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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Corbett Rilke und Rodin

Die Geschichte einer Freundschaft
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1395-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Geschichte einer Freundschaft

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1395-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine inspirierende Freundschaft in Zeiten des Umbruchs.

Rachel Corbett erzählt mitreißend und berührend erstmals die Geschichte einer großen Künstlerfreundschaft, die 1902 in Paris beginnt. Der Bildhauer Rodin wird zur Vaterfigur für den jungen Rilke, es folgen ein dramatisches Zerwürfnis und eine bewegende Versöhnung. In dieser wechselhaften Beziehung zweier herausragender Künstlerpersönlichkeiten spiegelt sich die aufstrebende künstlerische Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1902 bekommt der mittellose und unter einer Schreibblockade leidende Rainer Maria Rilke das Angebot, nach Paris zu gehen, um dort ein Buch über Auguste Rodin zu schreiben. Rilke nutzt die Gelegenheit, ist er doch auf der Suche nach einem künstlerischen Vorbild. So beginnt die ungleiche Freundschaft zwischen dem sechzigjährigen Bildhauer und dem jungen Dichter, die zugleich der Entwurf eines extraordinären Künstlerlebens ist, denn Rodin hat großen Einfluss auf Rilke und dessen Schaffensprozess, der sich ganz neu entfaltet. Rachel Corbett gelingt es, vor dem Hintergrund der aufstrebenden künstlerischen Moderne ein vielschichtiges und faszinierendes Panorama der damaligen Zeit zu entwerfen, für die die Freundschaft zwischen Rodin und Rilke exemplarisch steht.

 'Eine einfühlsame, originelle und gründlich recherchierte Biographie über die Freundschaft zwischen zwei der größten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts.' The New Yorker.



Rachel Corbett ist Redakteurin des Modern Painters Magazine. Sie schreibt für The New Yorker, New York Times, the BBC, New York Magazine. Sie lebt in Brooklyn.

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Eins


Jeder Künstler muss sehen lernen. Doch für Auguste Rodin war dieses Erfordernis buchstäblich zu verstehen. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er sich fünf Jahre lang durch die Internatsschule, bevor er erkannte, dass die verschwommenen Bilder an der Tafel auf seine Kurzsichtigkeit zurückzuführen waren. Statt vor sich hin zu starren, ohne etwas zu sehen, schaute er oft aus dem Fenster, wo sich ihm ein überwältigender Anblick bot: die große Kathedrale Saint-Pierre von Beauvais, einem uralten Städtchen in Nordfrankreich.

Einem Kind musste sie als Monster erscheinen. Das Meisterwerk der Gotik, mit dessen Bau man im Jahre 1225 begonnen hatte, war als die höchste Kathedrale Europas geplant, deren pyramidenförmige Turmspitze einmal die Höhe von 150 Metern erreichen sollte. Aber nach zwei Einstürzen in drei Jahrhunderten gaben die Architekten 1573 schließlich auf. Was sie zurückließen, war immer noch Respekt einflößend genug: ein Kartenhaus aus Stein, Glas und Eisen.

Viele Dorfbewohner gingen achtlos vorüber, ohne die Kathedrale eines Blickes zu würdigen. Wenn überhaupt, dann nahmen sie wohl unbewusst deren enorme Ausmaße wahr. Dem jungen Rodin war sie jedoch ein Fluchtort vor dem unergründlichen Schulstoff und zugleich eine Vision, die immer wieder seine Neugier weckte. Ihre religiöse Funktion interessierte ihn nicht, vielmehr waren es die Geschichten, von denen ihre Mauern kündeten, die rätselhafte Dunkelheit in ihrem Inneren, die Linien, Bogen, Licht- und Schattenspiele, so harmonisch ausgewogen wie der Körperbau des Menschen. Ihr Rückgrat bildete das langgezogene Mittelschiff, das eine gerippte Decke abschloss, Strebebogen öffneten sich wie Flügel oder Arme, und in der Mitte hatte sie eine Kammer als Herz. Wenn die vom Ärmelkanal heranbrausenden Stürme an ihren Stabilisierungspfeilern rüttelten, dann erinnerte das Rodin daran, wie auch der menschliche Körper permanent das Gleichgewicht zu halten sucht.

