Crombie Kein Grund zur Trauer -
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-10853-3
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 4, 257 Seiten
Reihe: Die Kincaid-James-Romane
ISBN: 978-3-641-10853-3
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deborah Crombies höchst erfolgreiche Romane um Superintendent Duncan Kincaid und Inspector Gemma James von Scotland Yard wurden mit dem 'Macavity Award' ausgezeichnet und für den 'Agatha Award' und den 'Edgar Award' nominiert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Norden von Texas, verbringt aber viel Zeit in England, wo ihre Romane angesiedelt sind.
Weitere Infos & Material
1
Der Raum schien zu schrumpfen, während er auf und ab ging. Die Wände rückten zusammen, die Winkel des Zimmers verzerrt durch die langen Schatten, die die Lampe auf seinem Schreibtisch warf. Im Yard war es abends immer ein wenig unheimlich, als besäße die Leere der Räume eine eigene Kraft. Er blieb vor dem Bücher regal stehen und strich mit dem Finger über die Rücken der abgegriffenen Bände auf dem obersten Bord. Archäologie, Kunst . . . Kanäle . . . kriminologische Nachschlagewerke . . . Viele von ihnen waren Geschenke seiner Mutter, die sich ständig bemühte, seinen, wie sie meinte, Mangel an Allgemeinbildung zu beheben. Er hatte zwar versucht, sie nach Sachgebieten zu ordnen, aber irgendwie gerieten immer ein paar Ausreißer in die falsche Abteilung. Kincaid schüttelte den Kopf – er wäre froh, könnte er sein Leben nur halb so gut ordnen wie seine Bücher.
Seit seiner Ankunft vor knapp einer Viertelstunde sah er jede Minute auf die Uhr. Jetzt setzte er sich an seinen Schreibtisch, um sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen. Der Anruf, der ihn hierher geordert hatte, war dringend gewesen – ein hochrangiger Polizeibeamter war ermordet aufgefunden worden –, und wenn Gemma nicht bald kam, würde er ohne sie zum Tatort fahren müssen. Sie war nicht zur Arbeit gekommen, seit sie am Freitag abend seine Wohnung verlassen hatte. Zwar hatte sie im Yard angerufen und den Chief Superintendent um Urlaub gebeten, doch die Anrufe Kincaids, der während dieser fünf Tage immer verzweifelter versucht hatte, sie zu erreichen, waren unbeantwortet geblieben. Heute abend hatte Kincaid den diensthabenden Sergeant gebeten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, und sie hatte sich gemeldet.
Aber diese innere Unruhe ließ ihn wieder aufstehen, und er wollte gerade sein Jackett vom Garderobenständer nehmen, als er hörte, wie hinter ihm leise die Tür geschlossen wurde. Er drehte sich um. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und beobachtete ihn. Ein törichtes Lächeln flog über sein Gesicht.
»Gemma!«
»Hallo, Chef.«
»Ich habe immer wieder versucht, dich zu erreichen. Ich dachte schon, es wäre was passiert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war ein paar Tage bei meiner Schwester. Ich hab’ einfach Zeit gebraucht . . .«
»Wir müssen miteinander reden.« Er trat einen Schritt näher und blieb stehen. Sie sah erschöpft aus. Ihr blasses Gesicht wirkte beinahe durchsichtig im Kontrast zu dem kupferroten Haar, und die Haut unter den Augen hatte bläuliche Schatten. »Gemma . . .«
»Es gibt nichts zu sagen.« Ihre Schultern erschlafften, und sie lehnte sich an die Tür, als brauchte sie Halt. »Es war alles ein Riesenfehler.«
Er starrte sie fassungslos an, das eben gehörte raubte ihm einen Moment die Sprache. »Ein Fehler?« wiederholte er schließlich und wischte sich mit der Hand über den Mund, der plötzlich ganz trocken war. »Gemma, ich versteh’ nicht.«
»Es ist nie geschehen.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu, mit flehentlicher Gebärde, und blieb plötzlich stehen, als hätte sie Angst vor seiner Nähe.
