E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Cooper Die zwei Hälften eines Hauses
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-23500-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-23500-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fran Cooper ist in London aufgewachsen. Sie studierte Englisch in Cambridge und Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art. Drei Jahre verbrachte sie in Paris, wo sie neben ihrer Doktorarbeit über Reisemaler im 18. Jahrhundert auch die ersten Teile ihres Debüts Die Leute von Nr. 37 schrieb. Die zwei Hälften eines Hauses ist ihr zweiter Roman.
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4
»SCHEISSE!«
Der Volvo bricht seitwärts aus und bleibt mit der breiten Nase nur Zentimeter vor einer Trockenmauer auf dem Randstreifen stehen. Simon sieht, wie seine Frau gegen das Fenster auf der Beifahrerseite geworfen wird und hört das dumpfe Klock, mit dem ihr Kopf gegen die Scheibe schlägt, als der Wagen zum Stillstand kommt.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
Jay reibt sich die Schläfe. »Was war das?«
»Keine Ahnung.« Mit zitternden Händen rückt Simon seine Brille zurecht.
»Ein Schlagloch?«
»Das Rad?«
Sie klettern hinaus in einen rauen Nachmittag, die Luft ist kühl und feucht. Obwohl man in London von einem Altweibersommer spricht. Sie sind im Norden, weit oberhalb von sonnenhellen Städten und bilderbuchschönen Tälern. Hier schwitzt niemand im Liegestuhl oder holt Sommersachen aus dem Schrank, die er längst weggepackt haben wollte. Der September hat kaum begonnen, doch schon fällt das Licht schwächer durch die Wolken; ein paar Stunden wird es noch scheinen, aber mit dieser herbstlichen Trägheit, die das Kommen einer langen Nacht ankündigt.
In der Stadt werden die Menschen jetzt auf die glutheißen Straßen hinausgehen und in der tropischen Schwüle tapfer mit der U-Bahn fahren. Sie werden blicklos, achtlos aneinander vorbeieilen und abrupt von ihrem Kurs abgebracht werden, wenn sie mit jemand anders zusammenstoßen. Davon sind Simon und Jay auf diesem menschenleeren Stück Straße weit entfernt. Das braune Gras raschelt, beugt sich der Gewalt des Windes und in der Ferne singt ein Vogel – oder ist es der Wind? – ein trauriges Lied.
Simon geht zu Jay, die auf der Beifahrerseite steht, und zusammen schauen sie auf den Reifen hinunter oder das, was davon übrig ist, und schlaff und verdreht um die Radkappe hängt.
»Kannst du damit fahren?«
Simon geht in die Hocke und berührt das rasch abkühlende Gummi, als könnte er es so wiederbeleben. »Ich denke, wir können langsam weiterrumpeln.«
Jay kniet sich neben ihn, greift aber nicht nach dem Rad, sondern nach der ockerfarbenen Erde. Als Simon sieht, wie sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerreibt, steigt eine Erinnerung in ihm auf.
»Muss das sein?« Er steht auf und lehnt sich an die Motorhaube, rollt die Schultern und verdreht den Nacken. Sie sitzen seit fünf Stunden im Wagen, haben vier Häuser gesehen und sind meilenweit davon entfernt, das richtige zu finden.
Jay erwidert nichts. Zieht sich wieder in sich selbst zurück, denkt Simon, als sie an dem Klumpen schnuppert, den sie aus der Erde geklaubt hat. Noch etwas, das sie von ihm trennt.
»Nun komm schon«, ruft er sie mit einer Schärfe, die er sich selbst nicht erklären kann. Eine Bö fegt über die einsame Straße, und wenn er könnte, würde er seine Worte zurückholen. Doch der Wind trägt sie fort, und Jay steht auf, lässt den Klumpen fallen und steigt wortlos ins Auto. Simon bleibt auf der Straße stehen und wünscht sich verzweifelt, er hätte das Aufflackern dieser alten Angewohnheit nicht im Keim erstickt.
Wacklig holpern sie weiter, das Rad wimmert wie ein verletzter Hund, als hätte der Wagen Schmerzen. Die Seiten des Tals ragen steil empor, graugrün und Unheil verkündend. Hier gibt es nicht viele Bäume, nur kahles Land durchkreuzt von Steinmauern mit verfallenen Scheunen dazwischen. Die Stille draußen kriecht in den Wagen. Das Radio hat schon vor langer Zeit aufgehört zu plappern, und Jay und Simon blicken verhalten und schweigsam über die öde Landschaft.
Am Ende war die Wahl des Ortes Zufall gewesen. Simons Karten hatten sich in der ganzen Küche ausgebreitet, jede Oberfläche bedeckt, und schließlich hatten sie einfach blind Finger auf das zerknitterte Papier gedrückt. Sie wollten nicht nach Kent, das hatten sie beschlossen. Nicht in die Cotswolds (zu konservativ). Auch nicht in den Peak District (zu touristisch). Und Wales war, in Simons Worten, zu … walisisch. Letztendlich hatte Jay nach der Gegend mit den wenigsten Verkehrsadern gesucht, den wenigsten Straßen und Schienen. Luftblasen im Ton führen zu Explosionen im Brennofen, und da der Sommer im Bett ein freiwilliger Entzug von Sauerstoff gewesen war, eine Komprimierung nicht unähnlich der Art und Weise, wie sie Ton bearbeitete, um die Lufteinschlüsse herauszudrücken, wollte sie auch so weitermachen. Sie betrachtete die bunte Karte wie einen Körper, sie wollte kein Netz aus Straßen, Adern, Leben.
