Cordsen | Die Weltverbesserer | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Cordsen Die Weltverbesserer

Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-3016-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3016-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Frisst der Aktivismus seine eigenen Kinder?

Knut Cordsen setzt den Aktivismus der Gegenwart - von 'Fridays for Future' bis zu Greenpeace im Außenministerium - in einen historischen Kontext. Sein Buch ist reich an Lehren, die Aktivist:innen aus ihrer gut 100-jährigen Geschichte ziehen sollten.

Florian Illies.



Knut Cordsen, geboren 1972 in Kiel, besuchte in München die Deutsche Journalistenschule und studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität Kommunikationswissenschaften, Politologie und Soziologie. Seit 1997 arbeitet er in der Kulturredaktion des BR und für andere ARD-Anstalten - als Literaturkritiker und Moderator der Sendungen 'kulturWelt' und 'Diwan. Das Büchermagazin' (Bayern2).
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Willkommen in einer Weltära


Gerade eben noch waren es doch nur einige wenige. Als Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensaktivisten traten sie vereinzelt in Erscheinung. Ihre Ziele waren hehr und aller Ehren wert, ob sie Bootsflüchtlinge retteten, für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für zu Unrecht Inhaftierte, das Existenzrecht indigener Völker oder Abrüstung stritten. Sie hießen Rupert Neudeck, Petra Kelly und Rüdiger Nehberg, sie blicken so wie Alice Schwarzer, Amnesty International oder Greenpeace auf eine stolze und grosso modo erfolgreiche Geschichte zurück. In den 70er-, 80er-, 90er-, selbst in den sogenannten Nullerjahren noch war ihre Anzahl übersichtlich und ihre Mittel waren begrenzt. Das Verb »aktivieren« hörte man damals höchstens in der Serie »Raumschiff Enterprise«, wenn von der Kommandobrücke der Befehl an den Bordcomputer ausgegeben wurde, die Schutzschilde zu aktivieren. Heute aktivieren wir nicht allein jeden Tag den Virenschutz, Benutzerkonten oder Cookies. Wir kommen denen, die uns in welcher Angelegenheit auch immer aktivieren wollen, nicht mehr aus. Aktivisten demonstrieren, mobilisieren, emotionalisieren auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen. Es gehört zudem mittlerweile zum guten Ton, sein gutes Tun öffentlich auszuweisen und sich entsprechend als Aktivistin oder Aktivist vorzustellen. Jeder Schauspieler, der etwas auf sich hält, inszeniert sich neuerdings ganz natürlich als Aktivist. Musiker bemühen sich auf einmal um eine aktivistische Note, Comedians ebenso. War früher »Intellektueller« ein begehrtes Adelsprädikat, wird nun auch in Autorenkreisen die Nomenklatur »Aktivist« bevorzugt. Man engagiert sich nicht nur, man ist kampagnenfähig. Man beherrscht den öffentlichen Diskurs. Der Aktivismus ist ein flächendeckendes Phänomen geworden. Auf der Straße, vor allem aber im Netz. Nicht umsonst heißt eine wichtige Internetplattform »WeAct«. Hier werden Forderungen erhoben und im Dreischritt umgesetzt: »Petition starten – Unterschriften sammeln – Politik verändern«.

Von Jean-Paul Sartre stammt der Satz, die Jugend sei das Alter des Ressentiments. Sie ist auch das Alter der Revolte. Selten ist uns das eindrucksvoller vor Augen geführt worden als bei Greta Thunbergs »How dare you?«-Rede auf dem Klimagipfel der Vereinten Nationen 2019, gerichtet an die dort in New York versammelten Staatsoberhäupter. Selten auch hat eine unlängst erst volljährig gewordene Aktivistin ein derart erlöserinnenhafter Nimbus umgeben wie die junge Schwedin, die es binnen kürzester Zeit im Verbund mit anderen vermocht hat, mit »Fridays for Future« eine weltweite Bewegung zu etablieren. Den omnipräsenten Klimaaktivisten und ihrem existenziellen Anliegen gesellen sich jede Menge anderer Aktivisten zur Seite: seien es Kunst-Aktivisten – sogenannte »Artivisten« – wie das »Zentrum für Politische Schönheit«, Bildungsaktivisten, spirituelle Aktivisten, die einen »sacred activism« verfolgen, oder auch – der Spaß soll bei alledem nicht zu kurz kommen – »Vergnügungsaktivisten«. Denn auch diese Spielart gibt es, den »pleasure activism«. Diversität hat sich der Aktivismus auf die Fahnen geschrieben, und er lebt sie auch. Tierschutz, Datenschutz und auch Heimatschutz haben jeweils eigene Aktivisten. »Strickguerilla«-Aktivisten »umgarnen« Laternenpfähle, Schilder und Poller im öffentlichen Raum als Zeichen des Protests. Was sich früher noch Sozialarbeiterin nannte, firmiert nun unter »Armutsaktivistin«. Sogar von einer »Möbelaktivistin« war schon zu lesen, die als Handwerkerin ausgedienten Hausrat aufarbeitet und umgestaltet. Um Umgestaltung geht es allen. Queere und postkoloniale Aktivisten treten für geschlechtliche Vielfalt und ein zeitgemäßes, nicht länger herrenmenschelndes Geschichtsbild ein, stürzen alte Denkmäler vom Sockel und errichten ihren Vorreitern neue Standbilder. Kippten 2020 »Black Lives Matter«-Aktivisten unter Applaus die 125 Jahre alte Statue des Sklavenhändlers und Kaufmanns Edward Colston ins Bristoler Hafenbecken, so wurde 2021 im New Yorker Greenwich Village eine Bronzebüste der schwarzen Dragqueen und Transgender-Aktivistin Marsha P. Johnson feierlich eingeweiht – im Christopher Park, nur einen Steinwurf entfernt vom »Stonewall Inn«, jener Nachtbar, in der 1969 die LGBTQ-Bewegung ihren Ausgang nahm. Der Siegeszug des Aktivismus ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass er vom Kapitalismus vereinnahmt wird. Anfang 2022 kam eine neue Barbie-Puppe auf den Markt: Ida B. Wells, die afroamerikanische Journalistin, Anti-Rassismus-Aktivistin und Mitbegründerin der Bürgerrechtsorganisation »National Association for the Advancement of Colored People«, wurde damit in die Reihe »inspirierender Frauen« aufgenommen, die der Spielzeughersteller Mattel neuerdings mit einer eigenen Barbie würdigt.