»Doch, es ist geschehen. Daran kannst du nichts ändern, und ich will es auch nicht ändern.« Er ging zu ihr. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und versuchte, sie an sich zu ziehen. »Gemma, bitte, hör mir zu!« Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihren Kopf an seine Schulter legen und sich von ihm halten lassen. Dann spürte er, wie ihre Schultern sich unter seinen Händen spannten, und sie von ihm wegtrat.
»Schau uns doch an! Schau dir an, wo wir sind!« sagte sie und schlug mit der Faust gegen die Tür. »Es geht nicht. Ich habe mich schon in eine unmögliche Lage gebracht.« Sie holte tief Atem und sagte, jedes Wort einzeln betonend: »Ich kann es mir nicht leisten. Ich muß an meine Karriere denken – und an Toby.«
Das Telefon läutete. Die zwei kurzen, rasch aufeinanderfolgenden Summtöne klangen laut in dem kleinen Zimmer. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und griff nach dem Hörer. »Kincaid«, sagte er kurz und lauschte einen Moment schweigend. »In Ordnung, danke.« Als er auflegte, sah er Gemma an. »Der Wagen wartet.« Sätze, von denen ihm einer nutzloser klang als der andere, bildeten sich in seinem Kopf und zerfielen wieder. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber zu sprechen – nicht hier, nicht jetzt –, er würde sie beide nur in Verlegenheit bringen.
Er wandte sich ab. Er schlüpfte in sein Jackett und nutzte den Moment, um seine Enttäuschung hinunterzuschlucken und seinem Gesicht einen neutralen Ausdruck zu geben. Dann drehte er sich nach ihr um. »Fertig, Sergeant?«
Vom Big Ben schlug es zehn, als der Wagen in südlicher Richtung über die Westminster Brücke brauste. Kincaid, der hinten neben Gemma saß, betrachtete den Widerschein der Lichter auf der Themse. Sie sprachen nichts, während der Wagen sich durch die Straßen des Londoner Südens schlängelte, in Richtung Surrey. Selbst der Fahrer, ein im allgemeinen redseliger Constable namens Williams, schien von ihrer Stimmung angesteckt und saß in schweigender Konzentration hinter dem Lenkrad.
Sie hatten Clapham hinter sich gelassen, als Gemma das Schweigen brach. »Wie wär’s, wenn Sie mir kurz sagen, worum es geht, Chef.«
Kincaid sah das Aufblitzen in Williams’ Augen, als dieser im Rückspiegel überrascht nach hinten blickte. Gemma hätte natürlich informiert sein müssen. Er gab sich einen Ruck und antwortete ihr so sachlich wie möglich. Klatsch unter den Mitarbeitern würde ihnen beiden nicht guttun.
»Es ist ein kleines Dorf in der Nähe von Guildford. Wie heißt es gleich wieder, Williams?«
»Holmbury St. Mary, Sir.«
»Richtig. Alastair Gilbert, der Division Commander der Dienststelle Notting Dale, wurde mit eingeschlagenem Schädel in seiner Küche gefunden.«
Er hörte, wie Gemma nach Luft schnappte, dann sagte sie mit dem ersten Funken von Interesse, den er an diesem Abend bei ihr wahrnahm: »Commander Gilbert? Du meine Güte. Gibt es schon Hinweise?«
»Nicht, daß ich wüßte, aber es ist ja noch früh«, antwortete Kincaid, sich ihr zuwendend.
Sie schüttelte den Kopf. »Na, das wird einigen Wirbel geben. Und ausgerechnet uns Glückspilzen mußte die Sache in den Schoß fallen!« Als Kincaid mit einem kurzen trockenen Lachen antwortete, sah sie ihn an und sagte: »Sie müssen ihn gekannt haben.«
Achselzuckend erwiderte er: »Wer hat ihn nicht gekannt.« Er wollte vor Williams nicht mehr sagen.
