unnötige Scherereien.«
Der Schriftsteller seufzte und schob auch diesen Entwurf beiseite. Als Dichter in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu verkehren konnte bisweilen frustrierend sein.
Die Standuhr neben seinem Schreibtisch schlug sechs Uhr. Zum ersten Mal seit Stunden erhob Hans sich von seinem Stuhl. »Ich glaube, es wird Zeit für einen Abendspaziergang«, meinte er.
Hans nahm seinen Hut und Mantel und trat ins Freie. Auf seinem Weg die Straße hinunter erkannten ihn die anderen Fußgänger mühelos: Ein schneller Blick auf seine markante Nase und dünne Gestalt verriet ihnen ohne jeden Zweifel, dass der berühmte Schriftsteller sich unter sie gemischt hatte. Hans tippte sich an den Hut und grüßte höflich jeden, der ihn anstarrte, eilte aber stets davon, ehe die Leute Gelegenheit hatten, ihn zu behelligen.
Schließlich erreichte er die Promenade Langelinie und ließ sich auf seiner Lieblingsbank nieder. Vor ihm glitzerte das Wasser des Öresund im letzten Tageslicht. Er atmete die salzige Luft ein, und zum ersten Mal an jenem Tag kam sein Geist ein wenig zur Ruhe.
Zur Entspannung kam Hans am liebsten hierher. Wann immer ihm so viele Ideen im Kopf herumspukten, dass es ihm nicht mehr gelang, sich auf nur eine davon zu konzentrieren, oder aber sein Gehirn wie leergepustet war, machte ein simpler Spaziergang zur Promenade gleich alles besser. Wenn er Glück hatte, fand er hier an der Promenade neue Inspiration, die er mit nach Hause nehmen konnte. Und hin und wieder – an Tagen, an denen ihm das Glück hold war – fand die Inspiration sogar .
»Hallo, Mr. Andersen«, vernahm er eine sanfte Stimme in seinem Rücken.
Er spähte über seine Schulter und erkannte voller Entzücken eine alte Freundin. Sie trug ein hellblaues Gewand, das funkelte wie die Sterne am Nachthimmel, und war ebenso herzlich wie warmherzig – doch außer Hans kannte sie in Dänemark niemand.
»Meine liebe gute Fee, was für eine Freude, Euch zu sehen«, begrüßte Hans sie mit breitem Grinsen.
Die gute Fee nahm neben ihm Platz. »Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte sie. »Ihr wart nicht zu Hause, daher habe ich mir gedacht, dass ich Euch hier antreffen würde. Fällt Euch das Schreiben heute Abend schwer?«
»Leider ja«, bestätigte Hans. »An manchen Tagen fließen mir die Worte aus der Feder, als strömte der Nil durch meinen Körper, und an anderen bin ich so ausgetrocknet wie die Sahara. Ich fürchte, Ihr erwischt mich inmitten einer Dürre, doch ich bin zuversichtlich, dass es beizeiten wieder regnen wird.«
»Daran habe ich keinerlei Zweifel«, sagte die gute Fee. »Tatsächlich bin ich gekommen, um Euch zu beglückwünschen. Soeben ist die Neuigkeit, dass Eure Märchen nun auch in anderen Ländern veröffentlicht werden, zu uns durchgedrungen. Die übrigen Feen und ich könnten nicht glücklicher sein. Ihr leistet ganze Arbeit und seid uns eine enorme Hilfe dabei, unsere Erzählungen in aller Welt bekannt zu machen. Dafür sind wir sehr dankbar.«
»Ich bin es, der zu danken hat«, entgegnete Hans. »Bevor Ihr mich gefunden habt, damals als jungen Mann an dieser schrecklichen Schule in Elsinore, war ich kurz davor, das Schreiben ganz und gar aufzugeben. Die Geschichten, die Ihr mir zur freien Ausgestaltung anvertraut habt, haben mich ebenso sehr inspiriert wie die Kinder, für die sie gedacht waren. Wärt Ihr nicht gewesen, hätte ich nie wieder zum Erzählen zurückgefunden.«
»Ihr stellt Euer Licht unter den Scheffel«, widersprach die gute Fee. »Ihr wusstet genau, wie Ihr unsere Geschichten an die heutige Gesellschaft anpassen musstet, indem Ihr religiöse Elemente einbindet. Andernfalls wären sie womöglich nicht derart gut aufgenommen worden. ›Das hässliche Entlein‹, ›Die Schneekönigin‹, ›Die kleine Meerjungfrau‹ und viele weitere Märchen wären in Vergessenheit geraten – aber Ihr habt sie unsterblich gemacht.«
»Wo wir gerade dabei sind: Wie steht es denn um die Märchenwelt?«, fragte Hans.