Zwar lag es weit jenseits der Fähigkeiten des Jungen, die architektonische Logik des Gebäudes zu durchschauen, aber als er 1853 von der Internatsschule abging, begriff er, dass er seine eigentliche Bildung von der Kathedrale erhalten hatte. Wieder und wieder besuchte er sie in späteren Jahren, studierte »mit erhobenem, nach hinten geneigten Kopf«2 ihr Äußeres und stellte sich die Geheimnisse vor, die sie in ihrem Inneren barg. Er gesellte sich den Gläubigen im Gebet zu, aber nicht, weil dies ein Gotteshaus war. Die Form selbst, so meinte er, ließ die Menschen auf die Knie sinken und beten.

François Auguste René Rodin wurde am 12.November 1840 in Paris geboren. Es war eine bedeutsame Zeit für die Zukunft der französischen Kunst, denn auch Émile Zola, Odilon Redon und Claude Monet erblickten in diesem Jahr das Licht der Welt. Doch diese Keime der Belle Époque sprossen aus einem sehr trockenen, konservativen Boden. Von der Großen Französischen Revolution und der industriellen Revolution erschüttert, war Paris in der Herrschaftszeit von König Louis-Philippe die Stadt der Sittenlosigkeit und Armut, wie sie in Werken wie Die Blumen des Bösen und Die Elenden beschrieben worden ist. Neue Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie lockten Tausende Migranten an, aber der Stadt fehlte es an der notwendigen Infrastruktur. Die Neuankömmlinge drängten sich in den Unterkünften, wo sie Betten, Essen und Keime miteinander teilten. Die überlaufende Kanalisation bot Mikroben einen üppigen Nährboden, und in den engen mittelalterlichen Gassen wüteten Krankheiten. Als Cholera und Syphilis sich ausbreiteten, ließ eine Weizenknappheit die Brotpreise in die Höhe schießen, wodurch die Kluft zwischen den Armen und der Großbourgeoisie historische Ausmaße annahm.

Da die Stadt sich mühte, all die Bettler, Prostituierten und ungewollten Kinder zu registrieren, gab es für Rodins Vater als Polizeibeamter Arbeit im Überfluss. Wie der umstrittene Inspektor Javert in Die Elenden zog Jean-Baptiste Rodin auf Streife durch die Straßen, in denen er nach Zuhältern und Kurtisanen Ausschau hielt. Das tat er während des Pariser Juniaufstandes von 1832 und auch während der Revolution von 1848, die den König endgültig stürzte. Der Posten passte zu diesem Mann von untadeliger Prinzipien- und Obrigkeitstreue, der nach und nach in der Polizeitruppe aufstieg.

Als in jenem Jahr auf der Rue Saint-Jacques Barrikaden errichtet wurden, schickten Jean-Baptiste und seine Frau Marie, eine Schneiderin, ihren achtjährigen Sohn Auguste auf die Internatsschule nach Beauvais. Dort schien ihnen der zarte Rotschopf sicher zu sein vor den blutigen Unruhen in Paris, wo Baudelaire, ein Gewehr schwingend, durch die Straßen lief und Balzac beinahe verhungert wäre.

Als Schüler war Auguste keine Leuchte. Er musste Klassen wiederholen und erhielt schlechte Zensuren, besonders in Mathematik. Zwar war Beauvais eine Einrichtung, die gut zu dem gestiegenen Rang des Vaters passte, aber die Kosten wurden für die Familie zu einer Belastung. Nach fünf Jahren entschied Jean-Baptiste, kein weiteres Geld in eine Bildung zu stecken, die nicht auf geradem Weg zu einer Karriere führte. Mit vierzehn Jahren nahm der Vater Auguste von der Schule. Der Junge arbeitete gern mit den Händen, vielleicht war die Ausbildung in einem praktischen Beruf passender für ihn.

Als Auguste nach Paris zurückkehrte, erkannte er seine Heimatstadt kaum wieder. Im Jahr zuvor hatte Frankreichs neues Staatsoberhaupt, Napoleon III., Baron Georges-Eugène Haussmann den Auftrag erteilt, die Stadt zu modernisieren oder in einzelne Stücke zu zerhacken, wie manche es wahrnahmen. Der von der Symmetrie besessene Haussmann legte ein riesiges Netz über die Stadtlandschaft und teilte sie nach den Klassen der Bevölkerung in verschiedene Arrondissements ein. Er ließ Hügel abtragen, um einen ebenen Horizont zu erhalten, der Ordnung ausstrahlte. Die alten, krummen Gassen begradigte und verbreiterte er zu gepflasterten Boulevards, die vor Rebellen und ihren Barrikaden sicher waren und stattdessen flanierende Käufer anlockten. Die ganze Stadt wurde einer gründlichen Reinigung unterzogen. Ingenieure entwarfen ein neues Kanalisationssystem, das so fortschrittlich war, dass es zu einer Touristenattraktion wurde. Die Stadt stellte Tausende Gaslaternen auf, um die Straßen nachts zu beleuchten und so Verbrecher abzuschrecken.