Keine Nachrichtensendung kommt heute mehr ohne sie oder ihn aus, keine Talkshow und kein ach so soziales Medium. Im Sommer 2021 hat sich in Hamburg gar eine »Aktivistinnen-Agentur« gegründet, betrieben, natürlich, von einer Vollblut-Aktivistin. Sie bietet Trainings an. Denn auch der Aktivist will gecoacht sein. Wenn es noch eines Beweises seiner Wirkmacht bedurft hätte, so lieferte den im Herbst 2021 das amerikanische Fernsehnetzwerk CBS. Dort wollte man ein neues Reality-TV-Format ausstrahlen unter dem Titel »The Activist«. Eine sogenannte »Challenge Show«. Darin sollten verschiedene Aktivistinnen und Aktivisten mit ihren jeweiligen gemeinnützigen Projekten gegeneinander antreten. Die Zuschauer sollten online die Bemühungen der Kandidaten beurteilen, die versuchen, »echte Veränderung in einem von drei lebenswichtigen globalen Bereichen herbeizuführen: Gesundheit, Bildung und Umwelt«. Wie nicht anders zu erwarten war, scheiterte das Projekt – am lautstarken Protest von Aktivisten, unter ihnen Naomi Klein. »Könnten sie das Geld nicht direkt an Aktivisten geben, anstatt Aktivismus in ein Spiel zu verwandeln und einen Bruchteil des benötigten Geldes in einen ›Preis‹ zu investieren? Menschen sterben«, sekundierte die Schauspielerin und feministische Aktivistin Jameela Jamil auf Twitter. Die Produzenten des obskuren televisionären Schaulaufens machten einen Rückzieher, ja mehr als das: sie machten einen Kotau und verbreiteten eine wortreiche Bitte um Entschuldigung. Es sei falsch gewesen, die ehrenwerte Arbeit der »unglaublichen« Aktivistinnen und Aktivisten derart in Konkurrenz zueinander zu setzen, der Aktivismus sei nicht kompetitiv, ihm gehe es um »Kollaboration und Kooperation«. Kurze Zeit später wurden vier verschiedene Aktivisten aus Kamerun, Russland, Kanada und Indien in Stockholm mit dem Alternativen Nobelpreis bedacht.

Die »Aktivisti«, wie sie sich gern selbst bezeichnen, verfügen nicht allein über ein enormes aufmerksamkeitsökonomisches Kapital, sie sind die Bewusstseinsgroßindustriellen unserer Tage. Dem philosophischen Zeitdiagnostiker Peter Sloterdijk mag derlei schon 2001 gedämmert haben. Er ließ damals mit der Bemerkung aufhorchen: »Man könnte sagen, eine Weltära der überwiegenden Seinspassivität geht zu Ende und eine Ära des Aktivismus beginnt …« Diese Ära, die man mit dem in Aktivistenkreisen weitverbreiteten Pathos umstandslos eine »Weltära« taufen kann, währt indessen schon viel länger als gemeinhin angenommen. Über hundert Jahre schon, und es spricht vieles dafür, dass der Aktivismus eine deutsche Wortprägung und Idee ist. »Jede Zeit bringt ihre eigenen Schlagworte hervor«, hebt am 1. März 1918 die Erklärung eines späteren Friedensnobelpreisträgers an: »Seit Jahresfrist oder – ich weiß wirklich nicht wie lange – durchzuckt die deutsche Öffentlichkeit das Schlagwort Aktivismus, begierig aufgegriffen von der literarischen Jugend … Was haben wir in dem Worte zu suchen? Sehnsucht nach Taten, Wille, zu wirken, Tagespolitik mit geistiger Kraft zu durchsetzen, Abkehr von intellektuellem Chinesentume. Das Losungswort einer neuen Jugend also.« So hat das Carl von Ossietzky seinerzeit in den »Monatlichen Mitteilungen des Deutschen Monistenbundes« formuliert. Sein Artikel »Ein Wort über Aktivismus« schloss in dramatischem Tremolo: »Unser Pfad ist vorgezeichnet: er führt entweder in einen Tempelbau, groß genug, ganze Völker zu umfassen – oder in den bescheidenen Raum eines Klubhauses, in dem zweimal monatlich eine kleine Sekte kannegießert.«

Der Aktivismus hat den Weg fern der Stammtische eingeschlagen, auch wenn er seit jeher nicht...



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