»Sehr gut«, antwortete die gute Fee. »Wir befinden uns inzwischen in einem wahrhaft Goldenen Zeitalter. Meine liebe Aschenputtel hat Prinz Chance aus dem Königreich des Gläsernen Schuhs geheiratet, Prinzessin Dornröschen ist endlich aus dem grauenvollen Schlafzauber geweckt worden, und Schneewittchen hat ihre böse Stiefmutter als Königin des Nördlichen Königreichs abgelöst. Seit unserem endgültigen Sieg über die Drachen hat das magische Land nicht mehr solcherlei Anlass zum Feiern gehabt.«
»Aber, meine Liebe, dieselbe Frage habe ich Euch vor fast zehn Jahren gestellt, und damals habt Ihr mir die identische Antwort gegeben«, wunderte sich Hans. »Schon als Kind habe ich die gleichen Geschichten gehört. In der Märchenwelt muss die Zeit stehengeblieben sein.«
»Ach, wenn dem doch so wäre«, meinte die gute Fee und lachte. »Eure Welt dreht sich so viel schneller als unsere – aber eines Tages werden sie sich im Einklang bewegen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie oder weshalb, aber ich bin von dem unerschütterlichen Vertrauen erfüllt, dass es so kommen wird.«
Gemeinsam genossen die beiden einen Moment lang das friedliche Treiben auf der Promenade und nahmen all die wohltuenden Geräusche und Bilder in sich auf: Ein älteres Ehepaar spazierte gemächlich am Wassersaum entlang. Ein kleiner Hund jagte Möwen, die doppelt so groß waren wie er selbst. Ein Vater ließ mit seinen Söhnen in einem nahen Feld Drachen steigen, während die Mutter ihre neugeborene Tochter im Arm wiegte. Die Jungen kicherten, als eine Windböe ihnen das Spielzeug entriss und den Drachen immer höher und höher in den Himmel trug.
»Hans?«, sagte die gute Fee. »Erinnert Ihr Euch noch daran, was Euch als kleinen Jungen glücklich gemacht hat?«
Darüber musste er nicht lange nachdenken. »Orte wie dieser Kai«, antwortete er sofort.
»Wieso?«, wollte sie wissen.
»Weil er ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten ist«, erklärte er. »Jeden Moment könnte irgendjemand oder irgendetwas auftauchen – eine Parade könnte durch das Feld marschieren, ein tropischer Vogelschwarm könnte am Himmel vorüberziehen, oder ein König von weit her könnte auf einem gewaltigen Schiff heransegeln. Ich schätze, alle Kinder sind stets dann am glücklichsten, wenn ihre Phantasie angeregt wird.«
»Interessant«, sinnierte die gute Fee.
Ihr Blick verriet Hans, dass etwas ihr schwer auf dem Herzen lastete. Und nach ihrer Frage zu schließen, hatte es wohl mit einem Kind zu tun.
»Verzeiht«, sagte Hans vorsichtig. »Ich kenne Euch nun bereits so lange, dass es mir beinahe etwas unangenehm ist, fragen zu müssen, aber: Habt Ihr Kinder?«
»In der Tat«, erwiderte sie, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Zwei Söhne. Beide sind sie meinem verstorbenen Ehemann wie aus dem Gesicht geschnitten. John ist der ältere – ein rundum fröhliches und abenteuerlustiges Kerlchen. In einem fort schließt er neue Freundschaften und erkundet die Gegend. Jeder zu Hause liebt ihn.« Dann aber wurde die gute Fee plötzlich still.
»Und Euer zweiter Sohn?«, fragte Hans.
Als wären ihre Gefühle mit einem Mal leckgeschlagen, schwand alle Freude aus dem Gesicht der guten Fee. Sie senkte den Blick auf ihre Hände. »Sein Name ist Lloyd; er ist einige Jahre jünger als John und vollkommen … .«
»Verstehe«, sagte Hans. Offenbar hatte er ein sensibles Thema angeschnitten.
»Ihr müsst mir vergeben«, bat die gute Fee seufzend. »Ich kann meine...