Die ersten Häuser, die sie besichtigt hatten, hatten ihr nicht gefallen. Ein niedliches Cottage mit allzu putzigen Blumenkästen. Ein Bungalow aus den Sechzigern mit Fenstern wie Schießscharten und metallisch glänzenden Bodenfliesen. Das dritte hatte Simon angesprochen, ein altes Pfarrhaus, das einen postkartentauglichen Dorfanger überblickte, doch Jay hatte mit versteinertem Gesicht den Kopf geschüttelt. Denn schon hatten alte Damen neugierig durch Spitzengardinen gelugt und Simon auf dem Gartenweg abgepasst, um sich katzenfreundlich mit ihm zu unterhalten.
»Ich möchte in Ruhe gelassen werden«, sagte Jay zu ihm.
»Haben Sie noch etwas?«, fragte Simon den Immobilienmakler mit heruntergezogenen Mundwinkeln.
»Hier unten nicht, tut mir leid.«
Simon drehte sich gerade wieder zu Jay um, bereit, sich geschlagen zu geben, als der Mann sagte: »Moment, warten Sie mal. Es gibt noch ein Objekt. Viel weiter oben im Tal. Eher eine Ruine, um ehrlich zu sein. Der Gemeinderat hat sich endlich dazu durchgerungen, es zu verkaufen. Lassen Sie mich Herbert anrufen, um herauszufinden, ob er es Ihnen zeigen kann. Aber Sie müssten allein dort hinfahren. Das liegt außerhalb meines Bereichs. Und außerdem an einer Sackgasse – auf der Bergkuppe hört der Weg einfach auf.«
Also kriechen sie nun mit ihrem kaputten Rad langsam die eine Straße am Grunde des verlassenen Tals, dieses ausweglosen nordenglischen Dales’ hinauf. »Nel-der-dale«, verkündet Simon gedehnt, ein Auge auf der Straße, das andere auf der Karte. Sie fahren durch eine schäbige Stadt, grau und heruntergekommen, die Hälfte der Geschäfte aufgegeben, die verwitterten Fassaden verrammelt, als drohe ihnen eine unbekannte Gefahr.
»Bist du sicher, dass du dir hier oben etwas ansehen willst?«, fragt Simon.
Jay antwortet nicht, gespannt vorgebeugt nimmt sie die eigenartige Welt in sich auf und betrachtet staunend die breiten baumlosen Hänge, die sich weit über sie erheben und mit ihren runden Rücken so wirken, als wollten sie ihnen die kalte Schulter zeigen. Als wollte das Land seine Ruhe haben – so wie sie. Von unten sehen die Hügel samten aus, riesig und unbewohnt. Sie fahren weiter über die Straße, die in Serpentinen nach oben führt, und der Druck in ihren Ohren entweicht mit einem Plopp, als sie an einem verlassenen Haus – die Fenster zugenagelt, das Dach eingestürzt – nach dem anderen vorbeirattern. Am Rande der Straße kommt ein altes Telefonhäuschen in Sicht, die einst roten Wände nun rosa und rostig.
»Kannst du mal anhalten?«
Überrascht sieht Simon sie an, die Augen hinter den Brillengläsern weit aufgerissen. »Anhalten?«
»Ja, halt an, sofort.«
Er gehorcht, und Jay klettert aus dem Wagen und geht zurück zu dem Häuschen, einem ungewohnten Relikt aus vergangenen Tagen. Der Wind ist heftig, schneidend kalt, aber sie weiß nicht, ob sie deshalb eine Gänsehaut bekommt, oder weil sie so aufgeregt ist, als sie die alte Glastür aufzieht. Drinnen ist es ruhig und muffig. Ein winziger Raum aus einer anderen Zeit, geschützt vor Wind und Wetter, mit einem Drehscheibentelefon und zurückhaltend formulierten Werbezetteln, inzwischen verblichen und altersfleckig – Little’s Schafbad – das beliebteste im Umkreis. Hustensanft von Arkwright – das Beste für Mensch und Tier. Die Kabel sind seit Langem gekappt, doch Jay späht einen Moment durch das schmierige Glas auf die leere Landschaft, nicht ein Haus in Sicht, und fragt sich, wer hier wohl telefoniert hat. Wie traurig es geklungen haben muss, falls irgendjemand jemals versucht hat, hier anzurufen, und das Klingeln immer wieder im verlassenen Tal widergehallt hat.
»Jay …« Simon zieht die Tür auf und lässt einen Schwall kühler Luft herein.
Jay legt die Finger auf den kalten Apparat. »Ist das nicht unglaublich?«
Simon nickt und zieht den Kragen seines Pullovers um den Hals. »Erstaunlich. Aber wir sollten gehen, dieser Mann wartet auf uns.«
Umtost vom Wind taumeln sie wie Betrunkene zum Auto zurück, die Kraft der Böen treibt sie im Zickzack über die Straße und Jays Haar verheddert sich vor ihren Augen zu wirren Knäueln.
»Simon?«
Doch dieser unaufhörliche Wind reißt ihr die Worte vom Mund und trägt sie fort, ehe sie Simon erreichen.
»Simon!«
Halb schon im Auto, streckt er den Kopf drollig über das Autodach.
»Ja?«
»Warum heißt es ›Die Zwei Häuser‹?«
Simon überlegt. Der Wind legt sich und hinterlässt eine überraschende Stille. »Ich weiß nicht, Schatz. Ich glaube, der Makler hat etwas davon gesagt, dass da ein bisschen fehlt.«
»Also wie bei mir.« Jay lächelt steif und sinkt in ihren Sitz.
Simon runzelt die Stirn und konzentriert sich auf die Straße. Jays Worte hängen zwischen ihnen und klingen so lange im kühlen Innenraum nach, bis sie fast verhallt sind. Es gibt keine leichte Antwort, keine lässige Reaktion darauf. Am einfachsten ist es, solche Aussagen zu ignorieren;...