Gemma lehnte sich wieder in ihren Sitz zurück. Nach einer kleinen Pause bemerkte sie: »Die Kollegen vor Ort sind natürlich längst da. Hoffentlich haben sie den Leichnam in Ruhe gelassen.«
Kincaid lächelte im Dunkeln vor sich hin. Gemmas besitzergreifendes Zupacken, wenn es um die armen Opfer eines Mordes ging, amüsierte ihn immer wieder. Es war, als wollte sie sagen, he, die Leiche gehört mir, laßt ja die Finger davon. Er war erleichtert, daß sich an diesem Muster nichts geändert hatte; das bedeutete, daß sie schon in den neuen Fall eingestiegen war, und ließ hoffen, daß wenigstens ihre Arbeitsbeziehung nicht gefährdet war.
»Sie haben versprochen, alles so zu lassen, wie sie es vorgefunden haben, damit wir uns selbst ein Bild machen können.«
Gemma nickte befriedigt. »Gut. Wissen wir, wer ihn gefunden hat?«
»Die Frau und die Tochter.«
»Ach Gott.« Sie krauste die Nase. »Wie scheußlich.«
»Na, wenigstens wird schon eine Kollegin da sein, die ihnen das Händchen hält«, meinte Kincaid. »Da brauchen Sie nicht ran.« Es war ein halbherziger Versuch, sie ein wenig zu necken. Gemma beschwerte sich häufig darüber, daß einem als Frau bei der Polizei nicht mehr zugetraut werde, als den Familien der Opfer schlechte Nachrichten zu überbringen und seelischen Beistand zu leisten.
»Das will ich hoffen«, antwortete sie und wandte sich ab, um zum Fenster hinauszusehen: Doch er glaubte, ein Lächeln auf ihrem Gesicht bemerkt zu haben.
Eine halbe Stunde später bogen sie in Abinger Hammer von der Landstraße ab und folgten einer schmalen, zwischen Hecken eingebetteten Straße durch zahllose Kurven in das verschlafene Dorf Holmbury St. Mary. Williams hielt am Straßenrand, schaltete die Innenbeleuchtung ein und warf einen Blick auf einen zerknitterten Zettel mit Anweisungen. »Da, wo die Straße einen Knick nach links macht, fahren wir geradeaus weiter, rechts am Pub vorbei«, murmelte er und legte den Gang wieder ein.
»Dort«, sagte Kincaid, der mit dem Ärmel die beschlagene Scheibe abwischte. »Das muß es sein.«
Gemma, die auf ihrer Seite zum Fenster hinausblickte, sagte: »Schauen Sie mal! So ein Schild habe ich noch nie gesehen.« Er hörte das Vergnügen in ihrer Stimme.
Kincaid spähte an ihr vorbei und sah gerade noch das leicht im Wind schwankende Schild des Gasthauses, das ein liebendes Paar vor einem lächelnden Mond zeigte. Dann spürte er Gemmas Atem an seiner Wange, nahm den feinen Pfirsichduft wahr, der sie immer zu umgeben schien, und lehnte sich hastig wieder zurück.
Hinter dem Pub wurde die Straße nach schmäler. Blaue Blinklichter der Polizeifahrzeuge erhellten die Nacht mit gespenstischem Schein. Williams hielt den Wagen mehrere Meter hinter dem letzten Fahrzeug an, dicht an der rechten Hecke, wohl um dem Leichenwagen, wenn er kam, genug Raum zu lassen, vermutete Kincaid. Sie stiegen aus, vertraten sich kurz die Füße und hüllten sich, in der kalten Novemberluft fröstelnd, fest in ihre Mäntel. Dunstschwaden hingen in der beinahe windstillen Luft, und bei jedem ihrer Atemzüge bildeten sich kleine Wölkchen vor ihren Gesichtern.
Ein Constable trat ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Kincaid stellte sich und die anderen vor und...