Aus dem Schutt Zehntausender abgerissener mittelalterlicher Häuser errichtete man aus Steinblöcken in Einheitsgröße fünfgeschossige Wohnhäuser im neoklassischen Stil, die akkurate, schnurgerade Straßenfronten bildeten. Der Bauboom ließ vielen Parisern ihre Heimatstadt fremd erscheinen, da die traditionellen Häuser durch solche ersetzt wurden, die ihnen völlig orts- und zeitlos vorkamen. In den endlosen Gerüsten an den Straßen sahen viele nicht Zeichen des Fortschritts, sondern das zurückgebliebene Skelett ihrer niedergemetzelten Stadt.

Dem Berufsstand der Bildhauer brachte Haussmanns Bauwut, die jahrzehntelang anhielt, das große Geschäft. Denn all die neuen Fassaden benötigten Gesimse und Schmuckwerk aus Stein. Die wichtigste Ausbildungsstätte für diese aufstrebende Schar von Handwerkern wie auch für künftige Uhrmacher, Holzarbeiter und Kunstschmiede war die École Impériale Spéciale de Dessin et de Mathématiques, die der Volksmund »Petite École« taufte. Die schulgeldfreie sogenannte Kleine Schule war das für die Arbeiterklasse gedachte Gegenstück zur angeseheneren Grande École des Beaux-Arts. Während diese Kunsthochschule Schüler wie Renoir, Seurat und Bouguereau auf ihre Laufbahn in den schönen Künsten vorbereitete, kam es praktisch nicht vor, dass ein Absolvent der niederen Bildungsanstalt später in den Pariser Salons eine eigene Ausstellung erhielt.

Rodin, gerade nach Paris zurückgekehrt und über seine Interessen und Ambitionen völlig im Unklaren, besuchte die Petite École ab 1854. Er hielt sich selbst noch nicht für einen Künstler und teilte ganz sicher nicht die exaltierte Sicht der Professoren der Grande École, die die Kunst mit Religion, Sprache und Jura gleichsetzten. Figuren zu schaffen war für Rodin damals in erster Linie eine Begabung und sollte es sein Leben lang bleiben.

Einige Biographen spekulieren, dass Rodins Sehschwäche seinen hypersensiblen Tastsinn hervorgebracht haben könnte. Vielleicht ist damit zu erklären, weshalb er ständig Klumpen von Ton in den Händen drehte. Auch als er sich schließlich ein Monokel zulegte, benutzte er es nur, wenn er winzigste Details betrachten wollte. Bei der Arbeit drückte er sich fast am Ton (oder, wie eine seiner Geliebten ironisch bemerkte, an den Modellen) die Nase platt.

Wie viele seiner Mitschüler besuchte Rodin diese Schule, um malen zu lernen. Aber da Papier und Stifte billiger waren als Leinwand und Farben, nahm er am Zeichenunterricht teil. Diese Notlage erwies sich für ihn jedoch als Glücksfall, denn so gelangte Rodin in die fähigen Hände von Horace Lecoq de Boisbaudran, dem Professor, der ihm die Augen zunächst korrigierte und dann weit öffnete.

Jeden Morgen packte Rodin nun seine Zeichenutensilien zusammen, band sich einen Schal um den dürren Hals und machte sich auf den Weg zu seiner Acht-Uhr-Zeichenstunde. Lecoq, ein untersetzter Mann mit weichen Gesichtszügen, pflegte jede Unterrichtsstunde mit einer Kopierübung zu beginnen. Er glaubte daran, dass das Geheimnis aller großen Künstler eine scharfe Beobachtungsgabe war. Um sich diese anzueignen, musste man zum Wesen eines Gegenstandes vordringen, indem man ihn in seine Teile zerlegte – eine Gerade von A nach B zog, Diagonalen, Bögen...



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